Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 109
ОглавлениеAxiopath (in Anlehnung an Axiologie: Wertlehre)
Ein Psychopath ist jemand mit abnormer Gefühlswelt. Ein Axiopath ist eine Person, die auf dem Dasein, der Durchsetzung oder Verwirklichung von Werten – gegen die Denkmöglichkeit des Verebbens der Menschheit – auch dann beharrt, wenn dies mit hohen Menschenleidenskosten verbunden ist. Im schlimmsten Fall ist der Axiopath von der Werthaftigkeit der Durchsetzung von Werten auch dann überzeugt, wenn die Durchsetzung der Werte mit so großen Unwerten (Kosten) verbunden ist, dass fraglich wird, ob von den Werten überhaupt etwas bleibt.
Axiopathologie
Ungeschriebene Geschichte des denkerischen Bemühens um den Erhalt oder die Durchsetzung von Werten unter Ausblendung der horrenden Leidenskosten, die mit der Wertdurchsetzung einhergehen.
Axiopathologisch
Alles, was Werte (explizit oder implizit) zu hohen Menschenleidenskosten preist oder fordert.
Schelling (1775–1854)
Schelling ist Axiopath, wo er Gott zu rechtfertigen sucht, obwohl dieser doch von Anfang an gewusst haben musste, dass er mit dem Guten auch dem Bösen Raum und Zeit gibt. Laut Schelling dürfen wir nicht sagen, Gott selbst habe das Böse gewollt, da der Wille zur Schöpfung „unmittelbar nur ein Wille zur Geburt des Lichtes, und damit des Guten“ gewesen sei. Das Böse hingegen sei weder Mittel, noch Bedingung zum Erreichen der größten Vollkommenheit im Leibnizschen Sinne gewesen; es sei weder Ergebnis eines göttlichen Ratschlusses, noch einer göttlichen Erlaubnis. Folglich ergibt sich das Böse bloß „begleitungsweise aus der Selbstoffenbarung“ und wir hätten aufs Ganze zu gehen und Gott zu fragen, warum er es „nicht vorgezogen habe, sich überhaupt nicht zu offenbaren…“ Diese Frage verdient nun aber laut Schelling „in der Tat keine Erwiderung. Denn dies hieße ebensoviel als, damit kein Gegensatz der Liebe sein könne, soll die Liebe selbst nicht sein, d.h. das absolut Positive soll dem, was nur eine Existenz als Gegensatz hat, das Ewige dem bloss Zeitlichen geopfert werden.“ (Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 94)
Als Axiopath bevorzugt Schelling eine Welt mit dem Wert der Liebe und den Unwerten von Hass und Schmerz dem Nichtvorhandensein einer Welt. Hierin mag er Kleindemiurgen zum Vorbild dienen, die von in Liebe gezeugten Kindern reden{22}, von denen sie – gottähnlich – im Voraus wissen, dass sie neben allem Positiven viel Negatives erfahren und elend altern und sterben werden.
Nicolai Hartmann (1882–1950)
Hartmann unternimmt einen heroischen Versuch, uns Menschen – Spätlinge der Welt – in sinnloser Welt heimisch zu machen: Die Sinnlosigkeit der Welt ist für Hartmann solange unproblematisch, wie sie nicht sinnwidrig ist. Und ist die Welt nicht sinnwidrig, so ist uns Menschen Tür und Tor für Sinngebung geöffnet. Hätte die Welt schon Sinn, wäre sie bereits sinngesättigt und voller außermenschlicher Zwecke, so gäbe es für uns Menschen nichts mehr zu tun. Seien wir also dankbar, in sinnloser Welt existieren zu dürfen, so Hartmanns Credo.
Als Orientierungspunkt für die von uns im realen Sein zu leistende Sinngebung veranschlagt Hartmann eine Wertsphäre, der er wie Platon ideales Sein zuschreibt. Um realisiert zu werden, seien diese Werte auf den Menschen als Mittler angewiesen. Menschheitliches Seinsollen besteht für Hartmann also darin, dass Menschen als Transmissionsriemen für Wertverwirklichung erforderlich sind, wobei allein Menschen in der Lage seien, den Ruf der idealen Sphäre der Werte zu vernehmen, die aber doch zugleich völlig gleichgültig gegen ihre Verwirklichung seien (vgl. N. Hartmann, Sinngebung und Sinnerfüllung)
Hans Jonas (1901–1991)
Als Axiopath par excellence gesteht Hans Jonas zwar unumwunden zu, dass auch nach seinem Dafürhalten die Summe des Leids in der Welt die des Glücks übersteigt, doch erkennt er im Dasein von Lebewesen einen Wert, der alles Leid kompensiere und für dessen Realisierung sich die Leidensgeschichte lohne: „Was wäre, wenn die Summe der Leiden im Reich des Lebens die Summe der Freuden immer überstiege? Wenn, insbesondere in der Menschenwelt, die Summe des Elends soviel größer wäre als die des Glücks, wie die Kunde der Jahrtausende nahezulegen scheint? Ich bin geneigt, in diesem Punkte dem Urteil der Pessimisten beizupflichten... Aber wäre das ein gültiger Grund, den Wert von Bewusstheit zu verneinen und zu sagen, es wäre besser, wenn sie nie in die Welt gekommen wäre?“ (Philosophische Untersuchungen, S. 92) Jonas nimmt alles erdenkliche Leid in Kauf nimmt, um sicherzustellen, dass auch künftig Werte in der Welt sind. Ähnlich wie bei Nicolai Hartmann – wenngleich ohne prominente ideale Wertsphäre – fungieren in seiner Weltsicht das Dasein und die Fortexistenz von Menschen gleichsam als Transmissionsriemen für das Dasein von Werten in der Welt. Allein schon das Heer derjenigen, die da sagen, sie wären lieber nicht geboren, widerspricht dieser axiopathologischen Weltanschauung.