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Kapitel 8
Оглавление16. Dezember 1977 – Eine Kirchenbesetzung
Ein Freund, auch ein Streikrat, war am Telefon.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du vielleicht schon zuhause bist. Habe Irmgard angerufen. Hast du Zeit? Jetzt?“
„Klar, aber du weißt es ist zwei Uhr morgens. Ist es wichtig?“
„Ich weiß. Ja sehr. Aber ich kann am Telefon nicht darüber sprechen. Können wir uns so schnell wie möglich an der Kantstraße treffen? Kennst du die Telefonzelle nahe dem Café?“
„Ich kenn das Café. Die Telefonzelle werde ich schon finden.“
Er legt auf, ein Blick auf die Uhr, ich musste direkt wieder los. Von der Oranienstraße in Kreuzberg bis zur Kantstraße ist es ein ganz schönes Stück Weg. Musste den Nachtbus noch erwischen, der fuhr jede Stunde. Die Haltestelle nur 300 Meter weg von meiner Wohnung, ich musste schnell laufen. Ich hatte Glück. Gerade noch erwischt weil der Busfahrer mich schon von weitem gesehen hatte und wartete.
2 Uhr 45. Endlich die Kantstraße und das Café und die Telefonzelle gleich in der Nähe. 20 Minuten später kam er dann:
„Komm.“
Wir sprachen nicht und ich folgte ihm in eine kleine Seitenstraße. Und klar war ich neugierig! Das musste ja was Besonderes sein, irgendeine geheime Aktion, aber ich war dabei, und das war klar. Schließlich hielt er vor einem kleinen Bücherladen an, alles dunkel drinnen - klar um fast drei am Morgen. Er klopfte ein Signal und die Tür wurde geöffnet. Mein Freund wurde erwartet, prüfende Augen studierten mich einen Moment, dann die Erkennung:
„Ahh, gut, du bist auch vom Streikrat im PI (Psychologisches Institut). Geht durch zum Hinterzimmer.“
Ein kleiner Raum, voll mit Regalen und Büchern und übervoll mit Menschen, mindestens fünfzehn. Einige kannte ich, wir alle standen eng an eng, wartend.
„Vier werden noch erwartet, also noch etwas Geduld. Wir brauchen mindestens 20.“
Es wurde leise gesprochen, der Aschenbecher wurde rumgereicht. Aus den Gesprächen wurde klar, dass niemand wusste, worum es eigentlich ging. Über die nächsten 30 Minuten trafen dann auch die anderen vier ein.
„Sind jetzt alle da, die wir angerufen hatten?“ fragend zu den beiden Wächtern an der Eingangstür.
„Ja alle und noch 2 vom PI“ und zeigten in meine Richtung.
Unser Anführern, anscheinend der einzige der wusste worum es hier ging, an uns gewandt:
„Gut, dass das PI auch hier ist. Könnt ihr jemanden von hier anrufen? Wir haben das Telefon im Laden. Jemanden dem ihr total vertraut und der später Nachrichten an andere weitergibt?“
„Ich weiß jemanden“ und klar, das war natürlich Irmgard.
„Keine Namen am Telefon. Ruf sie an. Sag ihr sie soll mindestens sechs Leute vom PI anrufen, jetzt. Die müssen um fünf Uhr am Telefon bereitstehen. Deine Person wird so gegen 5.30 einen Anruf bekommen. Da wird dann alles erklärt, und sie muss das dann direkt weitergeben. Und lass die Nummer vorne im Laden.“
Ich rief sie dann aus dem dunklen Laden an. Natürlich verstand sie sofort, da konnte ich mich auf sie verlassen, ohne Gegenfragen, das war selbstverständlich. Viele Telefone waren von unserem lieben Berliner Verfassungsschutz angezapft, das wusste jeder. Und bei ihrer Wohngemeinschaft war es ganz sicher, denn natürlich sind Lesben und linke Anwälte eines der Hauptziele.
Natürlich wollten wir jetzt alle wissen welche Aktion geplant war. Deshalb jetzt die kleine Rede die unser Organisator wohl vorbereitet hatte.
„Ihr könnt jetzt all rauchen. Wir haben Aschenbecher vorbereitet, aber vorsichtig. Wir wollen diesen schönen Buchladen nicht runterbrennen. Wir hätten eine Menge zu erklären bei der Polizei.“
„Seid euch bewusst: wenn ihr an dieser Aktion teilnehmt, kann es einige schwere Folgen für uns alle haben. Also deshalb: wer jetzt noch aussteigen will? Kein Problem. Ihr geht jetzt und wartet draußen im Laden bis sechs Uhr. Dann lässt euch jemand raus und ihr könnt nach Hause gehen.“
„Wer ist in? Bitte Handzeichen von jedem.“
Alle Hände hoben sich und keiner verließ den Raum.
„Und ab jetzt keine Namen. Mein Name ist Heinrich Lübke“, was von uns allen mit Erheiterung aufgenommen wurde.
Heinrich Lübke, unser Bundespräsident bis 1969, die Witzfigur der Nation, wegen seiner idiotischen Fehler in all seinen öffentlichen Reden, aber auch der Mann der während Hitlers Regime seine Unterschriften unter die Baupläne für Konzentrationslager gesetzt hatte.
„Jetzt wollt ihr natürlich wissen was wir geplant haben?“ - ein lächelnder Blick in die Runde – „Das kann ich euch aber leider nicht sagen. Gestern Nacht sind zwei Wohngemeinschaften von der Polizei durchsucht worden. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Und diese Aktion wurde von uns sehr sorgfältig geplant. Sie ist unsere Antwort auf die Verhaftung von Christoph und Peter. Und wir ziehen das durch, bis den Anwälte Kontakt mit ihren Mandanten erlaubt wird und bis sie frei sind.“
„Deshalb ab jetzt keine Namen mehr zwischen uns. Um 4 Uhr 50 werden wir den Laden in Gruppen von Dreien verlassen. Ihr werdet dann zu unseren Wagen geführt werden. Wir haben leider nur zwei Kleinwagen und einen VW Bus, aber es muss langen. Wir werden um 5 Uhr 30 an unserem Objekt ankommen und dann erfahrt ihr den Rest. Alles klar?“
Eine irre Spannung legte sich jetzt über den Raum, alle begannen nur noch zu flüstern, irgendwie richtig witzig in dem Moment, als ob der Verfassungsschutz hinter jedem Buch lauern würde. Und hab ich in dieser Stunde Wartezeit jemals darüber nachgedacht zu gehen? Nicht mitzumachen? Nie. Nie! Ich war IN- mit allen Konsequenzen. Wie ein Adler zu fliegen und die Welt ist mein und der Wind wird mich tragen.
Und dann ging‘s los. Einer zeigt auf mich und meinen Freund, wir sollten ihm folgen, raus aus dem Laden, ein vorsichtiger Blick links und rechts, alles leer in der kleinen Seitenstraße, schnell gehen, am Ende ein VW Bus und rein. Der Bus vollgestopft und los ging die Fahrt. Sie hatten alles super organisiert, hinter uns die zwei kleinen Wagen - im Konvoi zum Ziel.
Wir hielten - und ein Ahh und Ohh ging durch den Bus und jeder starrte raus. Eine große alte Kirche, mit großem Vorplatz und vielen Stufen die zur Kirchentür führten.
Welche Kirche es war, wusste ich zu der Zeit nicht, hatte mich auch nicht richtig interessiert, aber heute weiß ich es natürlich. Wir hatten vor der evangelischen Johannis - Kirche in Moabit angehalten, eingeweiht und erbaut 1835. Sie war das Ziel unserer Besetzung.
„Gottesdienst beginnt um sechs Uhr. Es werden nicht viele Gläubige am Gottesdienst teilnehmen. Sicher nur ein paar Alte. Der Pfarrer wird ca. fünf Minuten vorher den Altarraum betreten. Wir werden um 5 Uhr 50 die Kirche betreten und setzen uns alle hinten hin. Wenn der Pfarrer kommt wird einer von uns nach vorne gehen und mit ihm sprechen. Sechs werden hinten und an der Kirchentür bleiben, der Rest verteilt sich sofort links und rechts an den Seitenflügeln. Die Kirche wird dann von uns besetzt sein und wir bleiben so lange wir sie halten können. Ich hoffe unsere Telefonkette funktioniert und viele werden kommen um uns zu unterstützen. Alles klar?“
„An irgendeinem Punkt wird die Polizei Wind bekommen, wird die Kirche abriegeln und sie wird vielleicht gestürmt. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.“
„Und das Wichtigste. Die Kirche ist nicht unser Feind. Wir werden mit dem Pfarrer aushandeln wie wir uns in der Kirche verhalten. Nichts wird zerstört. Wir werden uns respektvoll benehmen und daran muss sich jeder halten. Ist das ok und verstanden?“
Kopfnicken von uns allen und dann starrte man nur noch auf die Uhr. 5 Uhr 50 - alles lief super. Wir betraten die Kirche, setzten uns alle hinten in die Bänke. Nur ca. 20 bis 30 Gläubige saßen bereits verstreut, auf den Gottesdienst wartend. Viele drehten ihr Köpfe zu uns, neugierig und ganz sicher sehr überrascht, so viele junge Menschen zum Gottesdienst erscheinen zu sehen.
Im Gottesdienstgewandt betrat der Pfarrer die Kirche aus der Sakristei. Unser Organisator ging sofort nach vorne und wir alle nahmen unsere Plätze ein. Vor dem Altar wurde eine kleine Diskussion geführt. Unser Pfarrer einfach nur zuhörend - dann hatte sich wohl alles geklärt und er wandte sich an seine kleine Gemeinde, erklärte nur kurz das die Kirche jetzt besetzt ist und das es nur einen kleinen Gottesdienst von 10 Minuten geben wird. Danach sollten alle Gemeindemitglieder die Kirche verlassen. Er erklärte auch - und das fand ich sehr super - warum wir diese Kirche besetzen. Auch das zwei Studenten einen Tag vorher von der Polizei grundlos zusammengeschlagen worden waren.
Unser Organisator:
„Nach dem Gottesdienst verabschieden wir uns alle von der Gemeinde an der Kirchentür. Danach werden wir mit dem Pfarrer die Einzelheiten aushandeln.“
Ich war einer derjenigen an der großen Tür, der Pfarrer verabschiedete sich von jedem seiner Gemeindemitglieder mit Handdruck. Da zogen dann die alten Damen und Herren an mir vorbei, händeschüttelnd und lächelnd. Und wie irre können Menschen sein. Manchmal einfach nicht mit Worten auszudrücken. Zwei alte Damen blieben vor mir stehen:
„Da wünschen wir ihnen aber viel Glück und wir hoffen sie erreichen ihr Ziel. Sie müssen sich wehren, das verstehen wir. Also alles Gute“ und dann gingen sie raus.
Jetzt wurde es ernst. Einige blieben an der Tür und wir alle diskutierten mit dem Pfarrer, was jetzt zu erwarten war. Dann ging er in die Sakristei, um seinen Bischof anzurufen, gefolgt von einem von uns, natürlich um sicher zu gehen, dass er nicht die Polizei anrief. Wir teilten uns in Gruppen auf. Es mussten etliche an der Tür Wache halten. Der Rest war verantwortlich für alle, die hoffentlich in den nächsten Stunden kommen würden, um uns zu unterstützen. An irgendeinem Punkt wird die Polizei mitbekommen, was hier in der Kirche passiert. Und dann? Wir werden sehen.
Die ersten Studenten kamen nach 30 Minuten, wurden direkt eingewiesen, über den Stand der Dinge informiert und erhielten von uns die ersten Verhaltensregeln. Dann ein ständiger Strom von Studenten. Die Kirche füllte sich langsam. Der Pfarrer kam zurück von seinem Gespräch mit dem Bischof und erhielt die Erlaubnis zu uns allen zu sprechen.
„Willkommen in diesem Haus Gottes. Ich mag zwar nicht, was jetzt hier passiert, aber wir müssen zusammenarbeiten, damit dieses Haus geschützt wird und ein Haus Gottes bleibt. Ich verstehe, dass ihr ein legitimes Recht habt euch zur Wehr zu setzen und darin wird euch die Evangelische Kirche unterstützen. Ich bitte euch alle mit mir zu reden, dass bestimmte Regeln eingehalten werden. Bitte geht nicht in die Nähe des Altars und zu den kleinen Altären im Seitenflügel. Bitte nicht in dieser Kirche rauchen.“
Das war natürlich unmöglich einzuhalten bei einer Besetzung die sich vielleicht über viele Tage hinziehen könnte. Viele hatten bereits angefangen zu rauchen und wir mussten eine schnelle Lösung für dieses kleine Problem finden. Tatsächlich fanden sich nach einigen Minuten am Hinterausgang zwei Aschenbecher, die wahrscheinlich von den Putzfrauen benutzt wurden. Es durfte nur noch in unmittelbarer Nähe der Aschenbecher geraucht werden.
„Die Evangelische Kirche hat immer Minderheiten beschützt die in das Haus Gottes kamen um Schutz zu suchen. Ihr alle seid hier und ihr sucht unseren Schutz und unsere Hilfe. Der Bischof wird der Polizei keine Erlaubnis geben, diesen Kirchenbesitz zu betreten um euch zu verhaften. Der Kirchenbesitz geht bis zum Bürgersteig draußen. Hier seid ihr sicher.“
Seine Rede war gerade beendet, da ging es los. Sirenen aus allen Richtungen.
Ich lief zusammen mit dem Pfarrer zur Kirchentür. Viele drängten sich an uns vorbei nach draußen. Unsere Ordnungshüter hatten endlich entdeckt, dass hier etwas Gesetzloses geschehen könnte. Eingehüllt im Krach ihrer Sirenen mit quietschen Bremsen nahmen sie ihre Stellung ein. Panzerwagen und Polizeiwagen spuckten schwerbewaffnete Männer aus. Die BRD erklärte uns den Krieg. Noch immer rannten Studenten im Zickzack zwischen den Polizeiwagen zu uns, um noch durchzukommen bis die Absperrung perfekt war.
Jetzt gab‘s kein Zurück mehr! Die meisten gingen wieder in die Kirche. Ich stand noch eine Weile mit dem Pfarrer und unserem Organisator. Jetzt war es getan. Sie draußen – wir drinnen. Überall Maschinepistolen und schwere Schutzausrüstung. Sie verbargen sich hinter ihren Schildern. Erwarteten sie die ersten Brandpfeile aus unserer Burg? Eine römische Mauer, wie aus Asterix, direkt an der Kirchengrenze. Richtig lustig diese blöden Römer da unten zu beobachten. Der Pfarrer schlug vor, mit einer kleinen Delegation nach unten zu gehen um mit den Verantwortlichen zu sprechen. Sie gingen runter und ich blieb oben.
Oben auf der Treppe begann ich mich über mein Leben zu wundern. Über all diese irren Entwicklungen, die plötzlich Teil meines Lebens wurden. Jetzt sogar umzingelt von Hunderten von schwerbewaffneten Polizisten. Oh mein Gott - wie gut ich mich fühlte! Da war keine Angst in mir, nur der Wille, alles zu akzeptieren, ein unbeugsamer Wille, alles willkommen zu heißen. Das ist es was ich will und niemand kann mich aufhalten.
Unten am Bürgersteig wurden unsere Liste von Forderungen an die Polizei übergeben, dann kamen sie alle hoch. Unsere Liste so wie ich mich erinnern kann:
1) Wo die beiden Studenten, Christoph und Peter, im Moment festgehalten werden, muss sofort ihren Anwälten mitgeteilt werden.
2) Die Anwälte bekommen sofort das Recht, mit beiden zu sprechen. (Unter den Anwälten auch Hans – Christian Stroebele, der schon vorher einige Mitglieder der RAF vertreten hatte)
3) Keine Verhöre dürfen ohne die Anwesenheit der Anwälte stattfinden.
4) Beide Studenten werden sofort von einem unabhängigen Arzt in Anwesenheit der Anwälte untersucht und Misshandlungsspuren werden dokumentiert, und sie werden ärztlich versorgt.
5) Alle Anklagen werden sofort fallengelassen und die Studenten werden sofort freigelassen.
Die Reihenfolge kann anders gewesen sein. Aber das war‘s. In der Kirche wurde jetzt eine Zählung vorgenommen. Knappe 300 Studenten hatten es in die Kirche geschafft, viel mehr als wohl alle erwartet hatten. Super, die Kette hatte funktioniert. Leider keine Irmgard, aber etliche Gesichter vom PI erkannte ich. Wir, die die Besetzung begonnen hatten, organisierten uns jetzt in Gruppen, verantwortlich Regeln mit dem Pfarrer auszuarbeiten und alle anderen zu organisieren. Wachen an den Seiten und vorne an der Tür, die das gewaltige Aufgebot der Polizei draußen im Auge behielt.
Unsere kleine Liste, ausgehandelt mit unserem Pfarrer:
Kein Sex in der Kirche in der Nacht. Rauchen nur an den beiden Aschenbechern erlaubt. In der Nacht auf den Bänken schlafen - aber ohne Schuhe. Altar und alle Seitenaltäre waren gesperrt. Auch alle Beichtstühle. Aschenbecher mussten geleert werden, bevor sie voll waren. Studenten durften sich nicht an die Seitenwände lehnen.
Wir hatten kein Essen. Das Organisations-Komitee hatte belegte Brote und Wasser vorbereitet, aber niemand hatte so viele Studenten erwartet. Es reichte gerade mal für die ersten Stunden.
Unser Pfarrer war ein richtig netter Typ, jung und aufgeschlossen, der sowieso schon die Demonstrationen verfolgt hatte und bereits von dem Vorfall am U Bahn - Ausgang wusste. Wir stimmten nicht in allen Punkten überein, aber damit, dass wir ein legitimes Recht hatten uns zur Wehr zu setzten. Eine Gesellschaft, die Teile ihrer Bevölkerung ungerecht behandelt, zu Opfern macht, gibt das Recht an die Opfer, sich zur Wehr zu setzen. Für mich ein Recht das jeder Mensch hat, und auch über allen Gesetzen und Bestimmungen steht.
Wir mussten uns jetzt auf das Schlimmste vorbereiten, vielleicht für viele Wochen auch ohne Essen und Trinken zu sein, also einen Hungerstreik. Am frühen Nachmittag wurden dann plötzlich Kisten mit Wasser durch die Hintertür angeliefert, hunderte von belegten Broten und etliche Aschenbecher. Dank dem Bischof und dem Pfarrer, die voraus gedacht hatten. Der Hinterausgang war wohl unseren Ordnungshütern in dem ersten Chaos entgangen. Es sollte die einzige Anlieferung bleiben. So blöd waren die da draußen nicht.
Die erste Nacht. Kaum einer schlief in der Kirche. Alle hielten sich an die ausgemachten Regeln. Unser Pfarrer war begeistert und so offen, sich in vielen Diskussionen zu beteiligen. An der Kirchentür draußen mindestens zehn Wachen, die die Polizei im Auge behielt, dasselbe an der Hintertür. Innen wurde diskutiert und zum Morgen legten sich dann auch einige auf die Bänke und auf den Boden um zu schlafen.
2. Tag:
Unser Pfarrer hatte sich auch irgendwann auf eine der Bänke zum Schlafen gelegt. Er hatte sich jetzt entspannt, war guter Laune am zweiten Tag und er genoss es, obwohl er das mit einem Lächeln abstritt. Verhandlungen mit der Polizei begannen direkt an diesem Morgen. Um die Mittagszeit dann unser erster Erfolg. Einem der Anwälte wurde erlaubt in der Kirche mit uns zu sprechen und uns über den Stand der Dinge zu informieren. Einige Stunden danach der nächste Erfolg. Plötzlich hatte die Polizei die Verhafteten wiedergefunden, wahrscheinlich in einem alten Verlies und präsentierte sie den Anwälten.
Falls einige Anwälte dieses Buch mal lesen sollten, wäre es nett mit mir Kontakt aufzunehmen, um eigentlich mal zu erfahren was sich da draußen alles so abspielte. Auch Studenten von damals, die mit mir in der Kirche bei der Besetzung dabei waren, es wäre super wenn ihr euch melden würdet. Einfach so, weil es geil wäre, mal wieder Kontakt zu haben.
Während des ersten Tages hatte natürlich auch die Presse Wind bekommen von unserer Aktion. Die war auch in voller Besatzung angerückt. Sie hatten alle Stellung bezogen hinter dem Polizeikordon - Fernsehstationen und alle wichtigen Tageszeitungen. Es war lustig das Treiben da unten von der Kirchentür aus zu beobachten. Später erzählte mir jemand, wir hätten es sogar in die Tagesschau geschafft.
Am Nachmittag dann ein weiterer Erfolg unserer Verhandlungen mit der Polizei. Wir hatten Zugang zur Presse, konnten uns drei Zeitungen oder Fernsehstationen aussuchen und wir konnten zu jeder eine Delegation von zwei Studenten schicken. Ich war Teil des Teams das mit dem Spiegelmagazin in der Redaktion in Berlin sprechen konnte.
Die vereinbarte Zeit war da und wir verließen die Kirche. Polizei eskortierte uns durch den Kordon, dahinter wartete dann ein Wagen vom Spiegel auf mich und meinen Kommilitonen. Eskortiert durch Berlin, hat Spaß gemacht, vorne und hinten bewacht von Polizei und mit Sirenen los zum Spiegelgebäude. Hoch bis ins oberste Geschoss, zwei Polizisten als Wache vor der Tür, wir wollten sowieso nicht abhauen, wäre auch blöd, und wir hatten zwei Stunden Zeit über unsere Situation in der Kirche zu reden und unsere Forderungen. Mit Rudolf Augstein und noch zwei oder drei andere Journalisten wurde dieses Gespräch geführt.
Zwei Stunden danach wieder die große Eskorte quer durch Berlin zurück in die Kirche.
Die zweite Nacht und der Tag danach:
Alles super in der Kirche. Plötzlich um elf am Morgen Neuigkeiten, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten. Man hat die beiden Studenten freigelassen. Natürlich zuerst nur ein Gerücht und wir warteten gespannt auf ein Zeichen der Anwälte. Sollte es wirklich schon zu Ende sein? Hat gerade angefangen Spaß zu machen und alle waren vorbereitet auf einen langen Hungerstreik und die Kirche zu halten, selbst mit Gewalt. Bei unseren blöden Politikern in unserer Regierung musste man sowieso mit allem rechnen.
Um 1 Uhr, betrat dann ein Anwalt die Kirche, dankte uns und bestätigte, dass die Studenten jetzt frei waren. Wir haben freies Geleit wenn wir die Besetzung beenden. War natürlich klar, wir verlassen die Kirche, aber nicht jetzt, erst um drei Uhr nachmittags. Wir hatten eine Vereinbarung mit dem Pfarrer getroffen, die Kirche in dem Zustand wie wir sie betreten hatten zu verlassen. Alle konnten nach Hause gehen, außer 50 von uns.
Die Putzfrauen kamen dann auch in den nächsten 20 Minuten. Viele Eimer, Putzlappen, große Bohnermaschine und los ging’s. Die Kirche wurde von uns gesäubert, alle Bänke abgewischt, gefegt, alles gebohnert. Unser Pfarrer war begeistert und wischte fleißig mit. Um drei Uhr 30 waren wir fertig und alle konnten gehen. Sieben blieben noch zurück und wir inspizierten zusammen mit dem Pfarrer die Kirche. Er war so stolz auf uns, der lange Händedruck, die Kirche sauberer als je zuvor, ein Riesenlächeln an der großen Kirchentür. Irgendwie waren wir alle Freunde geworden.
Was für ein komisches Gefühl da die Treppen runterzugehen. Das große Aufgebot der Polizei war abgezogen worden. Nur noch zwei Polizisten beobachteten uns von der Ferne. Am Fuß der Treppe sagten wir Tschüss zueinander und jeder ging seiner Wege.
Ich schwebte auf einer Wolke durch Berlin. Mein erstes Ziel war natürlich Irmgard um einige Stunden mit ihr auszuhängen, danach in die Oranienstraße. Meine Katze Sandy begrüßte mich und eine kalte Wohnung. Irmgard so super wie sie war, hatte meine Katze jeden Tag gefüttert. Diese Nacht konnte ich nicht schlafen, saß auf dem Teppichboden, so high vom Leben in all seiner Schönheit.
Am nächsten Tag zurück ins PI und wir alle flogen immer noch auf Wolken. Wurden natürlich über alle Ereignisse während unserer Abwesenheit informiert. Am zweiten Tag hatten sie eine Riesendemonstration veranstaltet, als Unterstützung von Christoph und Peter und alle Kirchenbesetzer. 30 000 sollen daran teilgenommen haben. Bundesweit wurde über die Besetzung berichtet, selbst im Hauptprogramm von ZDF und ARD. Ich habe keine Ahnung ob der Spiegel jemals über die Kirchenbesetzung berichtet hat. Hat mich eigentlich auch nicht interessiert.
Wir hatten gewonnen gegen alle Behörden und Ordnungskräfte. Und das zählte. Sieg!
News, die Nachrichten, ob Zeitungen oder Fernsehstationen oder heute das Internet, haben kein Gewissen und sicherlich keine Ehre. News sind ein Instrument, um Gedanken in Menschen zu formen und in bestimmte Richtungen zu führen. News werden benutzt, um Gehorsamkeit in Menschen zu formen. News sind die modernen Eisenketten in die wir alle gelegt werden, festgezurrt an irgendeiner Mauer. News haben nur eine Aufgabe und einen Zweck! Angst zu schüren, uns alle festzuhalten in einem Stadium der Unsicherheit, uns in die Gleichgültigkeit zu führen, die jeder dieser Herrschenden braucht um zu herrschen. News fächeln die Gewalt an und baden sich in ihr.
Die Wirklichkeit von News konnten wir alle nur wenige Stunden später an diesem Tag spüren und schmecken. Plötzlich sah man jeden im PI die Zeitung lesen, die neue Bildzeitung die gerade rausgekommen war. Und da waren wir auf der Titelseite, der größte Artikel, sogar mit großem Foto.
Als Foto ein verbrannter Altar mit abgebrannter Altardecke, und soweit ich mich erinnern kann einem zerstörten Altarkreuz. Unsere Kirchenbesetzung schön sauber journalistisch dargestellt. Sitzbänke hatten überall Brandflecken von ausgedrückten Zigaretten, die Wände verschmiert, der Altar entheiligt und vieles mehr. Wie wir diese Kirche entweiht und geschändet hatten.
Nichts entsprach den Tatsachen.
900 Studenten hatten diese Zeitung in der ersten Stunde gelesen und wir waren alle angepisst. Fünf von uns gingen natürlich sofort an diesem Morgen zurück zur Johanniskirche um mit unserem Pfarrer zu sprechen. Der Pfarrer hatte diesen Artikel auch schon gelesen und auch sofort seinen Bischof angerufen, der auch eine Stellungname der Protestantischen Kirche veröffentlicht hat um die Fakten richtigzustellen und auch einen Protestbrief an die Bildzeitung gesandt mit der Forderung einer Richtigstellung.
Hat sich dadurch etwas verändert? Nichts. Hat es je eine Richtigstellung gegeben? Nie, soweit ich weiß. Das ist unsere Welt. Wir lügen 24 Stunden ohne anzuhalten. Keiner fühlt noch irgendetwas. Die meisten Menschen sind schon innerlich verstorben bevor sie wahrscheinlich das Alter von sechs erreicht haben.
Der große Streik ging noch weiter, bis er gegen Ende Dezember plötzlich vorbei war, von einem Tag zum anderen.