Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 4
2) Deutschland, München, 03. Juli 2007
ОглавлениеEin lautes Klingeln ließ Jan aus dem Schlaf hochschrecken. Instinktiv suchte seine Hand nach dem Wecker auf dem kleinen Nachtisch neben dem Bett. Erst nach einigen Sekunden und einigen vergeblichen Versuchen, das nervige Klingeln mit wiederholten Anschlägen auf den Wecker zu beenden, realisierte sein noch völlig übermüdetes Gehirn, dass das störende Geräusch von seinem Telefon stammte. Nur mühsam öffnete er ein verschlafenes Auge. 6:25 zeigte das blinkende Display seines Radioweckers. In fünf Minuten hätte er sowieso aufstehen müssen, aber jede einzelne Minute Schlaf war Jan so früh am Morgen heilig wie einem Gottesgläubigen der Gang zur Kirche.
Schlecht gelaunt und einige unverständliche Worte brummelnd, schlurfte Jan in Richtung Telefon. Bildete er sich das nur ein, oder hatte das Klingeln eine geradezu nervige Dringlichkeit angenommen?
„Ja?“, krächzte Jan unfreundlich in den Telefonhörer. Um diese Uhrzeit konnte er nicht den Ehrgeiz aufbringen, auch nur annäherungsweise wie ein zivilisiertes Lebewesen zu klingen.
„Professor Seibling!?“, parierte eine Jan unbekannte Stimme fragend. Nun ja, eigentlich ähnelte der Tonfall eher einer Feststellung als einer Frage.
„Wer spricht denn da?“, fragte Jan irritiert und unterdrückte nur mühsam ein Gähnen.
„Ich freue mich, Sie zu Hause anzutreffen“, fuhr die Stimme unbeirrt fort. „Wir haben einen Auftrag für Sie! Wir würden Sie gerne treffen, um Weiteres zu besprechen. In etwa einer Stunde wird Sie ein Fahrer abholen. Bitte halten Sie sich bereit.“
Eine kurze Pause, dann ergänzte die Stimme mit an Arroganz grenzender Selbstsicherheit: „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass das Telefon nicht das geeignete Medium ist, über mein Anliegen im Detail zu sprechen. Sie werden alles Notwendige von meinem Fahrer erfahren. Ich weiß, Sie kennen mich nicht, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie dieses Treffen nicht bereuen werden.“
Der Mann am Telefon wirkte nicht so, als würde er Einwände erwarten. Etwas verunsichert durch diese Haltung und immer noch etwas gereizt von der frühen Störung, wollte Jan zu einer unfreundlichen Erwiderung ansetzen, aber das Tuten in der Leitung deutete darauf hin, dass die unbekannte Person auf der anderen Seite bereits aufgelegt hatte. Ohne seine Antwort abzuwarten.
Perplex kratzte sich Jan am Kopf. Wenn der Unbekannte glaubte, er würde auf einen so billigen Scherz hereinfallen, dann hatte er nicht mit der frühmorgendlichen Pfiffigkeit von Dr. Jan Seibling gerechnet. An jedem anderen Tag hätte er es sich nicht nehmen lassen, mitzuspielen, aber heute hatte er partout keine Zeit für solche Sperenzchen. Bereits um neun Uhr hatte er die nächste Vorlesung. Als Professor wollte er seine Studenten nicht warten lassen. Immerhin erwartete Jan im Gegenzug auch von seinen Studenten Pünktlichkeit; was er sie in regelmäßigen Abständen auch spüren ließ. Er zuckte mit den Schultern, den Anruf hatte er in diesem Moment bereits vergessen.
So langsam setzte auch sein klarer Verstand ein und ließ die dunklen Träume der Nacht im neuen Licht des beginnenden Morgens erscheinen. Er hatte wieder von Alissa geträumt, wie so oft in den letzten Monaten. Ihr Gesicht verblasste bereits in den schummrigen Nebeln eines durch die Realität verdrängten Traumes; den bitteren Geschmack der Demütigung konnte er allerdings immer noch auf seiner Zunge schmecken. Der Traum war immer der Gleiche: Sie schien zu schweben, direkt vor ihm in der Luft. Er war unfähig, sie zu berühren oder einzuholen. Ihr Gesichtsausdruck verriet Mitleid und ihr Lächeln war spöttisch, als sie wie so viele Nächte zuvor die Worte sprach, die seine Welt zerrüttet hatten: „Es ist vorbei.“ Er rannte hinter ihr her, versuchte, sie in seinem Leben zu halten. Mit jedem Schritt spürte er, wie die Verzweiflung ihm die Kehle abschnürte, während ihre höhnischen Worte in seinen Ohren widerhallten und die Demütigung sein Herz vergiftete. Meistens wachte er auf, wenn ihr Bild am Horizont seines Traumes verschwamm und er erschöpft auf die Steine sank, die sein schlafender Verstand ihm in den Weg gelegt hatte.
Mit einem resignierten Kopfschütteln brachte Jan sich in die Wirklichkeit zurück und verdrängte die Verzweiflung der Nacht, erneut. Zum Glück hatte er seine Arbeit, die ihm gerade in der letzten Zeit viel Halt gegeben hatte. Seine Berufung zum Inhaber für den Lehrstuhl für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik war eine große Ehre, vor allem, weil Jan mit seinen 35 Jahren außergewöhnlich jung für einen solchen Titel war. Jan hatte sein Leben lang hart auf dieses Ziel hingearbeitet, und seine Hingabe an seinen Beruf war es auch, die ihm seine hervorragende Reputation eingebracht hatte. Zugegebenermaßen hatte er allerdings auch viel Freude daran, zu unterrichten und zu forschen, und seine Vorlesungen hielt er, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, immer noch selbst.
Mit der Hand an seinen Bartstoppeln und einem Seufzer auf den Lippen machte sich Jan auf den Weg ins Badezimmer.
Erst als es schellte, fiel ihm der Anruf wieder ein. Fassungslos starrte er in Richtung Eingangstür, als würde er allein durch pure Willensanstrengung jenen ungebetenen Gast, der impertinent auf der anderen Seite der Tür seine Klingel traktierte, zum Verschwinden bringen können. Aber das Klingeln schrillte hartnäckig in seinen Ohren und vernichtete jede Hoffnung darauf, die unerwünschte Störung ignorieren zu können.
Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die schwarze Flüssigkeit setzte Jan seinen dampfenden Kaffeebecher ab und schlurfte zur Tür. Auf seiner Fußmatte stand ein etwas untersetzter Mann im schwarzen Anzug, mit einer altertümlich wirkenden Chauffeurmütze auf dem Kopf. „Dr. Jan Seibling?“, fragte er ernst. Scheinbar die Standardfrage an diesem viel zu frühen Morgen. Jan verfluchte innerlich das unscheinbare „Willkommen“ auf dem Fußabtreter. Nichts war ihm in diesem Moment unwillkommener als dieser ungebetene Gast.
Der mutmaßliche Chauffeur musterte ihn kritisch, als würde er, trotz des Namensschildes über der Klingel, auf dem in deutlichen Großbuchstaben der Name SEIBLING eingraviert war, jemand anderes in der Wohnung vermuten. Jan zog die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu, um sie jederzeit wieder zuschlagen zu können, sollte ihm nicht gefallen, was der Unbekannte von sich gab, oder sich die kuriose Situation in eine bedrohliche verwandeln.
„Ich wurde geschickt, um Sie abzuholen. Wir sollten uns beeilen; wir werden bereits erwartet.“ Ein eindringlicher Blick begleitete diese Worte.
Jan schüttelte energisch den Kopf. „Sie glauben doch nicht, dass ich zu einer mir völlig fremden Personen ins Auto steige!? Wer sind Sie überhaupt? Und wer schickt Sie?“, konterte Jan aus der relativen Sicherheit seiner halb geöffneten Tür heraus.
Mit ernstem Blick vollführte der Fremde eine kurze Verbeugung. „Sie können mich Max nennen. Ich bin leider nicht autorisiert, Sie bereits jetzt über mehr als das Ziel unserer Reise in Kenntnis zu setzen. Alles, was ich Ihnen geben kann, ist dieser Brief.“ Mit diesen Worten zog er einen geschlossenen Umschlag aus der Innentasche seines Anzugs und überreichte ihn mit geradezu feierlicher Miene, als würde er Jan den großen Preis der Samstagabend-Lotterie überreichen.
Jan stutzte kurz, nahm den Brief aber an sich. Sah offiziell aus. Auf der rechten oberen Seite prangte statt einer Briefmarke der Deutsche Bundesadler, ebenso wie auf dem roten Siegel, das den Umschlag verschloss. Ein Siegel! Jan hatte noch nie irgendein Schriftstück in den Händen gehalten, das mit einem Siegel verschlossen worden war.
Inzwischen neugierig geworden, öffnete Jan das Schreiben mit einem misstrauischen Blick auf Max und überflog die wenigen Zeilen, die der Anrede folgten.
Wir bitten um Ihre Expertise und Mitarbeit in einer dringenden internationalen Angelegenheit. Wir möchten uns für die Art der Kontaktaufnahme entschuldigen, aber wir wurden sehr kurzfristig vom amerikanischen Außenministerium gebeten, an Sie heranzutreten. Die Situation ist sehr brisant und wir möchten Sie dazu anhalten, Stillschweigen über diesen Brief zu bewahren, sollten Sie sich gegen eine Zusammenarbeit entscheiden. Aus diesem Grund sind wir leider auch gezwungen, Ihnen nur die nötigsten Informationen zukommen zu lassen, solange wir uns Ihrer Mitarbeit nicht versichern können. Falls Sie sich jedoch dazu entschließen, sich unser Angebot anzuhören, wird der Überbringer dieser Nachricht Sie in die Außenstelle der amerikanischen Botschaft in München bringen. Dort werden Sie weitere Informationen erhalten.
Unterschrieben war die Nachricht vom deutschen Außenminister persönlich. Verunsichert blickte Jan auf und stellte überrascht fest, dass Max lächelte: „Ich hoffe, Sie haben bereits gepackt?“