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13) Portugal, Terras do Sado, 04. Juli 2007

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Ein Poltern vor dem Fenster hatte der Diskussion ein jähes Ende beschert. Smith hatte als erstes reagiert und war in einer einzigen, fließenden Bewegung aufgesprungen und zum Balkon gehechtet. Er stürzte mit polternden Schritten nach draußen, während die anderen noch paralysiert in Richtung Fenster starrten, wie ein Rudel erschreckter Rehe angesichts der sich unaufhaltsam nähernden Scheinwerfer eines heranrasenden Wagens.

Jan kam nicht umhin, Smith für seine schnelle Reaktion zu bewundern. Die Schrecksekunde, der er wie alle anderen im Raum unterlag, hatte auf Smith anscheinend keinen Effekt. Ganz im Gegenteil, sein schnelles Handeln glich der verbissenen und emotionslosen Routine eines Boxers im Ring. Im Vergleich dazu wirkten alle anderen wie eine Herde verschreckter Schafe, die verzweifelt versuchten, durch ein betont lässiges Lächeln darüber hinwegzutäuschen, wie kläglich sie sich soeben blamiert hatten. Wenigstens hatte keiner von ihnen erschrocken aufgeschrien, was der ganzen Situation noch die Krone der Peinlichkeit aufgesetzt hätte.

Vor allem, weil es draußen anscheinend nichts zu entdecken gab. Jedenfalls nichts, das eine Erklärung für das Poltern hätte liefern können. Ratlos kehrte Smith unverrichteter Dinge nach ein paar Minuten zurück in den Raum. Doch im Gegensatz zu den anderen schien ihm der Vorfall keine Ruhe zu lassen, obwohl er sich mit augenscheinlich gelöster Miene zurück auf seinen Platz setzte. Während bei den anderen die Anspannung einer erleichterten Ruhe wich und vereinzelt wieder Gespräche aufflammten, warf Smith unaufhörlich einen unauffälligen Blick in Richtung Balkon, als würde er jede Minute damit rechnen, seine dunkelsten Vorahnungen bestätigt zu sehen.

Patterson hingegen schien wenig beunruhigt zu sein und verlieh seinem Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen der Basis Nachdruck. Mit einem auffordernden Blick in Richtung Smith erklärte er die Angelegenheit für erledigt.

Jan war die unterschwellig brodelnde Spannung zwischen Smith und Patterson schon früher am Abend aufgefallen. Die Beziehung dieser auf ihre jeweils eigene Art sehr dominanten Männer war merklich angespannt. Patterson ließ keine Gelegenheit aus, Smith deutlich zu zeigen, wem in diesem Raum das letzte Wort gebührte, während in Smiths Antworten latent ein Hauch von Trotz mitschwang. Ungewöhnlich für einen Mann, der Loyalität augenscheinlich zum höchsten menschlichen Gut erhoben hatte.

„Wir reagieren alle etwas gereizt“, ergriff Patterson wieder das Wort. „Es ist allerdings auch schon ziemlich spät. Wir sollten zusehen, unsere Diskussion zu einem Ende kommen zu lassen, damit wir uns alle eine Mütze voll Schlaf gönnen können. Mr. Breitenscheidt, bitte fahren Sie fort. Wenn es geht, fassen Sie sich bitte kurz, so faszinierend das Thema auch sein mag.“ Er lächelte müde in dem Versuch, die angespannte Situation mit etwas Humor aufzulockern.

Breitenscheidt nickte fahrig und legte eine nachdenkliche Miene auf. Die Diskussion war unterbrochen worden, als Breitenscheidt gerade dazu angesetzt hatte, ihr Vorgehen bei der Suche nach potenziellen Ausgrabungsstandorten zu schildern.

Breitenscheidt war zwar Geologe, legte allerdings ein erstaunlich ausgeprägtes Faible für Humangeographie an den Tag. Genauer gesagt, wie er mehrfach mit kreisenden Bewegungen seiner Zeigefinger unterstrich, beschäftigte er sich mit den Auswirkungen der Erdoberflächenbeschaffenheit auf die kulturhistorische Entwicklung der Menschheit.

Jan wusste zwar nicht genau, was er sich darunter vorzustellen hatte, wagte es aber nicht, nachzuhaken. Obwohl Breitenscheidt sich redlich bemühte, die Fachterminologie auf ein Minimum zu reduzieren, fiel es Jan zunehmend schwerer, seinen Ausführungen zu folgen. Seine Erklärungen waren lediglich eine Aneinanderreihung von diffusen Gedankenfetzen und Sprüngen, untermalt mit verstörenden, nervösen Gesten, die in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt seines Vortrages zu stehen schienen. Alles, was Jan von über zwanzig Minuten Monolog verstanden hatte, ließ sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Auf Basis des schwachen Bildabdrucks hatte Breitenscheidt versucht, den Punkt geographisch einzugrenzen, der auf dem unscharfen Bild relativ ungenau und weitläufig markiert war. Er hatte mit modernen Karten die Topographie der gekennzeichneten Region analysiert, sie mit den geographischen Veränderungen der letzten 10.000 Jahre verglichen, und hatte letztendlich etwa zehn Kilometer von der Villa entfernt ein Areal aufgespürt, das er als ‚potenziell Erfolg versprechend’ betitelte.

„Die geographischen Gegebenheiten sind wichtige Kriterien, die wir aus der Historie heraus bei der Gründung von Siedlungen und Städten berücksichtigen müssen“, nahm Breitenscheidt seinen Faden nach einer kurzen Pause wieder auf. „Für die Entwicklung einer Kultur sind Umweltfaktoren von nicht zu unterschätzender Bedeutung.“

„In der Archäologie nutzen wir dieses Wissen, um potenzielle Standorte für frühzeitliche Siedlungen ausfindig zu machen“, fügte Susanna Pullman hinzu. „Flussmündungen sind zum Beispiel bevorzugte Standorte für Stadtgründungen, ebenso wie Standorte, die sich durch geographische Vorteile mit relativ einfachen Mitteln verteidigen ließen. Berge oder andere Erhebungen, beispielsweise.“

Breitenscheidt nickte übertrieben heftig. „Alle Siedlungsgründungen lassen sich auf solche Umweltgegebenheiten zurückführen. Klima, Flora, Fauna. Der Mensch unterliegt von Natur aus einer Reihe von Grundbedürfnissen, die er unablässig zu stillen hat. Deswegen siedelt er sich bevorzugt an Stellen an, in deren Einzugsgebiet möglichst viele seiner Bedürfnisse befriedigt werden. Das bezieht sich auf das Angebot von Wasser und Nahrung, auf die Befriedigung sozialer Bedürfnisse, aber auch auf sein Verlangen nach Sicherheit.“

Breitenscheidt leckte sich nervös über die Lippen, während er erzählte. Alles an ihm machte auf Jan den Eindruck, als spielte er ein akribisch einstudiertes Theaterstück. Jede seiner Bewegungen wirkte überspitzt, fast überzeichnet, als hätte ein nur mäßig begabter Zeichner zum Stift gegriffen und den Stereotyp eines intelligenten, aber in sozialer Hinsicht unterentwickelten Sonderlings zu Papier gebracht.

Seine hypernervöse Art machte es beinahe unmöglich, ihm längere Zeit zuzuhören oder zuzusehen, ohne Abscheu oder Mitleid zu empfinden. Mit jeder in unerträglicher Monotonie verstreichenden Minute wuchs in Jan der Drang, aufzuspringen und Breitenscheidt jede einzelne seiner merkwürdigen Angewohnheiten Wort für Wort um die Ohren zu schlagen. Auch wenn es ihm seine gute Erziehung verbot, seinen Verdacht laut auszusprechen; Jan war überzeugt, genau den Breitenscheidt dargeboten zu bekommen, den Breitenscheidt ihnen zu zeigen beabsichtigte. Ein in jahrelanger Praxis kultiviertes Erscheinungsbild, als hätte er sich eine Maske übergestreift, mit der er seinen tatsächlichen Charakter vor der Welt zu verbergen versuchte.

„Verstehen Sie? Zwar hat uns der Computerabdruck lediglich eine ungefähre Ecke vorgegeben, in der wir mit der Suche beginnen können, aber mit dem Wissen um günstige Topographien für Siedlungsgründungen konnten wir das Areal auf drei vielversprechende Standorte einschränken. Dank eines kleinen Programms, das Black uns geschrieben hat.“

Er nickte kurz anerkennend zu Black hinüber.

„Wir graben an diesen drei Stellen bereits seit etwa drei Jahren mit zwei unterschiedlichen Teams“, erklärte Susanna. „Das erste Team untersteht mir. Wir suchen in einer Ebene, die fast vollständig durch eine Hügelkette von der Außenwelt abgeschottet ist und von Frischwasserquellen mit Wasser versorgt wird.

„Wir halten diese Stelle für hochgradig verheißungsvoll“, fiel Breitenscheidt ihr ins Wort. „Sie erfüllt viele unserer Kriterien, wie Nahrungsangebot und Verteidigungsfähigkeit.“

Susanna nickte. „Gleiches gilt auch für die Ausgrabungsgebiete des zweiten und des dritten Ausgrabungsteams, die Alissa unterstanden.“ Sie hielt plötzlich inne; für den Bruchteil einer Sekunde errötete sie, als ihr bewusst wurde, was sie mit ihrer Wortwahl implizierte. „Ich meine, Alissa unterstehen“, korrigierte sie mit belegter Stimme.

Jan versuchte, ihren Einwurf zu ignorieren. Es fiel ihm ohnehin schwer genug, bei der Sache zu bleiben, auch ohne sich zusätzlich noch Sorgen über Alissas Wohlergehen zu machen. Es gelang ihm allerdings nur bedingt, seinen Kopf von solchen Gedanken zu befreien. Gedanklich kämpfte er gegen eine Flut von unzähligen Erinnerungsfetzen an seine gemeinsame Zeit mit Alissa an, die eine bunte Mischung von irritierenden Gefühlen wachriefen. Gefühle, die auf entnervende Art und Weise zeigten, wie wenig er in dem letzten Jahr nach ihrer Trennung Fortschritte gemacht hatte.

„Wonach suchen wir also?“, fragte er, um sich selbst von seinen eigenen Gedanken abzulenken. „Um ehrlich zu sein, ich bin noch nicht überzeugt. Atlantis, zugegeben, die Hinweise deuten darauf hin, aber mir fällt es trotz aller Indizien schwer, diesen Mythos als Fakt zu akzeptieren. Ich meine, ist das denn realistisch? Hätte tatsächlich eine Gruppe von Menschen vor uns eine derart überlegene Technologie entwickelt, hätten wir doch längst etwas finden müssen, das darauf hinweist!“

„Es ist und bleibt unvorstellbar, nicht wahr?“, mischte Morden sich ein. „Aber lassen Sie mich eine gewagte These aufstellen: Vielleicht existieren diese Hinweise tatsächlich, nur haben wir sie in unserer Verblendung und Arroganz nicht gesehen, oder vielleicht auch schlichtweg falsch gedeutet. Wir setzen viel zu oft einen linearen Verlauf der Geschichte voraus. Es ist doch so; wir ignorieren alle Indizien, die dieser Theorie widersprechen, oder die nicht in unser Weltbild passen. Ich behaupte, Unmengen von Beweisen nennen zu können, die wir bislang einfach falsch interpretiert haben. Im Lichte unserer neuen Erkenntnisse würden wir zu ganz anderen Schlüssen gelangen, wenn wir unsere bisherigen Fundstücke völlig objektiv bewerten würden.“

Er lehnte sich zurück und musterte Jan herausfordernd.

„Gerade Ihnen als Historiker sollten doch genügend Beispiele einfallen, die mit heutigem Wissensstand nicht erklärbar sind. Der Mechanismus von Antikythera zum Beispiel. Bislang konnten wir nicht schlüssig erklären, wie die Menschen den Apparat mit dem damaligen Wissensstand bauen konnten. Heute würde ich behaupten, Sie sehen die Quelle ihres Wissens auf diesen Fotos.“ Er zeigte demonstrativ auf die Leinwand, auf der immer noch der verschwommene Fleck zu sehen war, in den Patterson und sein Team ihre gesamte Hoffnung legten.

„Wie? Was für ein Mechanismus?“, fragte Black neugierig.

„Der Mechanismus von Antikythera ist ein Gegenstand, der aus einem versunkenen Schiff vor der griechischen Insel Antikythera geborgen werden konnte“, erklärte Jan, ohne den Blick von Morden abzuwenden. „Das war Anfang des 20. Jahrhunderts. Die lange Zeit auf dem Meeresboden hatte der Apparatur gewaltig zugesetzt; die Wissenschaftler konnten sich anfänglich keinen Reim darauf machen, wozu der Mechanismus gedient hatte. Alles, was übrig geblieben war, waren geschickt gefertigte Zahnräder aus Bronze, die vermutlich in einem vor langer Zeit vermoderten Holzkasten gesteckt hatten.“ Er seufzte unbestimmt, weil es ihm langsam dämmerte, worauf Morden hinauswollte. „Die Erfindung der Röntgentechnologie hat es letztendlich ermöglicht, dem Apparat sein Geheimnis abzuringen“, ergänzte er und fühlte sich in diesem Moment unglaublich kraftlos.

Falls tatsächlich möglich, wirkte Morden in diesem Moment noch unsympathischer als ohnehin schon. Sein selbstzufriedenes Lächeln glich einer Provokation, ein Ausdruck grenzenloser Arroganz, mit der er sich selbst zum Gewinner dieser Diskussion kürte. Jan musste seinen Blick von ihm abwenden, um das aufwallende Gefühl der Abneigung zu unterdrücken, als er fortfuhr: „Die Röntgenbilder zeigten ein komplexes Räderwerk, vergleichbar mit einer frühen Rechenmaschine“, fuhr er fort. „Viele Wissenschaftler sind inzwischen zu der Überzeugung gelangt, mit dem Mechanismus eine Art astronomisches Vorhersageinstrument gefunden zu haben.“

„Das Gerät ist fast 1.900 Jahre alt“, platzte es aus Morden heraus, „aber dennoch deuten Rekonstruktionen darauf hin, dass mit dem Gerät die Bewegungen von Mond und Sonne durch die ägyptischen Tierkreiszeichen präzise vorhergesagt werden können!“ Er lachte kurz auf. „Allerdings ist da noch mehr: Offenbar war der Mechanismus sogar in der Lage, Sonnen- und Mondfinsternisse vorauszuberechnen. Interessanterweise verwendete es dazu eine Technologie, die nach heutigem Wissen erstmalig im 13. Jahrhundert schriftlich belegt und erst um 1828 zum Patent angemeldet wurde: Ein Differenzialgetriebe, also in sich greifende Zahnräder. Damit war das Gerät in seinem Aufbau komplexer als jedes andere bekannte Gerät in den folgenden tausend Jahren.“

Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich frage Sie: Woher haben die Menschen vor 2.000 Jahren gewusst, wie ein Differenzialgetriebe herzustellen ist? Was hat die Menschen dazu befähigt, eine derart filigrane und komplexe Rechenmaschine herstellen zu können?“ Er lehnte sich nach vorne und senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. „Ich behaupte, sie konnten dabei auf Wissen zurückgreifen, das lange vor unserer Zeit verloren gegangen ist.“ Er nickte demonstrativ in Richtung Leinwand.

Jan seufzte aufgebracht auf. „Wollen Sie mich nicht verstehen? Dieser Apparat beweist gar nichts! Immerhin suchen wir nach einer Kultur, die offensichtlich bereits vor Tausenden von Jahren die Grenze zum Weltraum durchbrochen haben soll, während der Rest der Menschheit noch damit beschäftigt war, sich mit Steinwaffen die Köpfe einzuschlagen. Sie müssen mehr aufbieten können, als einen oxidierten, alten Kasten mit Bronzezahnrädern, um mich zu überzeugen. Es tut mir leid, aber das will nicht in meinen Kopf! Eine Kapsel auf dem Mond!? Atlantis!? Das kann nur eine Fälschung sein!“ In seinem Eifer war Jan aufgesprungen. Die Überforderung der letzten Stunden machte sich jäh Luft. „Wenn es wahr wäre, müssten über die ganze Erde die Hinterlassenschaften dieser Zivilisation verteilt liegen. Wir müssten praktisch bei jedem Schritt darüber stolpern! Zeichen für Stahl verarbeitende Industrie, Luftfahrt, Städte! Eine derart hoch entwickelte Zivilisation wohnt doch nicht in Höhlen oder Zelten, sondern in massiven Häusern aus Stein und Stahl, die doch wohl ein paar Jahrtausende überdauern würden!“

Frustriert starrte er in die Runde. In diesem Moment kam es ihm vor, als wäre er der Einzige in der Runde, der sich um einen klaren Verstand bemühte. Der Einzige, der sich anmaßte, die Entdeckung in Frage zu stellen, anstatt sich der betäubenden Umarmung einer bedingungslosen Begeisterung hinzugeben.

„Stellen Sie sich vor, die Menschheit würde von einem auf den anderen Tag verschwinden. Wollen Sie mir tatsächlich weismachen, die menschliche Zivilisation könnte vom Antlitz dieser Erde getilgt werden, ohne Hinweise auf ihre großen Errungenschaften zu hinterlassen?“

„Sie werden lachen, aber genauso ist es“, erwiderte Patterson. „Nach 10.000 Jahren würde fast nichts mehr an uns erinnern. Ganz im Gegenteil, bereits nach 1.000 Jahren wären die meisten unserer Spuren unter dem Staub der Geschichte begraben. Nichts von unserer Technologie ist für die Ewigkeit geschaffen.“

Seine Stimme wirkte fest und unbeirrt. Kein Irrtum möglich, Patterson war jenseits des Hauchs eines Zweifels überzeugt von seiner Theorie. „Ein Beispiel“, fuhr er fort. „Wie lange würden ihrer Meinung nach unsere modernen Hochhäuser ohne fortwährende Wartung der Witterung Widerstand leisten können?“

Bevor Jan reagieren konnte, gab er sich die Antwort selbst. „Keine 500 Jahre“, bekräftigte er. „Die meisten unserer Gebäude sind aus Stahlbeton. Beton bröckelt und Stahl rostet. Sobald die ersten Scheiben der Gebäude zerbrochen sind, ist dem Verfall unaufhaltsam Tür und Tor geöffnet. Die einzigen Bauwerke, die eine Chance hätten, längere Zeit durchzuhalten, sind Gebäude unserer Vorfahren. Der Kölner Dom, Notre-Dame, stabile Konstruktionen aus massivem Stein. Aber auch sie werden keine weiteren 10.000 Jahre überstehen.“

Morden grunzte bestätigend. „Es wird vielen Menschen schwer fallen, die Vergänglichkeit ihres Lebens akzeptieren zu können, aber wir sprechen von Fakten. Unsere Technologie ist nicht für die Ewigkeiten geschaffen. Die Natur würde sich bereits zwei Tage nach unserem Verschwinden Millimeter für Millimeter ihren angestammten Lebensraum zurückerobern. Das einzige, was nach 12.000 Jahren an der Erdoberfläche noch an uns erinnern würde, wären ein paar verstreute, sagenumwobene Geschichten unserer Nachfahren, sowie ein paar Schmuckstücke aus Gold, die nicht der Witterung unterliegen. Und Goldschmuck ist bei aller Liebe kein Beleg für herausragende, technologische Leistungen. Die einzige Möglichkeit, etwas von uns auf Dauer zu bewahren, ist in den geschützten Tiefen von Mutter Erde gegeben. Aber Sie werden selbst zugeben müssen, dieser Aufbewahrungsort ist weder sonderlich offensichtlich, noch leicht zugänglich. Es würde purem Glück entsprechen, wenn unsere Nachfahren tatsächlich über einige unserer Hinterlassenschaften stolpern würden.“

„Hah!“, lachte Black amüsiert auf. „Und wahrscheinlich würden Sie lediglich unseren Atommüll ausgraben! Und daran hätten sie wahrlich nicht sonderlich viel Freude!“

„Sehen Sie, Professor Seibling, ihre Einwände sind durchaus berechtigt. Doch Witterung ist nicht der einzige Grund, warum wir bislang keine Anzeichen für eine hoch entwickelte Zivilisation finden konnten“, sagte Breitenscheidt plötzlich, nachdem er sich die letzten Minuten schweigend aus der Diskussion zurückgezogen hatte. „Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass die Erde vor etwa 12.000 Jahren einer größeren Katastrophe anheim gefallen ist.“

Er blinzelte nervös, als wäre ihm nicht wohl dabei, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken.

„Es sind eigentlich nicht mehr als ein paar Indizien, die uns nach diesen Zeiträumen zur Verfügung stehen, aber zusammen betrachtet formen die einzelnen Bausteine die Geschichte einer globalen Katastrophe, die das Leben auf der Erde auf eine harte Probe gestellt haben dürfte. Wie damals vor 65 Millionen Jahren.“

Breitenscheidt verstummte und ließ seine Worte für sich selbst sprechen. Auf Jan wirkte es beinahe, als würden alle Anwesenden eine mühsam entwickelte Choreographie abarbeiten, einen Tanz der Worte zwischen Morden, Black, Breitenscheidt, Patterson und Susanna. Beweisführungen prasselten abwechselnd auf Jan ein; jedes mögliche Gegenargument von seiner Seite wurde antizipiert und vorausschauend in einer Flut von Theorien erstickt. Sie alle hatten ohne letzte Zweifel ihre Meinung über diese Kapsel in Beton gegossen. Sie mussten nur noch Jan davon überzeugen.

„Sie spielen auf den Meteoriteneinschlag an, der die Dinosaurier ausgelöscht hat“, kommentierte Jan vorsichtig, um das Schweigen zu brechen. „Sie sagen, Atlantis sei untergegangen, weil die Erde wie bei den Dinosauriern von einem Meteoriten getroffen wurde?“

„Ja“, erwiderte Breitenscheidt lapidar, als wären keine weiteren Erklärungen notwendig. „Ich will nicht behaupten, die Erde wäre vor 12.000 Jahren von einem Objekt ähnlicher Größe getroffen worden, denn in diesem Fall dürfte die Menschheit kaum noch existieren, aber Fakt ist, es hat eine Katastrophe gegeben, die das Leben auf der Erde nachhaltig für alle Menschen verändert hat.“

„Kennen Sie den Begriff ‚Kollektives Gedächtnis’?“, erkundigte sich Susanna mit einem aufmunterndem Nicken, das Jan anscheinend dazu ermutigen sollte, dem Kreuzfeuer noch etwas länger standzuhalten. Sie wartete jedoch keine Antwort ab, sondern erklärte sofort: „Als ‚Kollektives Gedächtnis’ werden Erinnerungen bezeichnet, die in den Sagen, Mythen und Geschichten unterschiedlicher Kulturen auftauchen, obwohl es zwischen den Völkern keine bekannten Berührungspunkte gibt.“

„Dafür gibt es mehrere Beispiele“, ergriff Patterson das Wort. „Viele Kulturen haben eine Geschichte überliefert, die sich mit der Sintflutgeschichte der Bibel vergleichen lässt, obwohl diese Völker sich geographisch und zeitlich voneinander getrennt entwickelt haben.“

„Allein in Europa gibt es vier unabhängige Sintflutsagen, in Asien dreizehn und in Nord-, Mittel- und Südamerika zusammengenommen sogar siebenunddreißig! Beinahe jeder Kontinent kennt eine vergleichbare Geschichte, obwohl eine kulturelle Beeinflussung der Völker untereinander aufgrund der Entfernungen nahezu ausgeschlossen ist!“, vollendete Susanna mit vor Aufregung bebender Stimme.

Patterson nickte zustimmend. „Woher kommt diese auffällige Anhäufung von Geschichten, die sich alle mit einem einzigen Thema beschäftigen? Ich will es Ihnen sagen: Diese Erinnerungen sind kollektive Überlieferungen einer Katastrophe, durch die die gesamte Menschheit nachhaltig geprägt wurde. Sehen Sie, die Menschen…“

Patterson kam nicht mehr dazu, seinen Gedanken zu Ende zu führen. Ein lauter Knall draußen vor dem Fenster ließ ihn mitten im Wort innehalten. Zwei weitere in schneller Folge: Bamm! Bamm!

Schüsse!

Bevor irgendjemand reagieren konnte, hechtete Smith aus dem Raum, in nur ein paar Sekunden Abstand gefolgt von Patterson. Der Rest der Gruppe, einschließlich Jan, sprang geschockt von den Stühlen hoch und rannte den beiden Männern durch die große Flügeltür und die Innenhalle hinterher.

Der gesamte Außenbereich wurde durch helles Flutlicht grell erleuchtet. Für einen kurzen Moment fiel es Jan schwer, sich zu orientieren. Als er Smith und Patterson erreichte, knieten sie bereits neben einem Mann, der etwas versetzt hinter der Villa lag, kurz vor der Mauer, die sich entlang der Klippe um das Haus schlängelte. Der Blick auf das Opfer blieb Jan verwehrt, aber ein feines Rinnsal von Blut bahnte sich unaufhaltsam einen Weg durch Pattersons Füße hindurch in sein Sichtfeld und färbte den hellen Schotter kupferbraun. Jan erstarrte entsetzt in seiner Bewegung.

Patterson drehte sich quälend langsam zu ihm um, als er ihn bemerkte. In seinen Augen blitzte Ärger auf, unterschwellig, aber bedrohlich wie eine schwarze, unaufhaltsame Sturmwetterfront, die am friedlichen, blauen Himmel aufzieht. Seine Stirn war in sorgenvolle Falten gezogen. „Professor Seibling!“, flüsterte er und seine Stimme klang angestrengt wie die eines alten Mannes. „Es sieht so aus, als ob wir gerade unter Zugzwang geraten wären. Ich fürchte, unser Projekt ist nicht länger geheim.“

Die Akte Plato

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