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Anthropodizee

Die Frage nach einer Anthropodizee ist die Frage nach einer Rechtfertigung vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Leids in Anbetracht des Umstands, dass es keine Menschen geben muss, insoweit jeder Einzelne prinzipiell auf Nachkommen verzichten kann.

Scheinbar erfolgreich entledigte sich die moderne Forma mentis mit Gott zugleich der Frage, wie das Leid in der Welt zu rechtfertigen sei. Arbeitete das vormoderne Nachdenken der Welt sich an der Frage ab, warum der gute, allmächtige, somit zukunftsmächtige und daher alles vorauswissende Schöpfer der Welt derart viel Leid zuließ, so legen neuzeitliche Naturwissenschaft und modernes Denken in letzter Instanz nahe: Es gibt gar keinen Gott. Gott wurde Zug um Zug aus der Welt herausgeforscht, in den Urknall zurückgedrängt und aus ihr herausreflektiert.

Ohne Gott bedurfte man keiner Theodizee mehr; das heißt: Es erübrigte sich, der Frage nachzugehen, warum Gott alles Leid zugelassen hatte und ob er – wenn eine Welt nur so zu haben war – die Erschaffung von Welt und Mensch nicht besser unterlassen hätte.

Allerdings befreite sich die Moderne von dem Verlangen nach einer Theodizee ohne Einsicht darein, dass sie sich im gleichen das Problem einer zu leistenden Anthropodizee auflud: der Frage, wie es in Ansehung von so viel gewesenem, aktuellem und zu erwartendem Leid in Geschichte, Gegenwart und Zukunft zu rechtfertigen ist, dass Menschen neue Menschen zeugen.

Vormodernes Welträtsel:

Wenn der allmächtige Schöpfer der Welt gut und allmächtig ist, warum ließ er dann zu, dass Menschen in ihr leiden müssen? Warum gestaltete er die Welt nicht von Grund auf anders oder nahm von der Erschaffung von Welt und Mensch gänzlich Abstand?

Moderne Scheinaufhebung des vormodernen Welträtsels:

Da es keinen allmächtigen, guten Weltschöpfer gibt, erübrigt sich die Frage nach einer Theodizee.

Moderne Selbstbelastung:

Trifft zu, dass Menschen nicht durchgängig bionom und sozionom handeln, sondern frei entscheiden können, warum schreiben sie dann mit jeder Fortpflanzung die bisherige Geschichte fort und ermöglichen immer neues Leid und Elend? Mag sich die Frage nach einer Theodizee erübrigen – weil Gott nicht existiert oder nicht länger an ihn geglaubt wird –, so stellt sich die Frage nach einer Anthropodizee umso dringlicher, insofern Menschen – als Kleindemiurgen (Eltern Eltern als Kleindemiurgen) – die Wahl haben, keine neuen Menschen zu zeugen.

Die moderne Forma mentis ging voreilig davon aus, mit der Tilgung Gottes aus dem vormodernen Welträtsel verschwände dieses Welträtsel selbst. Wie nachstehend am durchstrichenen Text zu sehen, ist dies ein verhängnisvoller Irrtum. Der aus dem Kosmos scheidende Gott hinterlässt die Frage:

„Warum gibt es menschliches Leid in der Welt, wenn der allmächtige Schöpfer der Welt gut ist? Wobei der durchstrichene Relativsatz modern lauten muss: „..., wenn es jedem Menschen freisteht, sich nicht fortzupflanzen?“ Die Moderne ist das Zeitalter, in dem Menschen die Freiheit zufällt, die Menschheit zu wählen oder abzuwählen, die bisherige Geschichte zu bejahen und fortsetzen oder sie beenden zu wollen.

Wie Odo Marquard verschiedentlich humoristisch dargelegt hat{12}, geht die Frage nach einer Anthropodizee folgendermaßen aus der älteren Theodizeeproblematik hervor: Indem er im Laufe der Neuzeit schlichtweg zu existieren aufhört, verliert Gott die Schuld an den Übeln der Welt. Marquard spricht von „Unschuld wegen Nichtexistenz“. Keineswegs ist es jedoch so, dass Gott die Übel der Welt mit in seinen Untergang gerissen hätte. Gott ist aus der Welt, aber die Übel verbleiben in Ihr. Statt Gott, sieht sich jetzt sein Stellvertreter – der Mensch – mit ihnen belastet, und zwar, wie Marquard befindet, auf gnadenlose und unlebbare Weise. Was Unlebbarkeit{13} in letzter Instanz bedeutet, mochte Marquard freilich nicht konkretisieren: dass nämlich in Ermangelung einer Anthropodizee keine weiteren Menschen dem unlebbaren Leben ausgesetzt werden dürfen.

Nach der Abdankung Gottes und Selbstermächtigung des Menschen im Zuge der Aufklärung ist die Anthropodizee philosophisch zur Fahndung ausgeschrieben. Solange keine Anthropodizee vorliegt, steht der Mensch moralisch ebenso erbärmlich und anklagbar da wie zuvor der allmächtige und allwissende Weltenschöpfer ohne Theodizee, die ohnedies von jeher immer nur ein Ausweichmanöver vor menschlicher Verantwortung für die fortgesetzte Ermöglichung von Leid und Bösem war (Theodizee als larvierte Anthropodizee).

Zwar lassen sich Denker anführen, die die Ablösung der Theodizeepflicht durch unsere Anthropodizeepflichtigkeit registrieren. Kaum einer führt jedoch aus, was dies in letzter Instanz bedeutet. Dies erhellt etwa aus Hubert Hausemers Reflexionen zum Problem des Übels:

„So wie für einen Gottgläubigen sich das Theodizeeproblem stellt, so hat ein Humanist, also einer, der an den Menschen glaubt, sich mit dem Anthropodizeeproblem zu befassen: Wie kann man, angesichts des von Menschen immer wieder verübten Übels, noch an den Menschen glauben und ihm vertrauen? (...) Die eigentliche Tragik der condition humaine liegt darin, dass selbst die bestgesinnten Menschen, zwar ungewollt aber nicht minder real, immer wieder Übel verursachen. Gute Absichten schützen nicht vor dem Bösen. (...) / Wer also weiterhin an den oder die Menschen glaubt, sie für im Grunde gute, wertvolle oder zumindest verbesserungsfähige Wesen hält, und sich deshalb für sie einsetzt... der muss diesen seinen Glauben und seinen Einsatz rechtfertigen. Und das kann er nur, wenn er nachweist, dass der Mensch in der Tat vertrauens- und glaubwürdig ist. Das aber ist in Anbetracht der blutigen Menschheitsgeschichte gewiss keine leichte Sache.“ (Hubert Hausemer, Das Problem des Übels, S. 32f).

Hiermit hat Hausemer zwar eine bündige Begriffsbestimmung der Anthropodizee vorgelegt. Und doch hinterlässt auch er die Frage, worauf es hinausläuft, wenn jemand nicht mehr „an den oder die Menschen glaubt“? Wohin bewegen sich Denken oder Handeln dann? Ganz offenbar folgt aus der von Hausemer geleisteten Bestimmung zwanglos der Rekurs auf einen historisch informierten Antinatalismus.

Theologiebedarf der Anthropodizee

Die Fachwissenschaft sagt Richard David Precht (*1964) gern nach, er sei kein richtiger Philosoph; dabei ist er es, der die fundamentalphilosophische Einsicht schlechthin ausspricht: „Kein Philosoph und kein Ökologe vermag wirklich stichhaltig zu begründen, warum es alle die Millionen Tierarten auf diesem Planeten geben muss. Aber er wird, ohne einen erheblichen theologischen Aufwand, auch nicht begründen können, warum es Menschen geben soll.“ (Richard David Precht, Noahs Erbe, S. 367)

Unmöglichkeit aller Anthropodizee

In Ansehung von Auschwitz zeigt sich Hans Robert Schlette von der Unmöglichkeit aller Anthropodizee überzeugt: „Eine ‚Rechtfertigung‘ eine ‚Dizee‘ dessen, was ist, kann überhaupt nicht gegeben werden, weder als Theodizee noch als Kosmodizee noch gar als Anthropodizee; anders, einfacher und offener gesagt: Wer könnte sich anheischig machen, die Leiden von Auschwitz, ja die Leiden überhaupt (man denke an Dostojewskis Iwan Karamasoff) um eines höheren Zwecks willen philosophisch zu verteidigen?“ (Hans Robert Schlette, Möglichkeiten der Veränderung des religiösen Bewusstseins in religionsphilosophischer Sicht, S. 126) Offenbar kannte Schlette nicht den von Hans Jonas unternommenen Versuch, Menschen metaphysisch „auschwitzfähig“ zu halten.

Technische Anthropodizee

Andeutungen zu einer zumindest aus heutiger Sicht bizarren Anthropodizee unter Rekurs auf den technischen Fortschritt finden sich in Wildgans‘ Gedicht „Phantastische Nacht“, worin er einen Mansardenbewohner sich in neganthropischen Gedanken ergehen lässt, um dann mit der aus Menschenhand stammenden Glanzleistung einer das wahre Leben (!) repräsentierenden sausenden Eisenbahn zu kontern:

„[…] Und dieses ist der Fluch, der auf uns lastet: / All unser Wirken mündet ins Entfernte. / Zum schweren Säen, nicht zu froher Ernte / Reicht unsre Kraft, wenn sie auch niemals rastet. / Wir setzen an den Weg, der uns bestimmt, / Den Meilenstein mit unsres Namens Kerben; / Doch wenn kein Zweiter unsre Straße nimmt, / So bleiben wir auf ewig ohne Erben, / Und weggewaschen wie ein Kreidestrich / Ist dies unendliche, dies arme Ich.

O dies Vergehen! Loos der Allzuvielen, / Die aus dem ewig-schwangern Schoße wimmeln! / Dumpfes Gelichter, das für Schweiß und Schwielen / Ein Leben fristet! Leben? Ein Verschimmeln / Ist ihnen Dasein, ein Zusammennisten / Von Wust und Unrat für den großen Räumer / Der Weltkloake, die nicht auszumisten!

[…]

Doch nun ein Brausen, und mit einemmal / Um Waldes Biegung nieder in das Tal / Ein Riesenwurm mit greller Feuerbrille! / Aus Eisennüstern Gischt und Purpurstrahl, / Ein jubelnd stürmender Gigantenwille, / Von Raum und Zeit, von Schwere und vom Fall / Die ewigen Gesetze aufzuheben - / Und Menschen lenken ihn! Das ist das Leben!!“ (Wildgans, Gedichte, S. 111–113)

Scheint Wildgans zunächst mit dem „armen Ich“ zu sympathisieren, das sich in ein wie immer zu „fristendes“ Dasein gestellt vorfindet, so widerruft er im nächsten Atemzug, um uns – manifestiert in einem donnernden Eisenbahnzug – den Menschen als Herrn über Raum und Zeit vorzustellen und damit das „Los der Allzuvielen“ zu kompensieren. Hieraus spricht eine heute unverständliche Technikbegeisterung, die Wildgans um den Preis einer Maschinisierung des Lebens („Das ist das Leben!!“) in Anschlag bringt.

Antinatalismus

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