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5) Deutschland, München, 03. Juli 2007

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„Wie, vermisst?“ Jan fühlte sich wie in einem schlechten Film mit absurder Handlung. Nur hätte er in diesem Fall die Fernbedienung nehmen und auf einen anderen Kanal schalten können, anstatt sich einer Situation stellen zu müssen, die keinerlei Regeln zu folgen schien. „Ich meine, was soll das heißen?“, fügte er nervös stammelnd hinzu. Er fühlte sich, als müsste er sich vor Gericht einer Anklage stellen, deren Wortlaut ihm nicht bekannt war. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Alissa und ich leben schon seit fast einem Jahr getrennt. Seitdem habe ich nichts von ihr gesehen oder gehört.“

Er atmete tief ein, um seiner aufschäumenden Emotionen Herr zu werden. Obwohl viel Zeit verstrichen war, hatte Patterson ihn an einem wunden Punkt getroffen. Seine wenigen Worte hatten ausgereicht, um Jan in ein Gefühlschaos zu stürzen, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Angst, Sorge, Verärgerung, Trauer; ein Potpourri der Emotionen schlug schlagartig wie eine Flutwelle über seinem überforderten Verstand zusammen. „Was erwarten Sie von mir?“, flüsterte er überwältigt, bevor er verstummte. Ein schwaches Lächeln sollte Selbstvertrauen ausstrahlen, verkümmerte jedoch in einer verzerrten Maske.

In Pattersons durchdringendem Blick blitzte kaum verhohlene Missbilligung auf, als würde er in Jan lesen können wie in einem seichten Liebesroman; ein Blick, der Jans mühselig errichtete Fassade durchdrang und direkt bis zum Grunde seiner verletzten Seele vorstieß.

„Nun, die Frage ist sicherlich berechtigt. Uns ist natürlich bekannt, dass Sie und Dr. Bracke schon lange nicht mehr partnerschaftlich liiert sind.“

„Allerdings waren Sie mit Dr. Bracke mehr als neun Jahre zusammen, wenn unsere Informationen richtig sind“, mischte sich überraschend Bauer in das Gespräch ein. „Darum liegt die Vermutung nahe, dass Sie zumindest ansatzweise in Dr. Brackes Forschungsgebiet bewandert sind.“

„Moment, Moment!“ Jan hob abwehrend die Hände. Das Gefühl, von seinen Gastgebern wie von einem Schwerlasttransport überrollt zu werden, wurde beinahe unerträglich. Jan behagte es nicht, derart in die Enge getrieben zu werden, insbesondere, wenn er noch nicht einmal genau wusste, worum es eigentlich ging. Von den anfänglich widersprüchlichen Gefühlen, die in seinem Innersten um Vorherrschaft kämpften, schlug sich eine Emotion zur Oberfläche durch: Verärgerung. Verärgerung darüber, dieser Einladung gefolgt zu sein. Verärgerung über die Art und Weise, wie die beiden Herren ihn vorführten, ohne ihm auch nur den Ansatz einer Erklärung zu liefern. Verärgerung darüber, vor Fremden seine rückblickend mehr als schmerzhafte Beziehung zu Alissa offenlegen zu müssen.

„Ich frage Sie noch einmal: Was erwarten Sie von mir? Sie rufen mich frühmorgens an, zerren mich hierher, ohne mir irgendwelche Informationen über den Grund Ihrer Einladung zu geben, und besitzen anschließend noch die Unverfrorenheit, mit mir über mein Privatleben diskutieren zu wollen!? Es tut mir leid, meine Herren, aber so kommen wir nicht auf einen grünen Zweig. Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie sagen mir, was sie tatsächlich von mir wollen, oder wir gehen getrennte Wege.“

Er machte Anstalten, vom Tisch aufzustehen, aber Patterson gab ihm mit einer kurzen Bewegung seiner Hand zu verstehen, sitzen zu bleiben. Er kniff dabei verärgert die Augen zusammen, als hätte Jan ihn soeben geohrfeigt. „Nun gut“, knurrte er missgünstig. „Ich habe mir bereits gedacht, dass wir Sie nicht ohne weitere Informationen abspeisen können. Und wie sagt man so schön? Manus manum lavat! Eine Hand wäscht die andere!“

Er stand auf und drückte auf einen kleinen Knopf, der auf der Unterseite der Tischplatte eingelassen war. Die Tür des Glaswürfels öffnete sich lautlos. „Mr. Bauer? Würden Sie mich und Professor Seibling bitte für einen Moment entschuldigen?“ Sein Tonfall klang schroff und wirkte nicht gerade, als würde er einen Widerspruch zulassen, geschweige denn erwarten.

Bauer schien jedoch seinen Platz in diesem Theaterstück genau zu kennen. Wortlos stand er auf und verließ mit einem kurzen Nicken den Glaswürfel. Sobald er den Kubus verlassen hatte, drückte Patterson erneut den kleinen Knopf. Bauer blieb hinter den dicken Glaswänden zurück, ausgeschlossen von allem, was Patterson zu sagen beabsichtigte.

„Entschuldigen Sie“, erklärte Patterson kurz angebunden, sobald die Glastür sich mit leisem Zischen hinter dem Außenminister schloss, „Mr. Bauer war so freundlich, dieses Treffen zu arrangieren, ist jedoch auch nicht über alle Umstände unserer Zusammenkunft informiert.“ Er räusperte sich vernehmlich; eine einstudiert wirkende Geste. „Ich arbeite nicht für das amerikanische Außenministerium, wie Mr. Bauer vermutet. Tatsächlich arbeite ich für die National Aeronautics and Space Administration.“

„Die NASA?“, warf Jan ungläubig ein.

Patterson nickte kaum merklich. „Die NASA ist nur eine Institution neben mehreren Ministerien, die sich mit diesem Projekt beschäftigen“, fuhr er fort, „allerdings ist die NASA in diesem Fall die treibende Kraft, wenn ich das so formulieren darf.“

Er faltete seine Hände und legte sie auf den Tisch vor sich. „Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Sehen Sie, Dr. Bracke hat die letzten drei Jahre für mich gearbeitet. Deswegen betrifft mich ihr Verschwinden sozusagen persönlich. Ich sehe es als meine Verantwortung, alles zu tun, was notwendig ist, um ihr Verschwinden aufzuklären.“

Jan zuckte innerlich zusammen. Drei Jahre? Das würde bedeuten, dass Alissa schon während ihrer Beziehung für Patterson gearbeitet hätte. Wieder ein Punkt auf der Liste 'Was ich nicht von meiner Verlobten wusste'. Unbewusst schüttelte Jan den Kopf. Das konnte nicht sein. Unmöglich!

„Ich kann Ihnen leider nicht ganz folgen“, warf er irritiert ein. „Alissa ist Archäologin. Ich kann mich irren, aber Archäologie und Weltraumforschung sind zwei völlig unterschiedliche Forschungsgebiete, oder nicht? Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass die NASA sich um die Mitarbeit einer Archäologin bemüht. Tut mir leid, dass kaufe ich Ihnen nicht ab. Wenn es stimmt, was Sie sagen, hat Alissa zwei Jahre während unserer Beziehung für Sie gearbeitet, ohne dass ich davon irgendetwas mitbekommen hätte!“

Mitleidig starrte Patterson Jan für einen kurzen Augenblick an, bevor er nach unten griff und eine Aktentasche unter dem Tisch hervorzog. Er hatte sie bereits bei seinem Eintreten bei sich getragen, allerdings hatte Jan kaum darauf geachtet. „Auf Dr. Bracke sind wir vor etwa drei Jahren aufmerksam geworden“, erklärte er emotionslos, „durch ihre Publikationen über frühe Hochkulturen im europäischen Raum.“ Er fing an, in seiner Aktentasche zu kramen. Nach einer Weile zog er einen Stapel Dokumente hervor und schob sie in Jans Richtung. „Ehrlich gesagt, hat es mich nicht sehr viel Überredungskunst gekostet, sie für unser Projekt zu gewinnen.“ Er nickte aufmunternd. „Das oberste Dokument sollte zumindest erklären, warum sie nichts von unserer Zusammenarbeit mit Dr. Bracke wissen.“

Jan rückte seinen Stuhl näher an den Tisch heran und griff mit einem skeptischen Blick nach dem Stapel. 'NON DISCLOSURE AGREEMENT' prangte in dicken Buchstaben auf dem Kopf des ersten Dokuments. Jan überflog die Zeilen nur flüchtig, erkannte allerdings sofort, worum es sich handelte. Ein Geheimhaltungsvertrag, unterschrieben von Alissa. Ihre Unterschrift hätte er unter Tausenden erkannt. Viele Informationen enthielt der Vertrag nicht, im Großen und Ganzen verpflichtete sich Alissa darin, über ihre Arbeit Stillschweigen zu bewahren. Die Androhung von Repressalien im Falle einer Verletzung der Vertragsklauseln war jedoch umso ausführlicher gehalten. Sie reichte von schier unbezahlbaren Summen bis zur Aufgabe wesentlicher Grundrechte in Bezug auf Meinungsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht. Kurz gesagt: Ein zeitlich nicht unwesentlicher Gefängnisaufenthalt.

Jan blickte verunsichert auf. Er spürte, wie sein soeben neu gewonnenes Selbstvertrauen wieder zu versiegen drohte. „Nehmen wir an, ich glaube Ihnen, dann beantworten Sie mir doch bitte diese Frage: Was ist mit Alissa passiert?“

„Nun, wir wissen es nicht. Und an diesem Punkt kommen Sie ins Spiel. Die letzte Nachricht von Dr. Bracke lässt nicht vermuten, dass sie in Problemen steckte. Sie war mit ihrem Kollegen Dr. Gregory Boyd auf dem Weg von einer Ausgrabung zu einem vorab vereinbarten Treffpunkt mit mir, bevor sie verschwand. Sie sind nie dort angekommen. Wir haben keine Ahnung, wo sie sich jetzt befindet.“

Patterson machte eine kleine dramatische Pause, um die Worte sacken zu lassen. „Sie waren mit Dr. Bracke neun Jahre zusammen. Ich nehme an, niemand kennt sie besser als Sie.“ Erneut hielt er inne. Überraschenderweise wirkte er in diesem Moment verunsichert, was überhaupt nicht zu dem Eindruck passen wollte, den Jan bislang von ihm erhalten hatte. „Ich weiß, um was ich Sie jetzt bitten möchte, ist ungewöhnlich, allerdings sehe ich im Moment leider keinen anderen Ausweg. Sehen Sie, ich vermute, Dr. Bracke hat vor ihrem Verschwinden etwas Wichtiges entdeckt. Vielleicht ist sie sogar deswegen verschwunden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Fakt ist, wir wissen es nicht. Deswegen möchten wir Sie um Ihre Mitarbeit bitten. Wir brauchen jemanden, der ihre Unterlagen sichtet; jemanden, der sie gut kennt. Vielleicht sehen Sie etwas, das uns entgangen ist. Wenn es jemandem gelingt, ihre letzten Schritte nachzuvollziehen, dann sind sicherlich Sie das.“

Für einen kurzen Augenblick flackerte eine Emotion über Pattersons versteinert wirkende Miene. Jan war sich nicht sicher, was er soeben zu sehen bekommen hatte. Verzweiflung?

„Vielleicht können Sie sogar mehr für uns tun“, nahm Patterson seinen Faden nach ein paar Sekunden wieder auf. „Sie sind ein geachteter Experte auf Ihrem Gebiet. Vielleicht können Sie sogar Dr. Brackes Platz einnehmen, bis sie wieder bei uns ist. Ihre Arbeit fortsetzen, sozusagen.“

„Ich bin allerdings kein Archäologe, ich bin Historiker, falls Ihnen das entgangen sein sollte“, warf Jan ein. „So gerne ich Ihnen dabei helfen würde, Alissa zu finden, unterscheidet sich meine Arbeit wesentlich von der eines Archäologen. Es treibt mich selten in die Wildnis, um irgendwelche Dinge auszugraben, die irgendjemand irgendwann dort verloren hat.“

Patterson zuckte mit dem Mund, als ob er lächeln wollte. In seinem Gesicht sah das irgendwie beängstigend aus. „Professor Seibling, halten Sie uns nicht für Amateure. Das ist uns natürlich bewusst. Natürlich würden wir Ihnen einen erfahrenen Archäologen zur Seite stellen. Vorausgesetzt natürlich, Sie entscheiden sich dazu, unser Angebot anzunehmen.“

Patterson holte ein paar weitere Papiere aus seiner Aktentasche. „Falls Sie sich entschließen, für uns zu arbeiten, werden wir Sie natürlich finanziell dafür entschädigen, mit einer nicht unerheblichen Summe, nebenbei bemerkt. Und, bevor Sie weitere Einwände anbringen; wir werden uns selbstverständlich um alle Bindungen, denen Sie durch Ihre Tätigkeit an der Universität unterliegen, in Ihrem Sinne kümmern.“ Er hielt Jan einen Füller hin. „Bevor ich weiter ins Detail gehe, wären Sie so freundlich, ebenfalls einen Geheimhaltungsvertrag zu unterzeichnen?“ Er hüstelte kurz. „Reine Formsache. Sie verstehen sicherlich, dass ich mich absichern muss.“

Jan zögerte kurz. Er dachte an Alissa. Was war mit ihr passiert? Ohne Zweifel, ihre Trennung hatte ihn verletzt, viel mehr, als er jemals irgendjemandem gegenüber zugegeben hatte. Für einen kurzen Moment war er versucht, aufzustehen und einfach zu gehen, doch ein kleiner Teil von ihm sorgte sich immer noch um sie. Hatte Angst um sie. Egal, was zwischen ihnen vorgefallen war, er durfte sie nicht im Stich lassen. Jedenfalls nicht so, wie sie ihn im Stich gelassen hatte.

Er seufzte und setzte mit einer geübten Handbewegung seine Unterschrift unter das Schriftstück. „Und jetzt, wo ich unterschrieben habe, erwarte ich Antworten“, sagte er ruhiger, als er sich tatsächlich fühlte. „Sie erwähnten etwas von einer Ausgrabung, auf der Alissa eingesetzt wurde. Das wäre ein Anfang. Wonach hat Alissa für Sie gesucht? Was ist es, das die NASA so brennend interessiert?“

Patterson zog den Vertrag zu sich heran und musterte Jans Unterschrift kritisch. „Sie wissen, was Sie gerade unterschrieben haben?“, fragte er misstrauisch. „Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir hier nicht von einem Handyvertrag reden, den Sie innerhalb von zwei Wochen widerrufen können?“

„Schon klar“, wiegelte Jan ab. „Ich weiß, wozu ich mich gerade verpflichtet habe.“ Er nickte Patterson auffordernd zu. „Also? Worum geht es hier?“

„Nun gut“, murmelte Patterson zufrieden. „Ich sehe keinen Grund, Ihnen den wahren Grund unseres Treffens weiter vorzuenthalten. Kurz gesagt; Dr. Bracke hat für uns nach Atlantis gesucht.“

„Atlantis!?“, lachte Jan irritiert auf. Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht damit. „Atlantis!?“, wiederholte er noch einmal, als ob er damit Pattersons Aussage etwas mehr Sinn verleihen könnte. „Das ist doch Blödsinn! Atlantis ist nichts anderes als ein Hirngespinst eines griechischen Philosophen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Alissa für eine solch haarsträubende Geschichte gewinnen konnten!“

„Dr. Bracke hat anfänglich ähnlich reagiert wie Sie.“ Patterson stand auf und machte einen Schritt auf den Ausgang zu. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann werde ich Ihnen zeigen, was ihre Meinung letztendlich geändert hat.“ Einladend hielt er Jan seinen ausgestreckten Arm hin. „Vertrauen Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“

Skeptisch musterte Jan Patterson. Bislang war das ganze Gespräch sehr merkwürdig verlaufen. Noch immer war ihm nicht klar, worum es bei der ganzen Sache überhaupt ging. Wahrscheinlich wäre es in diesem Moment schlau gewesen, einfach nach Hause zu gehen und zu vergessen, was er heute gehört hatte. Dummerweise konnte er das nicht, zumindest, solange Alissa in Gefahr schwebte. Vorausgesetzt natürlich, Patterson sagte die Wahrheit. Allerdings, was hatte er zu verlieren, nachdem er den Knebelvertrag unterschrieben hatte? Zumindest konnte er sich anhören, was Patterson zu sagen hatte. Wenn ihm seine Antworten nicht gefielen, konnte er schließlich immer noch gehen.

„Nun gut. Allerdings müsste ich kurz in meiner Universität anrufen und mich für heute abmelden.“

„Keine Sorge“, sagte Patterson mit einer unverschämt anmutenden Arroganz, „Ihr Einverständnis voraussetzend, haben wir uns die Freiheit genommen, die Sache bereits in die Hand zu nehmen. Ich bin sicher, Sie werden sich dazu entscheiden, unser Angebot anzunehmen. Wir werden ihre Dienste etwas länger in Anspruch nehmen müssen, deswegen sind Sie die nächsten Wochen vorsorglich krankgeschrieben.“

Die Akte Plato

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