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3) Portugal, Terras do Sado, 03. Juli 2007

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Susanna tupfte sich mit einem erschöpften Seufzen den Schweiß von der Stirn. An diesem Tag setzte ihr die Hitze besonders zu, obwohl sie seit dem ersten Spatenstich auf dieser Ausgrabungsstelle ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, sich an den glühenden Sand zu gewöhnen, der die gesamte Ebene wie eine alles erstickende Bettdecke überzog. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch früh, gerade erst neun Uhr. Trotzdem herrschte bereits eine Temperatur vor, die das heimatliche England selbst in seinen heißesten Sommern bisher nicht erreicht hatte. Der Staub brannte in ihren Augen, die ohnehin mit dem grellen Licht der heißen Sonne zu kämpfen hatten. Sie ließ für einen Moment die Schaufel ruhen, um einen Blick über die Ausgrabungsstätte zu werfen und um einen dringend benötigten Schluck Wasser zu trinken. Das Wasser war warm wie alles andere auch, aber in ihrer ausgedörrten Kehle fühlte es sich wie der Himmel auf Erden an.

Die ganze Ebene war von einem emsigen Treiben erfüllt. Bis zum Mittag beabsichtigten sie, einen großen Teil des Tagespensums geschafft zu haben. Am Anfang hatten sie noch versucht, auch über Mittag weiterzuarbeiten, aber die Hitze wurde schnell unerträglich, sobald die Sonne ihren Höchststand am Himmel überschritten hatte. Inzwischen hatten sie sich dem Lebensrhythmus der einheimischen Bevölkerung in dem kleinen Örtchen hinter der nächsten Hügelkette angepasst. Der heiße Nachmittag blieb der Siesta vorbehalten, und erst abends konnten sie ihre Arbeit wieder aufnehmen, sobald die Kühle der Nacht sich mit stetiger Brise angekündigte.

Die verlorenen Nachmittagsstunden waren wahrscheinlich auch ein Grund, warum ihre Suche an diesem Ausgrabungsort noch keine nennenswerten Erfolge hervorgebracht hatte. Bis auf ein paar zerbrochene Vasen und die kümmerlichen Überreste einiger Mauern konnten sie auf ihrer Habenseite keine interessanten Funde verbuchen. Susanna fragte sich bereits, ob sich die ganze Mühe überhaupt lohnen würde. Vermutlich jagten sie einem Gespenst hinterher, einer fixen Idee, die eher von Wunschglauben als von wissenschaftlichen Fakten getrieben wurde. Es grenzte beinahe an Wahnsinn, hier tatsächlich noch irgendwelche spektakulären Entdeckungen zu erwarten. Dafür war viel zu viel Zeit vergangen, eine halbe Ewigkeit, zumindest nach den Maßstäben der vergleichsweise kurzen Zeitperiode, seitdem der erste Mensch am Horizont der Geschichte aufgetaucht war. Auch wenn sie mit ihren eigenen Augen die Bilder gesehen hatte, konnte sie immer noch nicht glauben, was ein solcher Fund letztendlich für die Geschichtsschreibung bedeuten würde, nein, sie wagte es vielmehr nicht, sich die Konsequenzen dieser Entdeckung auszumalen. Stand es ihnen tatsächlich zu, all jene Glaubensgrundsätze über den Haufen zu werfen, die seit Jahrhunderten die Eckpfeiler des menschlichen Selbstverständnisses darstellten?

Bislang drohte allerdings keine Gefahr, sämtliche Geschichtsbücher neu drucken zu müssen. Innerhalb der letzten drei Monate hatte sie hier vor Ort noch keine Beweise gesehen, die ihre Theorie untermauern und die Bilder bestätigen würden. Mit jedem Tag, der in unabänderlicher Gleichförmigkeit verstrich, wuchsen ihre Zweifel an der ganzen Geschichte. Zwei, vielleicht drei Tage noch, dann würde sie die Ausgrabung abbrechen, bevor die Kosten sämtliche auf Vernunft basierten Grenzen sprengten.

Unbewusst wischte sie sich ihre Hand an ihrer kurzen Khakihose ab. Wie sehr sehnte sie sich nach einer Dusche! Doch auch wenn ihr dieser Luxus zurzeit verwehrt blieb, wäre es ihr niemals im Traum eingefallen, sich deswegen zu beschweren. Susanna liebte ihren Job; gegen keine Dusche der Welt würde sie ihre Arbeit eintauschen wollen. Wenn ihr Blick auf die entfernten Berge fiel und über den leicht flimmernden Sand schweifte, dann erfüllte sie eine innere Zufriedenheit, die wahrscheinlich nur wenigen Menschen in ihren Berufen zuteilwurde. Es war dieses unbeschreibliche Gefühl, Spatenstich für Spatenstich der Erde neue Fundstücke abzuringen, das dieses karge Leben lebenswert machte. Inzwischen war sie es gewohnt, außerhalb jeglicher Zivilisation nur mit dem Nötigsten auszukommen. Der Verzicht war ein Teil ihres Jobs, auf den sie sich einzustellen bereit war.

Susanna widmete sich wieder dem Loch vor sich, das sie mit der Schaufel ausgehoben hatte. Sie folgte mit ihrer Grabung dem Verlauf einer Mauer, auf die sie vor knapp einer Woche gestoßen waren. Mit einem Finger strich sie die Mauer entlang; die leicht raue Oberfläche kitzelte unter ihrer Fingerkuppe. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas war an der Mauer ungewöhnlich. Sie war alt, vermutlich sogar sehr alt, aber dafür erstaunlich gut erhalten. Sie zeigte beinahe keine Spuren von Verwitterung, wie sie es erwartet hätte. Es wirkte, als hätten Jahrtausende von Sandstürmen und Regengüssen der Mauer nichts anhaben können. So eine Bauwerkskunst hatte sie in einer Gesteinsschicht dieses Alters bisher noch nicht gesehen. Genau genommen konnte sie sich noch nicht einmal daran erinnern, überhaupt jemals etwas Vergleichbares entdeckt zu haben. Sie runzelte ihre Stirn, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Vielleicht sollte sie die Flinte doch noch nicht ins Korn werfen. Diese Mauer wirkte vielversprechend und konnte, archäologisch betrachtet, ein erster Schritt auf dem langen Weg zu einer atemberaubenden Entdeckung sein.

Sie richtete sich auf, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. „Dr. Pullman, Dr. Pullman!“ Sie sah Pedro, einen der Ausgrabungshelfer, auf sich zu rennen. Er trug, wie viele von ihnen, ein Tuch lose um den Kopf gebunden. Er musste es beim Rennen festhalten, damit er es nicht unterwegs verlor. „Sie sollten sich das ansehen, in Parzelle B3 haben wir etwas gefunden!“ Pedro schrie diese Worte bereits zu ihr herüber, obwohl er noch knapp fünfzig Meter von ihr entfernt war. Pedro war Student der Archäologie, allerdings bereits im siebten Semester. Inzwischen hatte er ein erkleckliches Maß an Erfahrung auf zahlreichen Exkursionen sammeln können; zumindest genug Erfahrung, um nicht bei jedem kleinen, ausgegrabenen Splitter in helle Aufregung zu verfallen. Susanna hatte Pedro jedenfalls noch nie so aufgeregt gesehen, was an sich bereits ein Anzeichen dafür war, dass Pedro sie nicht zu einem kleinen Schwätzchen einladen wollte. Ihr Magen zog sich plötzlich fast schmerzhaft zusammen. Sollte der lang ersehnte Zeitpunkt endlich gekommen sein?

Susanna musste sich sehr zurückhalten, um nicht ebenfalls zur Parzelle B3 zu laufen, und um wenigstens den Anschein von Würde bewahren zu können. Nur mühsam verlangsamte sie ihre Schritte, obwohl fast jede Faser in ihrem Körper vor Anspannung schmerzte. Auch in Pedros Gesicht blieb die Aufregung nicht folgenlos, rote Flecken breiteten sich quer über seine Wangen aus. Mit seinen aufgerissenen Augen und den krampfhaft zusammengebissenen Lippen wirkte er noch jünger als ohnehin schon. Er erinnerte Susanna irgendwie an einen kleinen Jungen, kurz vor der Bescherung an Weihnachten. Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als er sie eilends vorantrieb.

„Unglaublich“, murmelte er. „Unglaublich. Das müssen Sie mit eigenen Augen sehen.“

Erst als sie die ersten Ausläufer der Grabungsparzelle erreichten, verlangsamte Pedro seinen Schritt. Mit einer hektischen Kopfbewegung nickte er sprachlos in Richtung des ausgehobenen Loches. Eine kleinere Gruppe Ausgrabungshelfer hatte sich am Fuße der Grube versammelt und versperrte ihren Blick auf die aktuelle Grabungsstelle. Wie Hühner scharrten sie sich an der Leiter zusammen und gackerten so aufgeregt untereinander, dass es Susanna schwer fiel, herauszuhören, wovon sie eigentlich redeten. Viele von ihnen waren Freiwillige oder junge Studenten, die das erste Mal aktiv an einer Ausgrabung teilnahmen. Jeder noch so kleine Fund hielt das Feuer ihrer Entdeckerlust am Brennen und wurde in der Regel so ekstatisch gefeiert wie die spektakuläre Entdeckung eines ungeöffneten, reich verzierten Grabes eines unbekannten ägyptischen Pharaos.

Vielleicht handelte es sich auch in diesem Fall nur um einen falschen Alarm, doch Susanna würde ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Selbst kleine Funde hielten die Motivation der Gruppe aufrecht, insbesondere, da Susanna ihnen bewusst vorenthalten hatte, was das eigentliche Ziel ihrer Exkavation war. Ihr Grabungsteam war immer noch der Meinung, sich auf der Suche nach altrömischen Ruinen zu befinden. Susanna hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sie alle einzuweihen und mit ihnen die unfassbare Wahrheit zu teilen. Allerdings war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sie selbst an die Dinge glaubte, nach denen sie hier suchte. Wie hätte sie einer Schar von unerfahrenen Ausgrabungshelfern überzeugend darlegen sollen, dass sie nichts Geringeres versuchten, als die Geschichte neu zu schreiben, wenn ihr selbst die Vorstellungskraft fehlte, daran zu glauben?

Insofern war ihr die Entscheidung leicht gefallen. Je weniger von der ganzen Sache wussten, desto besser. Ein Medienrummel war das letzte, was Susanna in dieser Situation hätte gebrauchen können. Allerdings hatte sich auch noch niemand beschwert, zu wenig über das Ziel ihrer Bemühungen zu wissen. Alle verrichteten ohne zu murren zuverlässig ihren Dienst und gaben sich mit den wenigen Erklärungen, die Susanna ihnen gab, zufrieden.

Nachdem Susanna die kleine Holzleiter hinunter geklettert war, die in die Grube führte, machte ihr die aufgeregte Meute Platz, damit sie sich selbst ein Bild von der Entdeckung machen konnte. Als erstes fielen ihr die Stufen ins Auge, die irgendwer vor langer Zeit in den blanken Stein gehauen haben musste. Die Steintreppe bohrte sich tief in den Felsen und formte zwischen den Felswänden einen beinahe beengend wirkenden Schacht. Sie folgte dem Verlauf der Stufen ein paar weitere Schritte; die angespannten Blicke der anderen brannten in ihrem Nacken.

Nach zwei Metern endete die Treppe in einem Berg Sand, der ihr weiteres Vorkommen verhinderte. Pedro und seine Helfer hatten bereits begonnen, ihn beiseite zu schaffen, ohne jedoch ihre Arbeit zu Ende zu bringen. In der Ecke hatten sie etwas freigelegt, das Susanna aus der Entfernung noch nicht erkennen konnte. Langsam kroch sie auf allen Vieren in die lang gezogene Öffnung, die sich durch die Felswände an den Seiten der Steinstufen bildete, um einen genaueren Blick auf das werfen zu können, was offensichtlich Pedros Aufregung ausgelöst hatte. Sie brauchte keine weitere Sekunde, um zu verstehen, auf was Pedro gestoßen war. Ungläubig streckte sie ihren Finger aus, um zu erfühlen, was sie ihren Augen nicht glauben wollte. Gold. Zwar bedeckte eine leicht grünliche Patina das Edelmetall, aber die ließ sich mit einem leichten Reiben des Fingers problemlos entfernen. Mit beiden Händen begann Susanna, den Sand beiseite zu schieben. Zutage trat eine Art Scharnier, leicht golden glänzend. Das Scharnier schien von massiven Metallbolzen durchzogen zu sein, die oben und unten an einer dicken Metallplatte angebracht waren. Das Gold diente vermutlich nur der Beschichtung; ein komplettes Scharnier aus Gold wäre nicht in der Lage gewesen, eine massive Tür zu tragen. Dafür war das Edelmetall viel zu weich. Dennoch hatte Susanna mit der üppigen Goldlegierung bereits jetzt ein kleines Vermögen vor Augen, obwohl bislang nur ein kleiner Teil freigelegt worden war; vom archäologischen Wert ganz zu schweigen.

Susanna drehte sich um und blickte Pedro ungläubig in die Augen. „Ist dir klar, was wir hier gefunden haben?“, fragte sie, überwältigt vom Augenblick. Pedros Miene blieb unbewegt, aber das Blitzen in seinen Augen verriet, dass er sehr genau wusste, was er vor sich hatte. Sie waren einer großen Sache auf der Spur. Susanna wusste, dass sie ihren Ausgrabungshelfern ab dem heutigen Tag ein paar weitere Erklärungen schuldig bleiben würde. „Meine Kenntnisse könnten mich trügen“, erwiderte Pedro mit einem verschwörerischen Grinsen, „aber wenn ich nicht falsch liege, haben wir etwas gefunden, das es eigentlich nicht geben dürfte.“

Die Akte Plato

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