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Die Mißhandlung

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1972 war der Sommer in Lund sogar noch heißer und tropischer als im Vorjahr. Die Bewohner beneideten die Südeuropäer. Es hieß nämlich, im Süden habe man weniger unter der Hitze zu leiden – als ob sich die Regel umgekehrt hätte. Manchmal hatten viele Menschen die größte Lust, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und kopfüber in den nächsten Brunnen zu springen, um sich zu erfrischen.

Nachts standen die Schlafzimmerfenster offen, und die Schlafenden lagen da ohne Bettdecke.

Am Morgen war der Wasserverbrauch enorm. Die ganze Stadt schien sich zu duschen.

Der Herbst kam. Die Hitze wollte nicht weichen.

Als endlich herbstliches Wetter herrschte, war nach dem Kalender bereits Winterzeit. Offenbar sollte es auch kein richtiger Winter werden.

Eines Abends Mitte Dezember wurde Ragnar Bengtsson schwer mißhandelt, und zwar von seinem eigenen Vater.

Ragnar war zwölf Jahre alt.

Rune Bengtsson war siebenunddreißig Jahre alt. Er lag mit seiner dreiunddreißigjährigen Frau Barbro in Scheidung.

Sie hatten 1960 geheiratet und acht Jahre lang im großen und ganzen ein normales Leben geführt. Sie hatten gemeinsam einen Hof besessen. Aber plötzlich begannen die Schwierigkeiten. Mit der Landwirtschaft ging es bergab, und die finanzielle Lage wurde zerrüttet.

Da griff Rune Bengtsson zu dem wirksamsten Gegenmittel, das er kannte: zum Alkohol.

Zwei Jahre später war er ein Säufer.

Der Hof verfiel, das Vieh verwahrloste, die Einnahmen schwanden, es kam zum Bankrott.

Rune Bengtsson war psychisch ein schwacher Mensch.

Körperkräfte hatte er für zwei. Er war muskulös und hatte große, breite Hände, die einen Ochsen erwürgen konnten.

Er war rothaarig und hatte eine niedrige Stirn. Nur etwas vermochte diesen Hünen zu besiegen, und das war der Alkohol.

Im Herbst 1971 hielt Barbro es nicht mehr aus. Seit einem halben Jahr war Runes Aggressivität gegen sie kaum mehr zu übertreffen. Er ohrfeigte sie, zerrte sie an den Haaren und zeigte auf jede Weise, daß er sie haßte.

Eines Nachts flüchtete sie aus dem Haus. Sie nahm den Sohn mit und schlief mit ihm im Kuhstall.

Rune war von der fixen Idee besessen, daß Barbro schuld an dem Niedergang sei. Schließlich zeigte sie ihn an.

Rune wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, weil man ihn für gemeingefährlich hielt.

Zwei Tage später zog Barbro ihre Anzeige zurück, und Rune durfte nach Hause zurückkehren.

Er war zerknirscht und versprach, nie mehr eine Flasche anzurühren. Er hielt sein Versprechen – eine Zeitlang. Als wieder einmal Vieh einging, trank er bis zur Besinnungslosigkeit und schlug seine Frau.

Das Karussell drehte sich von neuem.

Barbro begann mit einem andern Mann zu gehen, mit einem Mann, der ihr Zärtlichkeit und Wärme gab.

Die Scheidung war unvermeidlich.

Ragnar wurde in Pflege gegeben. Aber schon nach kurzer Zeit flehte und bettelte er, auf den Hof seines Vaters zurückkehren zu dürfen. Er sehnte sich nach seiner früheren Schule, nach seinen alten Kameraden, nach den vertrauten Spielplätzen, nach seinem Pony, seinem Moped und seinen Kaninchen.

Rune übertrug seinen Haß gegen Barbro auf Ragnar. Wenn er betrunken war – und das war er oft –, ließ er seinen Unmut an dem Sohn aus.

Ragnar war Prügel gewöhnt. Schon früher hatte ihn der Vater häufig übers Knie gelegt; aber seit die Mutter nicht mehr da war, mußte er über Gebühr herhalten. Doch was sich an diesem Dezemberabend zutrug, das überstieg alle Grenzen. Ragnar kam um halb sieben nach Hause.

Er hatte nach der Schule mit seinen Freunden eine Weile gespielt. Nun hatte er Hunger, und er wollte vor dem Zubettgehen noch seine Schularbeiten machen.

Rune war total betrunken.

Er schalt ihn zornig, weil er so spät nach Hause gekommen war und seine Hose beschmutzt hatte.

Bevor Ragnar den Mund aufmachen konnte, erhielt er den ersten Hieb. Bis drei Uhr nachts ging die Mißhandlung vor sich. Dann fand sie ihr Ende, weil Rune aus schierer Ermattung einschlief. Rune hattte seinen Sohn mit Fäusten und Tritten bearbeitet.

Als der Schularzt Ragnar zwei Tage später untersuchte, stellte er hundertvier Wunden am Körper des Knaben fest. Wo die Haut nicht zerkratzt war, wies sie Blutergüsse auf, die Augen waren zugeschwollen, die Lippen aufgesprungen.

Die meisten Hiebe hatten Ragnar ins Gesicht getroffen.

Zum Schluß hatte Rune ihn mit der einen Hand zwischen den Beinen gepackt, mit der anderen am Hals und ihn mit letzter Kraft durch die Luft geschleudert, so daß Ragnar kopfvoran gegen die Wand geprallt war. Die ganze Zeit hatte Ragnar keinen Laut von sich gegeben und keine Träne vergossen.

Als Rune am Morgen erwachte, sah er, daß Ragnar schlief. Er schüttelte ihn wach und sagte: „Du, steh auf. Sonst kommst du zu spät zur Schule.“

An diesem Tag radelte Ragnar nicht zur Schule, sondern zu seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter. Der Onkel war jedoch schon zur Arbeit gegangen. Ragnar saß im Treppenhaus und wartete Stunde um Stunde, bis der Onkel abends um halb sechs heimkehrte.

Da konnte der Knabe kaum reden. Er vermochte nicht auf den Beinen zu stehen. Er sah fast nichts, weil seine Augen zugeschwollen waren.

Ragnar war gar nicht auf den Gedanken gekommen, bei seiner Mutter Zuflucht zu suchen. Es war dem Vater gelungen, die eigenen Haßgefühle gegen Barbro dem Sohn einzuimpfen. Aber selbst wenn Ragnar zu seiner Mutter hätte fliehen wollen, so hätte er nicht gewußt, wo sie sich aufhielt.

Bei der behördlichen Untersuchung stellte sich heraus, daß Ragnar entwicklungsgestört und geistig zurückgeblieben war, einen Intelligenzquotient unter neunzig hatte. Er konnte noch nicht einmal die Uhrzeit richtig ablesen.

Es kam heraus, daß Ragnar seinen Vater in nüchternem Zustand sehr liebenswert fand. Dann schenkte dieser nämlich seinem Sohn alles mögliche.

„Was soll nur aus dem armen Kerl werden?“ fragte einer der Journalisten, die den Prozeß verfolgten.

Das war nicht das letztemal, daß Ragnar mit Gewalttätigkeit und Rechtsordnung zu tun bekam.

Triumph der Gewalt

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