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1933, Ostfriesland

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Brav zog Fanny den schweren Zigeunerwagen in Richtung Emden, aus der Leeraner Umgebung kommend. Die Straßen waren noch geklinkert, aber es ging gut voran. Solche Zigeunerwagen gibt es - in Deutschland - nicht mehr, die waren den Zirkuswagen ähnlich. Mit dem Pferdegespann war die Familie Wieseler unterwegs, ein Ehepaar mit fünf Kindern. Felix Wieseler war das Familienoberhaupt. Er stammte aus dem Rheinland und war gelernter Former. Nach einem Zwist mit seinem Vater verschlug es ihn nach Löningen, wo er seine Frau kennen lernte, die aus Elberfeld bei Wuppertal stammte. Von da an gehörten sie zum fahrenden Volk. Heute würde man sie als Kleinunternehmer bezeichnen. Sie waren Tagelöhner bei den Bauern, denen auch Körbe und Holzschuhe verkauft wurden. Die fertigte er im Winter. Nicht nur im nahen Holland gab es Klumpen, die waren auch hier sehr verbreitet. Manche Kinder mussten für den sonntäglichen Kirchgang ihre Klumpen putzen wie Schuhe, schwarz und auf Hochglanz. Bei den Bauern wurden die nach und nach – leider – von Gummistiefeln verdrängt. Das Gehen mit den starren Holzklumpen - die es im Handel immer noch gibt - ist nicht gerade sehr bequem, aber wenn Klumpen immer noch in Gebrauch wären, hätten sehr viele Leute weniger Rückenbeschwerden und wärmere Füße.

Die Frau von Felix und Mutter der Kinder hieß Rosa. Sie war später meine Oma. Ihr ältestes Kind, das Hedwig hieß, wurde meine Mutter. Sie starb 2018 im Alter von 98 Jahren.

Hedwig war von einem anderen Mann, der Norbert Becker hieß. Rosa und Norbert Becker wollten zusammen nach Amerika auswandern. Doch Rosa kam in andere Umstände und wollte die Reise nicht schwanger antreten. Sie hatten vereinbart, dass Rosa mit dem Kind nachkommen würde, nach San Antonio. Aus dieser geplanten Familienzusammenführung wurde nichts. Katholisch zu sein und ein uneheliches Kind zu haben, die kleine Hedwig; welche Schande zu der Zeit, 1919! Die nahm Rosa auf sich.

Felix ist der Vater von Maria, Rosi, Gertrud und dem Jungen, der Felix heißt wie sein Vater. Er ist von den Geschwistern der letzte, der noch lebt.

Auf halber Strecke, so etwa bei Neermoor, kam ihnen ein Gespann entgegen und man tauschte sich aus. Da hörten sie schon, daß in Emden ihre Reise enden würde. Hitlers Leute gäben derartige Anweisungen. So kam es dann auch. Sie hatten „die Wahl“, festes Quartier zu beziehen oder in ein Lager deportiert zu werden. Es war ihre Endstation wider Willen. Heimat? Ein Begriff ohne Bedeutung, nur gut für die Propaganda. Sie wurden nicht gefragt. Dabei spielte es keine Rolle, daß sie weder Sinti noch Roma waren, denn das fahrende Volk sollte von der Straße.

Das Kommando hatte der eiserne Besen. Sie verstanden die Zigeunersprache und standen oft auf den gleichen Plätzen, die Kinder spielten trotz elterlichen Verbots miteinander. Weil sie wirtschaftlich schwach waren, wurde ihnen ein Barackenplatz in der Emder Feldmark bei Borßum zugewiesen. Nun hatten sie ein behördlich angeordnetes festes Heim. Sie fügten sich und Ostfriesland wurde ihre Heimat.

Als Kleinkind war Hedwig in der Obhut der Großeltern gewesen. Aber dann wurde sie gebraucht, damit Rosa in den bäuerlichen Haushalten helfen konnte und auch etwas verdienen, Geld oder Deputate. Deswegen wurde sie oft vom Schulbesuch ferngehalten. Einen Schulabschluss hat sie nicht. Bei gelegentlichen Kontrollen – „Sind hier schulpflichtige Kinder?“ – kam Hedwig in die Truhenbank, auf der Rosa saß und mit Nein antwortete. Jetzt war Hedwig 14 Jahre alt und sie nahm in einer der Emder Heringsfischereien Arbeit als Viswief auf, schwere Akkordarbeit. Die Hände waren oft vom Salz zerfressen.

Viswief: Fischweib

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