Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 102

Ausblendung, thanatalistische

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Eltern, die den Existenzbeginn eines Kindes bewirken, bei dem medizinisch indiziert ist, dass es unverbrüchlich nach 7 Wochen, 8 Monaten oder 9 Jahren sterben muss, werden als gewissenlos gescholten. Hingegen werden Eltern, die so handeln, dass ein Mensch zu existieren beginnt, von dem biologisch gewiss ist, dass er nach 70, 80 oder 90 Jahren sterben wird, beglückwünscht. Aber auch der 80-Jährige ist das Kind bestimmter Eltern. Seine Krankheiten und sein Sterben mögen sogar qualvoller sein als das der Kinder, die nach wenigen Wochen, Monaten oder Jahren verscheiden und von denen es heißt, man hätte sie gar nicht erst zeugen dürfen. Warum bleibt den Eltern dieser alt gewordenen Kinder jeder Vorwurf erspart? Meint man etwa, der 80-Jährige hätte Krankheiten und Sterben verdient, weil ihm im Leben doch auch viel Gutes widerfuhr? Geschieht es ihm also nur recht, wenn er jetzt „büßt“?

Vom 54-Jährigen, den ein Herzschlag ereilt, bis zur 90-Jährigen, die von einem Auto „erfasst“ wird, weil es ihr nicht gelingt, die Straße rechtzeitig zu überqueren: Auch diese Personen sind nicht einfach nur namenlose Ältere oder Greise. Sie bleiben zeitlebens die Kinder bestimmter Eltern. Beim Dahinscheiden 5- oder 9-jähriger Kinder hat man diese Eltern vor Augen, beim Tod älterer oder alter Personen hingegen nicht. Dabei sind es jedes Mal Eltern, die ihre Kinder zum Sterben verurteilt haben. Dies trifft für den 5-Jährigen, von dem aufgrund einer genetischen Disposition gewiss ist, dass er kaum älter werden wird, ebenso zu wie für den 90-Jährigen, von dem aufgrund der allgemeinmenschlichen biologischen Disposition gewiss ist, dass er kaum noch älter werden wird.

Dass beim Tod älterer Menschen die Eltern thanatalistisch ausgeblendet bleiben, liegt naturgemäß wesentlich daran, dass sie nicht mehr am Leben sind. Ihr eigenes Dahinscheiden sei es durch Unfälle, Krankheiten oder biologische Grenzen hat sie scheinbar der Verantwortung für den Tod ihrer Kinder entzogen: Ältere Menschen haben keine Eltern mehr, die das Sterben dieser ihrer Kinder miterleben müssten. Dies führt uns zu einem Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, medizinischer Fortschritt habe allen Menschen eine Lebensspanne zwischen 100 und 200 Jahren beschert, in die sie in der geistigen und körperlichen Verfassung eines heutigen munteren 70-Jährigen verbleiben. – Wobei es jedoch so sei, dass vollkommen unvorhersehbar ist, wann eine Person in dem medizinisch erschlossenen Lebensraum zwischen 100 und 200 Lebensjahren stirbt und wann geistiger oder Körperlicher Verfall einsetzt. Eine Konsequenz dessen wäre, dass zahllose alte Eltern Krankheit und Sterben ihrer gleichfalls alten Kinder miterleben müssten. Millionen frische 170-Jährige würden relativ beschwerdefrei leben, während ihre 140-jährigen Kinder bereits dahinsiechen.

Während Eltern heute davon ausgehen dürfen, das Ende der eigenen Kinder nicht miterleben zu müssen, eröffnet dieses Gedankenexperiment eine Lage, in der kein Elternteil mehr sicher sein dürfte, den Tod eigner Kinder nicht doch mit ansehen zu müssen. Hätte dies Auswirkungen auf das generative Verhalten der Menschen? Ziehen wir eine Analogie herbei: Ein Argument für den Vegetarismus lautet, dass vielleicht die meisten Menschen ihren Fleischkonsum aufgeben würden, wenn sie die Tiere, deren Fleisch sie verspeisen möchten, eigenhändig töten müssten oder dem Tötungsvorgang der Tiere in der Großschlachterei auch nur beizuwohnen hätten. Griffe im Falle der Fortzeugung ein ähnlicher Mechanismus? Würden Menschen ihre progenerativen Entscheidungen revidieren, wenn sie mit erheblicher Wahrscheinlichkeit den Tod ihrer Kinder miterleben müssten?

In der Welt in der wir leben, greift offenbar ein Prinzip, welches wir die thanatalistische Ausblendung nennen können. Von ihrer natürlichen Sterblichkeit getragen, entziehen Eltern sich ohne Zutun dem, was ihnen vielleicht derart unerträglich wäre, dass sie es gar nicht erst bewirken würden, wenn wahrscheinlich wäre, dass sie es miterleben müssten: dem Hinfälligwerden und Sterben ihrer eigenen Kinder.

Antinatalismus

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