Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 175
ОглавлениеDaseinsdeprivation
„Unentstanden hätte ich an Daseinsentbehrung gelitten!“ Diesem in Neuzeit und Moderne wirksamen Mythologem und pronatalistischen Theorem zufolge führt eine Entscheidung zur Nichtzeugung dazu, dass einem „möglichen“, präkonzeptiven oder als Proto-Ich gedachten Menschen die Freuden des Daseins vorenthalten werden. Ein Respondent unseres Fragebogens antwortete, unentstanden wäre er niemals in den Genuss gekommen, Beaudelaire zu lesen.
Das Konzept der Daseinsdeprivation konstituiert Elterndank, weil Eltern als diejenigen vorgestellt werden, die die Daseinsdeprivation ihrer Kinder beendeten, indem sie sie auf dem Wege der Zeugung zur Welt kommen ließen.
Der Gedanke der Daseinsdeprivation kommt auch dort zum Tragen, wo es heißt, einer Person sei das Leben oder seien Jahre ihres Lebens geraubt worden. Pirscht sich jemand an mich heran und schießt mir eine Kugel durch den Kopf, so höre ich für immer auf zu existieren. Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass mir mein Leben oder die verbleibenden Lebensjahrzehnte geraubt wurden. Denn ich, dem etwas hätte geraubt werden können, hörte mit dem Pistolenschuss zu existieren auf. Indem man mich erschoss, nahm man also nicht mir das Leben, sondern man nahm mich aus der nun ohne mich fortbestehenden Welt. Ich, ein Lebewesen, wurde aus der Welt entfernt, nicht: mir wurde das Leben genommen. Symmetrisch verhält es sich mit dem Existenzbeginn. Als ich zu existieren begann, schenkte man nicht mir das Leben, sondern ich kam zur Welt hinzu, die zuvor ohne mich bestanden hatte.
Infinitesimale Ichhaftigkeit, Präexistenz, Proto-Ich, Schatten der eigenen Existenz
Smart, R. N.
Vom Deprivationsargument macht etwa Gebrauch, wer meint, ihm oder anderen wäre etwas entgangen, hätte er nicht zu existieren begonnen. Ein Philosoph, der die Deprivationsthese vertritt, ist R. N. Smart in seinem Beitrag „Negative Utilitarianism“: „... conscious existence is so remarkable in itself that it is wrong to deprive the unborn of the right to ‚drink in daylight’ (to use a colourful South Sea Pidgin expression). But the metaphysics of this feeling are odd.“ (Zit. nach Akerma 2000, 227) Die von Smart beanspruchte Metaphysik ist nicht bloß „seltsam“, sie ist unhaltbar, wenn sie eine Existenz vor der Existenz unterstellt.
Lehmann, Wilhelm (1882–1968)
Der Schriftsteller Wilhelm Lehmann bedient sich des Deprivationsarguments in seinem Gedicht „Ein Lachen“:
„Ein Lachen
[...] / Wäre ich besser nicht geboren? / Doch dann hätte ich verloren Blau, / das ein Augusttag blaut, / Weiche Luft wie Pfirsichhaut, / Von der Ahnung hingerissen / Zu den Göttern, den Gewissen: / Nicht gehört mit Telemach Athene sprechen / Möwe auf der Reling sitzend, / Wie den Übermut der Freier brechen, / Schwalbe durch die Halle flitzend.“ (Lehmann, GW Band 1, Sämtliche Gedichte, S. 325)