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Vermeiden Sie es, Verhalten zu bestärken, das Ihnen nicht gefällt

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Ich habe vor kurzem einen Verstärkungsfehler bei meiner Nachbarin begangen. Es handelt sich um eine ältere Witwe, die mir gegenüber wohnt. Sie befindet sich in einem Lebensabschnitt, in dem es gefährlich sein kann, alleine zu leben. Wir sorgen uns um sie und geben ganz besonders auf ihr Wohlergehen acht, da sie im Falle eines Sturzes nicht mehr in der Lage wäre, aufzustehen. Vor zirka einem Jahr gewöhnte ich mir an, bei ihr vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen, wenn sie ihre Zeitung am späten Vormittag noch nicht hereingeholt hatte. Ich brachte ihr dann die Zeitung und blieb eine Weile bei ihr. Sie genoss meine Besuche sehr und äußerte sich öfters dahingehend, dass ich doch öfter kommen solle. Deshalb hätte es keine Überraschung für mich sein sollen, dass sie begann, im Haus zu bleiben und darauf zu warten, dass ich ihr die Zeitung bringen würde, anstatt diese selbst zu holen. Ich hatte ihr das anhand positiver Verstärkung beigebracht, aber dennoch wurde ich davon überrumpelt – weil ich selbst meine Handlungen nicht als verstärkend angesehen hatte. Ich wollte einfach nachbarschaftlich sein und nach ihr sehen – für den Fall, dass sie gestürzt wäre oder es ihr anderweitig zu schlecht ginge, um die Zeitung in der Früh selbst zu holen. Aber völlig unabhängig von meinen Absichten wurde sie positiv dafür bestärkt, im Haus zu bleiben und die Zeitung draußen liegen zu lassen. Das mag wie ein trivialer Fehler klingen, da es wirklich angenehm ist, Zeit mit meiner Nachbarin zu verbringen. Das echte Problem lag eher darin, dass ich unabsichtlich das Warnsystem zerstört hatte, das uns auf ein echtes Problem hätte hinweisen können. (Wenn sie ihre Zeitung nicht bis zehn Uhr am Vormittag hereingeholt hat, könnte das bedeuten, dass sie gestürzt ist oder aus einem anderen Grund dringend Hilfe benötigt. Dumm nur, dass ich ihr beigebracht hatte, die Zeitung liegen zu lassen.)

Selbst wenn Ihnen ein Verhalten nicht gefällt, besteht die Gefahr, dass Ihre Reaktion darauf verstärkend wirkt – egal, ob Sie das beabsichtigen oder nicht. Manchmal verstärken wir Dinge zufällig oder unabsichtlich, und das kann zu Problemen führen. Deshalb ist es besonders wichtig, sorgfältig abzuwägen, was wir verstärken.

In der Hundewelt ist die Gefahr, unerwünschtes Verhalten unabsichtlich zu verstärken, nur allzu gut bekannt. Eines der besten Beispiele dafür ist das Anspringen. Viele Leute wollen ihren Hunden beibringen, nicht an ihnen oder an Gästen hochzuspringen, aber sie haben ihre Hunde im Welpenalter unabsichtlich dafür bestärkt. Wenn junge Hunde am Bein hochspringen, kann das extrem süß und liebenswert wirken. Und natürlich sind Welpen auch noch nicht groß genug, um uns umzuwerfen oder ernsthaft zu schubsen. Deshalb streicheln und loben viele Leute ihre Hunde, wenn sie das machen: „Oh, was bist du für ein süßes kleines Ding! Du bist so niedlich, du Süße!“ Sie sprechen die ganze Zeit in Babysprache mit dem Hund, streicheln ihn, kraulen seine Ohren und vermitteln ihm allgemein das Gefühl, dass es gut war, am Menschen hochzuspringen und dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder geschehen sollte, da es doch so gut funktioniert hat. Selbst bei älteren Hunden wird das Anspringen oft durch eine für sie positive Reaktion bestärkt, was die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung erhöht. Dadurch wird die Reaktion auf das Anspringen quasi zur Definition einer positiven Verstärkung. Es ist besonders schwierig, eine positive Verstärkung für das Anspringen zu vermeiden, weil viele Hunde es machen, um unsere Aufmerksamkeit zu erhalten und in Kontakt mit uns zu treten. Und selbst die Aufmerksamkeit, die wir schenken, weil wir verärgert sind (wenn wir den Hund von uns loslösen und mit ihm schimpfen), ist Aufmerksamkeit und deshalb ein potenziell positiver Verstärker für den Hund – auch wenn sie nie als positive Reaktion gedacht war. Oder, einfacher ausgedrückt, in der Sprache vieler Eltern: „Negative Aufmerksamkeit ist auch Aufmerksamkeit!“

Ebenso müssen wir bei unseren Interaktionen mit Menschen aufpassen, was wir verstärken, da wir hier genauso oft unbewusst Fehler machen. In einem Fall brach sich der Bruder einer Freundin den Arm, weil er von der Veranda gestürzt war. Er bekam eine Eistüte, die wahrscheinlich als Trost und Belohnung für seine „Tapferkeit“ gedacht war. Leider sah er die Dinge etwas anders – für ihn stellte der Sturz von der Veranda und die sich daraus ergebende Verletzung eine Gelegenheit dar, Eis zu essen. Oje, Sie ahnen schon, wo das hinführt? Richtig, er stürzte sich kurz danach ein zweites Mal von der Veranda, mit der Absicht, sich auch noch den zweiten Arm zu brechen und wieder Eis zu bekommen. Er wurde unabsichtlich für seinen Sprung von der Veranda bestärkt, was das Verhalten wahrscheinlicher machte – in dem Fall sogar so wahrscheinlich, dass er die Aktion tatsächlich wiederholte und sich auch noch den anderen Arm brach.

Falls Sie nun denken, dass dies einfach ein Beispiel aus dem Leben eines ungewöhnlichen Kindes war, kann ich Ihnen versichern, dass dies nicht die einzige Person in meinem sozialen Umfeld ist, die eine Geschichte von einem Kind hat, das absichtlich eine schwere Verletzung riskierte, weil danach gute Dinge passierten. Eine andere Freundin erzählte mir, dass ihre Zwillingsschwester sich als Kind ihre Schneidezähne ausgeschlagen hatte, als sie auf dem Kaminsims balanciert war. Als meine Freundin sah, wieviel Aufmerksamkeit und Süßigkeiten ihre Schwester daraufhin bekam, versuchte sie absichtlich, dasselbe zu tun, indem sie auf leichtsinnige und riskante Weise auf den Kaminsteinen balancierte – dort, wo der Unfall ihrer Schwester passiert war. Glücklicherweise tat sie sich dabei nicht weh, aber man kann nicht behaupten, dass sie es nicht versucht hätte.

Unabsichtliche Verstärkung kann auch zu viel geringeren Problemen führen, wobei manche davon offensichtliche Fallstricke sind, während uns andere überraschen. Zum Beispiel ist den meisten Leuten klar, dass es keine Dauerlösung ist, den Kindern zur Ruhigstellung Süßigkeiten zu geben, wenn sie während eines Telefonats im Hintergrund Lärm machen. Und es ist wirklich keine gute Idee. Warum? Es ist deshalb unklug, weil Sie die Kinder auf die Weise dafür bestärken, Lärm zu machen, während Sie telefonieren. Wenn Sie aber das Gegenteil erreichen wollen – also, dass die Kinder in dieser Situation still sind – dann ist es kontraproduktiv, ihnen Süßigkeiten zu geben, wenn sie laut sind. Es ist sehr viel wirksamer, sie dabei zu erwischen, wie sie das machen, was Sie wollen und sie erst dann zu bestärken – also, wenn sie während eines Telefonats still sind. Der Unterschied für ihr zukünftiges Verhalten ist in dem Fall das genaue Gegenteil: Im ersten Szenario wurden die Kinder dafür bestärkt, laut zu sein (ob nun mit Absicht oder nicht), während sie im zweiten Szenario dafür bestärkt wurden, leise zu sein.

Ich bin froh, berichten zu können, dass mir bewusst war, was ich mache. Ich habe Verstärker passend eingesetzt, um meinen Kindern während meinen Telefonaten das gewünschte Verhalten beizubringen – anstatt wie im Falle meiner Nachbarin das falsche Verhalten unabsichtlich zu bestärken.

Unabsichtliche Verstärkung kann aber auch ein ernsthaftes Problem darstellen, wie das Beispiel von Stalking-Fällen zeigt. Wenn Stalker ihre Opfer verfolgen, rufen sie manchmal an und bitten beispielsweise ihre Ex-Freundin oder ihren Ex-Freund, sich mit ihnen zu treffen oder sie anzurufen. Wenn das Opfer dann zurückruft, wirkt das auf den Stalker verstärkend. Deshalb wäre die richtige Reaktion, nicht zu reagieren. Trotzdem haben viele Leute irgendwann genug und rufen zurück, nachdem der Stalker zwanzig-, dreißig- oder fünfzigmal angerufen hat. Das einzige, was Stalker dadurch lernen, ist dass sie erst bestärkt werden, wenn sie zwanzig-, dreißig- oder fünfzigmal – oder manchmal noch häufiger – angerufen haben. Sie werden für ihre Hartnäckigkeit bestärkt, was nicht gut ist, wenn das Verhalten eigentlich in die entgegengesetzte Richtung verstärkt werden soll – sie sollen aufgeben und ihr Opfer in Ruhe lassen. Wenn Hartnäckigkeit bereits verstärkt wurde, ist es sehr schwierig, dies zu ändern und den Stalkern beizubringen, dass sie keine Reaktion mehr erhalten werden. Sie glauben einfach, sie müssten nur unzählige Male anrufen – vielleicht sogar öfter als das letzte Mal! – um zu bekommen, was sie wollen, nämlich einen Rückruf. Es ist viel besser, niemals zurückzurufen, damit ein Stalker nicht unbeabsichtigt lernt, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt.

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