Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 8
6) Deutschland, München, 03. Juli 2007
ОглавлениеBill lächelte zufrieden. Die Mappe enthielt alle Informationen, die er für seinen Auftrag benötigte. Bills Auftraggeber hatte sich mit der Ausarbeitung dieser kurzen Vita selbst übertroffen. Tatsächlich listete sie sogar mehr Details auf, als eigentlich für einen ersten Eindruck der Zielperson notwendig gewesen wären, ein paar Belanglosigkeiten, irrelevante private Informationen. Doch Bill wusste auch diese augenscheinlich unnützen Trivialitäten zu schätzen. Es konnte nie schaden, seinen Opponenten gut zu kennen. Das half, Überraschungen zu vermeiden.
Bill blätterte erneut durch die Seiten. Interessanterweise hatte auch sein Auftraggeber mit seiner akribischen Vorbereitung mehr über sich verraten, als er beabsichtigt hatte. Die wenigen handschriftlich beigefügten Zeilen verrieten einen gewissenhaften, aber auch verbissenen Charakter, zielgerichtet, allerdings mit leichtem Hang zu blindwütigem Fanatismus. In seinem Job konnte sich Bill seine Auftraggeber nicht immer aussuchen, deswegen hatte er gelehrt, vorsichtig zu sein. Vertraue niemandem. Eine Regel, die ihm bisher immer gute Dienste geleistet hatte, genau wie seine oberste Direktive: Vorbereitung ist alles.
Er widmete sich der Seite, die aufgeschlagen auf seinem Schoss lag. Inzwischen kannte er sie beinahe auswendig, wie fast alle Seiten der Mappe. Wollte Bill bei dieser Mission erfolgreich sein, durfte er sich keinen Fehler erlauben. Und dazu gehörte, sich jedes Detail gewissenhaft einzuprägen. Der Inhalt der Seite ließ sich in knappen Worten zusammenfassen.
Dr. Jan Seibling verdiente sich sein Gehalt als Professor am Lehrstuhl für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seine Bankauszüge zeugten von einem zwar nicht üppigen, dennoch von einem überdurchschnittlich hohen Gehalt eines Beamten, das mittlerweile auf den Bankkonten ein ausreichendes Finanzpolster geschaffen hatte. Laut Vita war er gerade 35 Jahre alt geworden, alleinstehend, Single seit etwa einem Jahr. Seine Verlobte, Dr. Alissa Bracke, hatte ihn verlassen, Gründe dafür listete die Mappe allerdings nicht auf. Seit der Trennung lebte Seibling zurückgezogen. Mit seinen Freunden und Bekannten traf er sich nur noch sporadisch am Wochenende, in der Woche blieb er meistens bis in die späten Abendstunden in der Universität. Seine Familie lebte nicht in unmittelbarer Nähe. Seine Eltern, offensichtlich ein fideles Rentnerehepaar, hatten sich auf einen Altersruhesitz in Florida zurückgezogen. Seiblings einzige Schwester arbeitete derzeit in einem Krankenhaus in England. Sie telefonierten selten, hauptsächlich zu Feiertagen.
Bill blickte von den Unterlagen auf. Unbewusst nickte er. Keine tieferen Bindungen in der Nähe, das vereinfachte die Sache. Bill hatte bereits früh lernen müssen, dass Menschen immer im Zusammenhang ihrer sozialen Bindungen betrachtet werden mussten, sofern er in seinem Job erfolgreich sein wollte. Zielpersonen mit vielen Freunden, Verwandten oder Bekannten hatten nicht nur vielfältige Rückzugsmöglichkeiten, sondern verfügten über einen etablierten Platz in einem sozialen Gefüge. Die Größe dieses sozialen Netzwerkes hatte einen erheblichen Einfluss darauf, wie leicht oder schwer eine Zielperson zu überwachen und zu kontrollieren war. Mit zunehmender Größe wuchs die Anzahl der Variablen, die Bill zu beachten hatte. Zeugen, unerwarteter Besuch; die Wahrscheinlichkeit seiner Entdeckung stieg mit der Anzahl der Personen, die sich im Umkreis des Beobachteten aufhielten. Und Bill war Perfektionist. In seinem Job gab es keine Fehlertoleranz. Und in den seltenen Fällen, in denen ihm dennoch ein Fehler unterlaufen war, hatte er sich persönlich darum gekümmert, ihn schnellstmöglich wieder auszubügeln.
Tatsächlich wurde sein Job, zumindest in dieser Beziehung, in den letzten Jahren immer einfacher. Gerade in den Städten vereinsamten die Menschen zusehends, verloren den Kontakt zu Nachbarn und Freunden. Ihre Freunde fanden sie im Internet, in Kontaktbörsen oder in sozialen Netzwerken. Allerdings erwiesen sich diese Beziehungen als oberflächlich. Nur selten resultierten die Online-Bekanntschaften in einer dauerhaften, tiefen Bindung, die im realen Leben Bestand hatte. Bill rümpfte angewidert die Nase, als er daran dachte. Menschen waren einfach zu manipulieren, nicht mehr eine Herde willenloser Lemminge, die jedem neuen Trend blind über die Klippe folgten. Was war nur aus der guten alten Zeit geworden, als ein Abend unter Freunden in einer Kneipe oder im Kino stattfand und nicht in einem anonymisierten, virtuellen Raum im Cyberspace?
Doch Bill kannte die Antwort darauf.
Ihr monotones Leben trieb die Menschen dazu, sich ein anderes Leben, ein virtuelles Leben zu suchen. Im Internet konnten sie sich selbst neu definieren, etwas aus sich machen, von dem sie ihr ganzes bedauernswertes Leben geträumt hatten. Sie konnten auf Knopfdruck erfolgreich sein, beliebt, sogar gutaussehend. Die Menschen versteckten sich hinter Bildchen und falschen Namen, auf Kosten ihres tatsächlichen Lebens, in dem sie intellektuell verarmten, ohne zu merken, dass ihre lieb gewonnene Internetpräsenz austauschbar war wie die Batterien ihrer kabellosen Computermäuse. Sobald einer der unzähligen Kontakte in diesen Netzwerken verschwand, nahm unverzüglich jemand anderes den freigewordenen Platz ein, an dem zuvor eine andere einsame Seele um Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. Das Internet war kurzweilig, in nur Sekundenbruchteilen verschwanden die ehemaligen Gesprächspartner von dem kollektiven Bildschirm, ohne auch nur eine Spur im Gedächtnis ihrer Mitleidenden zu hinterlassen.
Bills Blick schwenkte zu dem Farbfoto in der oberen linken Ecke der Mappe, das Jan Seibling zeigte. 1,82 Meter groß, Augenfarbe blau, Haare blond. Sportliche Figur. Leicht neidisch betrachtete Bill das Bild. Das Gesicht war in gewisser Hinsicht bemerkenswert. Obwohl Seibling mit 35 Jahren relativ jung war, wirkte sein Gesichtsausdruck erfahren und abgeklärt. Ein Gesicht, das jedem Zuhörer vermittelte: Du kannst mir vertrauen, ich verstehe dich. Dieser Mensch war nicht nur intelligent, aus seinen Augen blitzten Güte, Mitgefühl und Interesse. In den Vorlesungssälen der Universität lauerten mit Sicherheit einige Studentinnen, die ihre Seminare nicht nur wegen der interessanten Vorträge besuchten, sondern hauptsächlich dem Charme ihres Dozenten erlagen.
Allerdings war körperliche Attraktivität keine Eigenschaft, die Bill in seinem Beruf besonders dienlich gewesen wäre. Gerade sein eher durchschnittliches Erscheinungsbild ermöglichte es ihm, nahezu unbemerkt in Menschenmassen unterzutauchen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil und in seinem Beruf absolut überlebenswichtig. Tatsächlich gefiel Bill diese Rolle, sie hatte es ihm mehr als einmal ermöglicht, unentdeckt aufzutauchen und ebenso wieder zu verschwinden. Er war mit einem Gesicht gesegnet, an dem die Blicke anderer Menschen abglitten, weil sie nichts Interessantes daran zu entdecken vermochten, keine Ecken und Kanten fanden, an denen der Blick heften bleiben konnte. Sie sahen ihn an und hatten ihn zwei Schritte weiter bereits wieder vergessen, als hätten sie ihn nie gesehen, oder als würde er nicht existieren. Ein anonymes Gesicht in einer Masse von anonymen Gesichtern.
Bill klappte die Mappe zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gebäudekomplex der amerikanischen Botschaft.
Er parkte mit seinem schwarzen Audi etwas entfernt an der nächsten Straßenecke, dicht genug, um alles zu sehen, weit genug entfernt, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Was nicht immer einfach war. Seit dem 11. September 2001 reagierten gerade amerikanische Sicherheitsleute überempfindlich auf Fahrzeuge und Personen, die sich allzu auffällig bewegten oder, wie in seinem Fall, nicht bewegten. Im Moment hatte Bill seinen Posten jedoch gut gewählt; er hatte beinahe freie Sicht auf die Ausfahrten der amerikanischen Botschaft, während er in der Masse parkender Autos von den Wachleuten kaum auszumachen war. Und sollte tatsächlich jemand auf die Idee kommen, ihn zu fragen, was er hier trieb, hatte er direkt die passende Geschichte parat: Falls erforderlich, würde er sich als geduldiger Ehemann ausgeben, der auf seine arme kranke Frau wartete, während sie sich beim Arzt etwas gegen ihr schlimmes Rheuma verschreiben ließ.
Bill lächelte unbewusst. Menschen glaubten alles, solange es mit der richtigen Überzeugung und einem netten Lächeln vorgetragen wurde. Außerdem prangte tatsächlich auf der gegenüberliegenden Seite das Praxisschild eines Orthopäden. Es schadete nie, wenn Tarnungen zusätzlich durch ein paar glaubwürdige Elemente angereichert wurden.
Doch in diesem Fall sollte es nicht erforderlich werden, die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte testen zu müssen. Just in diesem Moment öffnete sich das Sicherheitstor der Tiefgarage an der Seite des Botschaftsgebäudes, um eine schwarze Limousine durchzulassen. Bill griff nach seinem Fernglas, das er griffbereit unter dem Beifahrersitz deponiert hatte. Die Limousine war mehrere hundert Meter entfernt, aber der Feldstecher verriet die Insassen des Fahrzeugs mit unbestechlicher Präzision. Jan Seibling saß im Fond, zusammen mit Brian Patterson. Wie vorhergesagt. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Bills Lippen, als er den Motor seines Wagens startete. Das Spiel hatte begonnen.