Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 3
1) Mond, 07. Dezember 1972
ОглавлениеEs war warm und stickig im Raumanzug, trotz des integrierten Klimasystems, als ob ihm der Anzug selbst die Luft abschnüren würde. Vielleicht war es aber auch nur der Moment, der ihm den Atem raubte. Sein Blick fiel auf eine weiße, ebene Landschaft, nur von ein paar kleineren Erhebungen und Kratern durchbrochen. Der Boden sah aus wie von einer feinen Schicht Staub bedeckt, einladend wie ein weißer Sandstrand in der warmen Südsee. Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass weit und breit kein Meer zu sehen war und auch der nächste Cocktail Tausende Kilometer entfernt auf Jacks Rückkehr wartete. Vorsichtig setzte er seinen rechten Fuß auf die nächste Sprosse der Leiter. „Ich betrete jetzt die Oberfläche.“ Ein kurzes statisches Rauschen, dann ein Knacken. „Okay. Passt auf euch auf.“ Die Antwort von Ron, dem Piloten der Kommandokapsel.
Ein weiterer Schritt und Jack hatte die Enge der Landefähre endgültig verlassen. Ein seltsames Gefühl ergriff von seinem Körper Besitz. Atemlosigkeit. Oder nein, Ehrfurcht. Das war es. Er wollte etwas sagen, etwas Bedeutendes, Monumentales, das diesen Moment in seiner Brillanz für immer als einen der großen Momente der Menschheit festhalten würde, aber sein Kopf war wie leer gefegt. Es fehlten ihm schlicht und einfach die Worte, diesen Augenblick zu beschreiben. Er wandelte auf Gottes Spuren, Auge in Auge mit der Unendlichkeit der Schöpfung. Jedes Wort musste sich zwangsläufig in dieser Situation als unzureichend erweisen und würde augenblicklich vor der Vollkommenheit des Augenblicks verblassen.
Überwältigt ließ er seinen Blick schweifen. Sein Fußabdruck war deutlich im Mondstaub zu erkennen. Unauslöschlich. Auch späteren Generationen würde er als Beweis seiner Schritte auf dem Mond dienen. Ohne Atmosphäre verfügte der Mond über keine Witterung, die seine Spuren verwischen würde. Ein Monument für die Ewigkeit. Jack musste grinsen. So musste sich Unsterblichkeit anfühlen.
Er wagte nicht daran zu denken, dass er beinahe nie die Gelegenheit erhalten hätte, diesen Traum leibhaftig zu erleben. Ein Traum, den er bereits als kleiner Junge in sternenklaren Nächten geträumt hatte; in jenen aufregenden Stunden, als er, tief berührt durch die Lektüre von Jules Vernes, in seiner blühenden Phantasie der Realität Jahre zuvor kam.
Drei Jahre war es jetzt her, dass jemand anderes seinen Lebenstraum verwirklicht hatte. Die ersten Schritte eines Menschen auf dem Mond. Die Schritte von Neil Armstrong. Ein Name, bei dem in seinen Ohren immer eine Symphonie von Heldenmut und Freiheit mitschwang.
Inzwischen regierte der Rotstift und nicht mehr die Entdeckerlust der Menschheit die Raumfahrt. Die nächste Mondmission, seine Mission, war bereits aus Kostengründen gestrichen worden. Glücklicherweise hatten die Wissenschaftler der NASA darauf bestanden, dass zumindest ein Wissenschaftsastronaut an der vorerst letzten Mondlandung teilnehmen sollte. Und Jack hatte das unendliche Glück, auf Druck der Wissenschaftler dieser Mission zugeteilt zu werden. Eine Gelegenheit, die nur sehr wenigen Menschen in ihrem Leben zuteilwerden würde.
Eine funkverzerrte Stimme durchbrach seine Gedanken. „Wir sollten jetzt mit dem Aufbau beginnen.“ Jack drehte sich langsam um. Gene, sein Freund und Kommandant der Mission, war schon dabei, das Lunar Roving Vehicle aus der Verankerung zu lösen und wedelte fordernd mit seinen Handschuh bewehrten Händen. Jack seufzte und machte sich an die Arbeit.
Mit vereinten Kräften war das Mondauto etwa 20 Minuten später aufgebaut und einsatzbereit. Drei Tage würden Jack und Gene auf dem Mond Experimente durchführen und Gesteinsproben sammeln. Nicht viel Zeit, um den gesamten Mond zu erforschen. Das Gebiet war deswegen bereits vorab von mehreren Sonden kartographisch erfasst worden. Leider zeugte die Auflösung der Bilder nicht unbedingt von gleichbleibend guter Qualität; weder Jack noch Gene wussten, was sie auf dieser Mission erwarten würde. Ein Risiko, dem sich jeder Entdecker gegenüber sah. Aber war es nicht die Unsicherheit, die Unwissenheit, die den Nervenkitzel ausmachte? Wie auch immer, den ersten Tag würden sie dafür verwenden, die Geräte für ihre Experimente aufzubauen und erste Proben zu sammeln. Für Entdeckerromantik blieb später noch Zeit.
„Was meinst du, sollten wir eine erste Ausfahrt wagen?“, belehrte Gene ihn jedoch eines Besseren. Jack konnte Genes Gesicht hinter dem dunklen Visier kaum erkennen, aber er konnte sich das neckische Augenzwinkern lebhaft vorstellen. Er musste grinsen. „Du glaubst doch nicht, dass ich mir das entgehen lassen würde? Wie oft im Leben wird dir schließlich die Gelegenheit geboten, auf dem Mond Auto zu fahren?“
Schnell war das Auto allerdings nicht. 13 km/h war selbst mit viel Phantasie keine atemberaubende Geschwindigkeit, aber Jack genoss das unbeschreibliche Gefühl, das ihm beim Anblick des schwarzen Himmels überkam. Tausende Sterne erleuchteten ihren Weg, in einer Intensität, die er auf der Erde noch nie hatte beobachten können. Die Mondoberfläche selbst war nicht sonderlich aufregend, Mondstaub bis zum Horizont, in welche Richtung er auch blickte. Die Sonne illuminierte den Sand mit einer Kraft, die manchmal in den Augen schmerzte, obwohl das Visier den Strahlen bereits einen Teil ihrer Stärke nahm. Es kam Jack vor, als ob jedes einzelne Sandkorn, angesprochen durch die Intensität der Sonne, sich dem Heer der gleißenden Lichter anschloss, um seinerseits auf die Einzigartigkeit dieses Momentes hinzuweisen.
Gene nahm direkten Kurs auf den nächsten Krater. Jack würde diesen ersten Ausflug dazu nutzen, ein paar Bodenproben zu sammeln, um sie später genaueren Untersuchungen zu unterziehen. Sie hatten keine Zeit zu verschwenden. Ihre Anwesenheit auf dem Mond war zeitlich begrenzt. Letztendlich mussten sie die Zeit gut einteilen, um das millionenschwere Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Schließlich war das Hauptziel dieser Mondlandung nicht ihr Vergnügen, sondern vielmehr wissenschaftliche Experimente, die ihnen einen Eindruck über die Geschichte und den Ursprung des Erdtrabanten vermitteln sollten.
Es war wirklich unglaublich, wie leicht Jack das Laufen fiel, trotz des schweren Anzugs. Er machte ein paar übermütige Sprünge. Gene und das Mondauto waren ein kleines Stück zurückgeblieben. Jack lief zum Rande des Kraters. Hinter ihm breitete sich das Meer der Heiterkeit aus, ein großer Krater, der jetzt wahrscheinlich schon älter war, als die Menschheit es jemals werden würde.
Mit einem Seufzer, der aus dem tiefsten Inneren seiner Seele hervorzudringen schien, wollte Jack sich gerade umdrehen und zum Mondauto zurückkehren, als etwas seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Eine optische Täuschung? Jack war sich nicht sicher, aber irgendetwas hatte das stete Licht, das sich konstant über die Mondoberfläche ausbreitete, seltsam gebrochen. Langsam näherte er sich der Stelle und bückte sich. Doch es handelte sich wiederum um Sand, allerdings mit einer merkwürdig glasartigen Struktur. Vielleicht von Interesse. Jack zog einen seiner Probenbehälter aus der Halterung und verschloss ein paar Proben luftdicht für eine spätere Untersuchung.
„Hast du was entdeckt?“, fragte Gene über Funk. Doch Jack hörte nicht mehr hin. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick vom Rande des Kraters in die darunter liegende Tiefebene. In einem unendlich kurzen Augenblick verlor er sich völlig in dem Anblick, der sich ihm eröffnete. Wie erstarrt blieb er am Rande des Kraters stehen, unfähig sich zu rühren, oder einen weiteren klaren Gedanken zu fassen. Genes besorgte Stimme verlor sich in dem lauten Rauschen unzähliger Stimmen in seinem Verstand, die verzweifelt nach einer Erklärung für das suchten, was seine Augen zu sehen glaubten.
„Jack? Alles in Ordnung?“
„Jack?“
Es dauerte eine Weile, bis Gene unbeholfen bis zu ihm herangehüpft war.
„Hey, Kumpel, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Gene schwer atmend, als er Jack eine Hand auf die Schulter legte.
Statt zu antworten, deutete Jack wortlos den Abhang des Kraters hinunter. In diesem Moment erschien es ihm, als wären ihm sämtliche Worte abhandengekommen. Keine Sprache der Welt hätte ausgereicht, das zu beschreiben, was Jack in diesem Moment fühlte. Also blieb er einfach regungslos stehen und ließ den Anblick für sich selbst sprechen. Jack konnte über Funk hören, wie Gene scharf einatmete. „Was zum Teufel ist das?“, stammelte er. Seine Hand rutschte Jack von der Schulter und blieb kraftlos an seiner Seite hängen.
Sie standen lange nebeneinander, ohne ein Wort zu sagen. Zwei Männer, die sich verzweifelt bemühten, das Gesehene mit ihrem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen. Erst als über Funk zum wiederholten Male der Status angefordert wurde, räusperte sich Gene, in dem schwachen Versuch, sich selbst wieder zur Besinnung rufen. Seine Stimme klang verloren und schwach, als er leise flüsterte: „Leute, das werdet ihr nicht glauben!“