Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 103
Auschwitzlosigkeit per Selbstlosigkeit
ОглавлениеHäufig ist der Wunsch nach einem ganz anderen Geschichtsverlauf zu hören: nach anderen historischen Antezedenzbedingungen, einer grundlegend anderen geschichtlichen Weichenstellung, vor deren Hintergrund Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Wer allerdings aufruft: „Ach wäre es doch nie zu Auschwitz gekommen!“, ist sich nicht unbedingt darüber im Klaren, dass er mit diesem Ausruf seine eigene Existenz metaphysisch aufs Spiel setzt. Denn wäre der Lauf der Dinge vor Auschwitz dermaßen anders gewesen, dass es nicht zu den deutschen Vernichtungslagern gekommen wäre, so hätten vermutlich derart viele Dinge so grundsätzlich anders verlaufen müssen, dass wir selbst heute nicht existieren würden. Unter ganz anderen Voraussetzungen hätten unsere Eltern sich wahrscheinlich nicht kennengelernt; und wenn doch, so hätten sie nicht uns, sondern bei anderer Gelegenheit den Existenzbeginn anderer Kinder bewirkt.
Folglich stellt sich die Frage: Sind wir bei unserem Wunsch nach Auschwitzlosigkeit so aufrichtig, dass wir bereit sind, einem anderen Lauf der Geschichte – sagen wir infolge eines alliierten Präventivkriegs gegen Hitler im Jahr 1938 – auch dann zuzustimmen, nachdem uns klar geworden ist, dass wir diesenfalls vermutlich niemals existiert hätten?
Vermutlich nähme jeder das eigene Niegewesensein in Kauf, wenn es bei einem entsprechenden Geschichtsverlauf nicht zu Auschwitz oder einer anderen Großkatastrophe gekommen wäre. Im Anschluss hieran stellt sich allerdings die Frage: Wie groß muss eine Katastrophe, muss menschliches Leid sein, damit wir bereit sind, zu ihrer Verhinderung einen Geschichtsverlauf zu bevorzugen, der unser Niegewesensein beinhaltet? Wären wir schon dann bereit, unser Dasein symbolisch zurückzunehmen, wenn hierdurch ein Geschichtsverlauf möglich gewesen wäre, in dem der unbekannte Nachbar nicht unter die Räder eines Autos geraten wäre?
Nun fragt sich: Wenn wir selbst bereit sind, zugunsten anderer Geschichtsverläufe symbolisch auf die eigene Existenz zu verzichten, um auch kleinere Übel als Auschwitz zu verhindern: können und sollten wir dann nicht unterstellen – oder gar verlangen –, dass auch andere Personen zur Abwehr kleinerer Übel symbolisch auf die eigene Existenz verzichten? Und liegt somit nicht in letzter Instanz der Schluss nahe, dass zur Unterbindung jeglicher Übel am besten gar keine Menschen gewesen wären und folglich am besten keine neuen hervorzubringen sind, von denen zahlreiche entsetzlich leiden müssten?
Grenzwert, neganthropischer, Smilansky, Symbolischer Suizid