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Crawford, Jim

US-amerikanischer Antinatalist, Autor des Buches „Confessions of an antinatalist”

Daseinsapfel

Wir tun gut daran, so Crawford, keine neuen Menschen zu zeugen, weil die Existenz eines jeden von uns dem vergleichbar sei, was wir den Daseinsapfel nennen können. Zwecks Erhellung unserer Existenz zieht Crawford einen Apfel mit einer kleinen dunklen Stelle herbei und fragt: Ist dieser Apfel schlecht? Die Meisten würden dies verneinen, die schlechte Stelle wegschneiden und den Apfel verspeisen. Was aber, wenn die schlechte Stelle größer ist und sich gar über die Hälfte der Frucht erstreckt? Immer noch scheint ein halber schmackhafter Apfel annehmbar gut und köstlicher als gar keiner. Bei alledem, so Crawford, unterstellen wir, dass die schlechten Stellen nur in einer Apfelhälfte vorkommen. So ist es aber längst nicht immer. Nehmen wir an, die schlechten Stellen, die 50% des gesamten Apfels ausmachen, durchziehen das gesamte Fruchtfleisch. Rechnerisch gesehen wäre damit immer noch der halbe Apfel genießbar. Leider nur ist es in diesem Fall technisch unmöglich, die unverdorbenen Stellen von den ungenießbaren zu trennen. Man könne die schadhaften Prozente herunterhandeln wie man wolle, so Crawford, in letzter Instanz halten wir einen ungenießbaren Apfel in der Hand. – Ebenso ungenießbar, wie die Existenz eines jeden von uns unannehmbar sei.

Mit seinem Apfelbeispiel bringt Crawford einen überaus wichtigen Aspekt zur Sprache: Selbst ein viele Glücksmomente aufweisendes Leben sei in letzter Instanz doch unannehmbar, weil räumlich und zeitlich neben den guten Stellen immer auch die schlechten in unser Dasein eingeflochten sind und sich als Sorge melden, kaum dass wir einmal glücklich abschalten konnten. Entsorgung vom Dasein ist nur denkbar als Entsorgung des Daseins. Auf seine Weise hat sich Crawford aus dem beschädigten Leben herausreflektiert.

Ein besonders lesenswerter Abschnitt dieser Bekenntnisse eines Antinatalisten ist der mit „Fragen und Antworten“ überschriebene Teil gegen Ende des Buches. Hier geht Crawford metaphysisch mit sich ins Gericht und wirft die Frage auf, ob er mit seinem Plädoyer für natale Enthaltsamkeit wohl Unrecht haben könnte. Ist denkbar, so fragt er, dass es über dem Wirken der blinden Fügungen biologischer Evolution etwas geben könnte, in Anbetracht dessen sich die Gründung menschlicher Existenzen rechtfertigen ließe? Gott? Das Tao? Punkt Omega? Selbst wenn eine metaphysische Instanz über oder neben dem blinden Geschehen der biologischen Evolution Bestand haben sollte – wer bürgt dafür, dass diese Instanz nicht bösartig ist? Im Hinblick auf den Gedanken an Fortpflanzung sei jede Un-Tat, jede Unterlassung, das heißt: jede vereitelte Fortpflanzung ein Gewinn auf Seiten des philanthropischen Antinatalismus. Bricht eine Gruppe Schlittschuhläufer ins Eis ein und gelingt es mir aber nur, einen oder zwei zu retten, so habe ich als Philanthrop doch schon etwas erreicht, oder nicht?, fragt Crawford seine Leser.

Crawfords Vergleich unserer Conditio in/humana mit einem Apfel, dessen Fruchtfleisch mit so vielen schlechten Stellen durchsetzt ist, dass man sie nicht alle herausschneiden kann, ohne den gesamten Apfel zu zerstören, wurde in gewisser Weise vom Barockdichter Andreas Gryphius (Licht der Welt, Sterbensdiktat) vorweggenommen und findet sich – christlich ummantelt – in Kerners Gedicht „Bittre des Erdballs“:

Gryphius (1616–1664)

„Der Welt Wollust ist nimer ohne Schmertzen.

Kein Frewd ist ohne Schmertz/ Kein Wollust ohne Klagen/

Kein Stand/ kein Ort/ kein Mensch/ ist seines Creutzes frey/

Wo schöne Rosen blühn/ stehn scharffe Dorn darbey.

Wer aussen lacht/ hat offt im Hertzen tausend Plagen/

Wer hoch in Ehren sitzt/ muß hohe Sorgen tragen/

Wer ist der Reichthumb acht/ vnd loß von Kummer sey?

Wer auch kein Kummer hat/ fühlt doch/ wie mancherley

Trawr Würmlin seine Seel vnnd matte Sinn durchnagen.

Ich sag es offenbahr/ so lang der Sonnen-Liecht

Vom Himel hat bestralt/ mein bleiches Angesicht/

Ist mir noch nie ein Tag/ der gantz ohn Angst/ bescheret!

O Welt du Thränen Thal! recht Seelig wird geschätzt/

Der/ eh Er einen Fuß hin auff die Erden setzt/

Bald auß der Mutter Schoß ins Himmels Lusthauß fähret!“ (Gryphius, GA, Bd. 1, S. 8f.)

Justinus Kerner (1786–1862)

„Bittre des Erdballs

Wollest Süßes nicht erwarten / Von dem Balle dieser Welt, / Wie vom Apfel, den im Garten / Dir der Baum entgegenhält.

Würdest, ach! zu sehr erschrecken, / Suchtest du hier Süßigkeit! / Lerne Bittres, Bittres schmecken! / Solches der Erdapfel beut.

Hülle dich nur in den Mantel / Und bedenke drin, mein Christ! / Wie der Ball kein Zuckerkandel, / Sondern ein Gallapfel ist.“ (Kerner, Die lyrischen Gedichte. Werke, Bd. 1, S. 190)

Kerners Gedicht ist ein larvierter Aufruf zu nataler Enthaltsamkeit. In seiner Darstellung lockt das Erdendasein einen imaginären präexistentiellen Menschen, dem poetisch davon abgeraten wird, in den sauren Apfel des Daseins zu beißen. Nach Abzug religiöser Bestandsstücke (Religionssubtraktion) erhalten wir einen Aufruf, davon abzusehen, die Existenz weiterer Menschen zu initiieren.

Antinatalismus

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