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Kapitel 6

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Eine plötzliche Flucht – Berlin


Das letzte Jahr hatte begonnen, wir hatten es alle in die Abiturklasse geschafft. Zwei Jahre vorher hatte ich eine zehnjährige Verpflichtung für den Zivilschutz unterschrieben. Ich wollte natürlich nicht in die blöde Bundeswehr eingezogen werden. Und Zivilschutz in Herten hieß sich einmal in der Woche zu treffen, freitagabends von acht bis zehn Uhr, sich betrinken und Spaß haben. Also ganz nett und ein bisschen lernten wir noch, wie man sich vor Chemiewaffen schützt.

Für die Weihnachtstage hatte mich eine alte Bekannte nach Berlin eingeladen, mir mal die Mauer anzugucken. Das hab ich dann auch sofort angenommen und mir unsere berühmte eingekesselte Stadt angesehen. Berlin fand ich absolut super. Endlich mal eine Stadt die nicht Deutsch war und einen internationalen Flair ausstrahlte. Und natürlich auch noch eine exzellente Universität besaß.

Klar habe ich da schon irgendwie mit dem Gedanken gespielt, nur als Möglichkeit für die Zukunft, vielleicht in Berlin zu studieren und das auch mit ihr ein wenig durchgesprochen.

Dann fiel der Satz:

„Also wenn du dann hier studieren willst, kannst du dich unter meiner Adresse anmelden!“

Ein Angebot, dass ich nicht verstreichen lassen wollte, einfach zu verlockend, und es musste von mir angenommen werden. Sie half mir dann am nächsten Tag bei der Anmeldung eines zweiten Wohnsitzes. Heißt ja nicht viel, nur eine kleine Vorsorge für eine mögliche Zukunft. Nach Weihnachten zurück nach Oberhausen und der Endspurt musste eingelegt werden. Nur noch knappe 7 Monate bis zum Abitur, das ich wahrscheinlich mit einer 3 machen würde. Mehr nicht, aber immerhin etwas.

15. Januar, alle Klassen hatten bereits seit Tagen wieder begonnen. Ich rief meine Mutter in Herten an, nur um ihr zu sagen, dass ich an diesem Wochenende nicht kommen kann.

„Günther hat heute Morgen schon dreimal angerufen. Du sollst ihn bitte direkt im Rathaus anrufen. Das ist sehr dringend. Hier ist seine Nummer. Aber heute noch.“

Das war natürlich höchst ungewöhnlich. Günther, der große Bruder meiner wunderschönen Freundin in Herten, hatte in fünf Jahren Beziehung mit ihr nie angerufen, und die war zu der Zeit schon seit fast zwei Jahren beendet. Er arbeitete im Rathaus in irgendeiner etwas besseren Position. Was genau – das wusste ich nicht.

Natürlich rief ich sofort an - und dieser Anruf sollte mein Leben nochmal auf den Kopf stellen.

„Hey Günther. Du hast meine Mutter angerufen. Das muss wichtig sein?“

„Ich bin heute Morgen zum Kaffeetrinken in ein anderes Büro gegangen, zu einem Kollegen. Da sah ich dann plötzlich deinen Namen auf seinem Schreibtisch. Du wirst in ein paar Tagen zur Bundeswehr eingezogen. Das war der Einberufungsbefehl.“

„Was? Das ist doch Blödsinn. Ich mache doch hier mein Abitur nach. Die können mich nicht ziehen. Du weißt, ich mach auch diesen blöden Zivilschutz. Das geht nicht.“

„Ich weiß und ich habe mir den Brief genau angeguckt. Der Kollege weiß nicht, dass ich dich kenne und dass ich dich hiermit warne. Sag das bloß keinem, sonst gibt‘s Probleme für mich. Der wird den Einzugsbefehl heute oder morgen noch in die Post geben.“

„Aber warum? Das ist doch alles Scheiße. Das geht nicht.“

„Ich hab ihn natürlich gefragt. Du hast dich als zweiten Wohnsitz in Berlin gemeldet. Die Meldestelle musste uns natürlich sofort benachrichtigen, aber in Berlin müssen sie auch die Bunderwehr über jede Meldung informieren. Die nehmen an, dass du dich nach Berlin absetzen willst. Deshalb wurdest du sofort aus dem Zivilschutz rausgeschmissen. Deshalb bist du jetzt auf einer Einberufungs-Prioritätsliste.“

„Scheiße, was mach ich jetzt? Wie viel Zeit habe ich?“

„Keine.“

„Wenn deine Mutter den Brief morgen am Samstag annimmt, muss sie unterschreiben und dann ist die Einberufung gültig. Wenn du danach nach Berlin fährst, werden sie dich da verhaften. Du musst deiner Mutter sagen, die sollen morgen früh sofort das Haus verlassen und vielleicht erst nachmittags zurückkommen. Wenn der Postbote den Brief nicht abliefern kann, dann wird er es nochmal am Montag versuchen. Also müssen sie alle auch am Montag raus. Dann hast du dir zwei Tage Zeit erkauft.“

„Das heißt, ich hau direkt ab nach Berlin.“

„Ja und du musst dich Montagmorgen sofort in Berlin anmelden, mit dem ersten Wohnsitz.“

„Was für eine Scheiße. Ok ich danke dir dafür. Wirklich.“


Das war‘s. Ein Telefonanruf mit vielen Auswirkungen.

Zur Bundeswehr, no fucking way! Töten zu lernen - wie eklig ist das. Meine Hunde haben mehr Verstand als diese Irren die nichts anderes im Kopf haben als für irgendwelche Religionen, politischen Systeme oder dreckiges Geld rumzuknallen.

Jetzt galt es, keine Minute mehr zu verlieren. Ich musste sofort meine Mutter anrufen, um sie anzuweisen, was sie am Samstag und Montag zu tun haben. Die kannten meine Einstellung. Klar würden sie sich daran halten. Blick auf die Uhr, 1 Uhr, Freitag.

Musste auch sofort mit meiner Freundin Anne B. sprechen, damit sie alle meine Sachen aus dem Wohnheim packt. Danach in unseren Klassenraum, alle meine Freunde informieren, dass ich heute noch aus der Bundesrepublik Deutschland verschwinden muss.


Hier zur Erklärung:

Berlin, die ehemalige deutsche Hauptstadt, nach dem Krieg besetzt von den vier Siegermächten, hatte einen Sonderstatus, ausgehandelt zwischen diesen vier Mächten. Berliner, oder als Erstwohnsitz gemeldete durften nicht in der Bundeswehr dienen, konnten also nicht eingezogen werden.


Einer muss Dr. L. informieren, der kann vielleicht helfen. Dann direkt ins Büro, um unseren Direktor zu sprechen. Derselbe, der sich zwei Jahre zuvor mit einem Lächeln meiner Hartnäckigkeit gebeugt hatte. Und er war auch in seinem Büro - was für ein Glück. Fast 20 Minuten habe ich ihm diese verrückte Situation erklärt, und ihn um Hilfe zu gebeten, dass ich das Abiturjahr am Berlin Kolleg machen kann. Er verstand sofort.

„Ich kenne den Direktor am Berlin Kolleg. Ich rufe ihn jetzt an. Das machen wir schon. Machen sie sich mal keine Sorgen.“

Und das tat er dann auch. Und nach einer Weile hatten sie alles zwischen sich geregelt und ich sollte mich Montagmorgen in Berlin anmelden und danach zum Berlin Kolleg kommen.

Es lief alles wie am Schnürchen. Während ich ihm zuhörte, kam ich nicht mal mehr zum Nachdenken. Dr. L. erschien dann auch noch, mir beizustehen, dass jetzt alles schnell geschehen musste.

„Alles klar. Sie können jetzt gehen und machen sie schnell. Wir bereiten jetzt ihre Unterlagen vor und die sind morgen früh per Express auf dem Weg nach Berlin.“

Er stand von seinem Stuhl auf, schüttelte mir mit beiden Händen die Hand:

„Ich wünsche ihnen jetzt viel Glück und es ist so schade, dass wir sie hier in Oberhausen verlieren. Machen sie sich keine Sorgen. Wir regeln das alles und sie können in Berlin anfangen, das ist schon sicher.“

Raus aus seinem Büro, Dr. L. neben mir, auf zum Parkplatz - und da warteten bereits Anne mit meinen gepackten Taschen und alle meine Klassenkameraden – und natürlich mein roter CV4, die schnellste Ente der Welt, die mich ins weit entfernte Berlin „rüber fliegen“ würde.

Anne hatte eine Adresse auf einen Zettel geschrieben:

„Da fährst du hin. Das ist mein Bruder, der arbeitet bei der Commerzbank in Berlin, und da kannst du erst mal schlafen solange wie du willst. Ich hab ihn schon angerufen. Er wartet auf dich.“

Was für ein Glück, viele Tränen und auf ging’s. Meine große Flucht, es war drei Uhr nachmittags, nur zwei Stunden waren seit meinem Gespräch mit Günther vergangen.


Meine schöne Ente, top Speed 100 km/h, mit Rückenwind 110 km/h, acht Stunden bis Berlin, aber mein Leben wurde zwei Gänge höher geschaltet, Gang 7, Überholspur, Formel 1, Berlin ich komme!

Kurz in Herten anhalten, Bye Bye sagen und sicher machen, dass auch niemand Samstag und Montag im Haus ist wenn der Postbote kommt. Sie gaben mir noch etwas Geld für die ersten Tage, ein paar Brote und los ging‘s auf die Autobahn. Nichts konnte mich jetzt mehr aufhalten. Dachte ich.

60 Kilometer hinter Dortmund dann plötzlich ein großer Krach, wie ein großer Schlag der meine Ente traf, dann begann es zu qualmen und sie rollte aus, blieb einfach auf der Autobahn stehen. Scheiße. Aber wenn etwas passieren muss, etwas passieren soll, dann ist die ganze Welt auf deiner Seite. Nach ein paar Minuten hielt ein Polizeiwagen hinter meiner Ente. Ich war gerade dabei, das Warndreieck aufzustellen. Beide Polizisten halfen mir die Ente auf den Seitenstreifen zu schieben. Einer öffnete die Haube:

„Der ist hinüber. Sieht nach ’nem Kolbenfresser aus. Der kann hier nicht repariert werden. Was wollen sie tun? Sollen wir den nächsten Pannendienst benachrichtigen?“

„Das ist viel zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten. Können sie meine Schwester anrufen? Von ihrem Wagen? Sie wohnt nicht weit weg. Die schleppt mich ab.“

Sie verständigten sich für einen Moment mit Blicken.

„Ok dann los komm, wir versuchen es.“

Das klappte auch. Die Zentrale rief meine Schwester an und öffnete die Leitung zum Polizeiwagen und dann konnte ich mit ihr sprechen.

„Kolbenfresser 60 km hinter Dortmund. Könnt ihr mich abschleppen? Kann ich in deinem VW weiterfahren?“

Meine Schwester verstand sofort.

„Keine Sorge, wir sind in einer Stunde da.“

Die Polizisten fuhren dann schließlich weiter. Meine Schwester mit VW Käfer und ihrem Verlobten sowie der Nachbar mit seinem Wagen, hielten eine Stunde später neben meiner Ente. Die Wagen wurden gewechselt, meine Schwester hatte alles bereits organisiert, kurzer Boxenstopp, für mich ging‘s weiter im Käfer, meine Ente wurde zurück nach Herten geschleppt. Trotz VW, ich war immer noch in meinem Formel1 Rennen. Alles lief super und sechs Stunden später fuhr mein Käfer in Berlin ein.

Adieu Bundeswehr. Fuck you!


Um es hier kurz zu machen. Am Montag habe ich mich beim Meldeamt angemeldet, bin danach zum Berlin Kolleg, wo der Direktor bereits auf mich wartete. Eine Woche später begann mein Unterricht. Ein Jahr habe ich verloren, weil das andere System im Berlin Kolleg es nicht zuließ, das ich in die Abitur Klasse einsteige. Aber scheiß drauf. Es ging weiter.

Meine neue Schule gefiel mir von der ersten Sekunde an. Alle Lehrer waren progressiv und jung, die Atmosphäre weitaus lockerer als in Oberhausen und meine Leistungen gingen hoch in den Himmel. Bin natürlich in Verbindung geblieben mit meiner alten Schule, fuhr jedes Wochenende rüber, um meine Freundin zu sehen, aber auch um alle aus den ersten zwei Jahren zu treffen.

Bei deren Abiturarbeiten stand ich draußen und habe gewartet und es gab danach eine Riesenparty, die in der Bewusstlosigkeit von Alkohol endete. Wir hatten es geschafft. Keiner ist sitzengeblieben. 26 haben in Oberhausen Abitur gemacht, alle die sich am ersten Tag die Rede von Dr. L. anhören mussten. Einer weniger - aber aus anderen Gründen. Aber ich habe mein Abitur ein Jahr später gemacht, mit einer Note die mir nie jemand zugetraut hatte, 2.1 im Durchschnitt, 1.6 die für die Einschreibung an der Universität zählten.

Die Statistik hatten wir geschlagen, aber was ist das schon? Eigentlich nur Zahlen die keine Bedeutung haben und die man drehen kann wie man will. Auf dieser Party, Dr. L. - war auch schon ziemlich betrunken, haben wir ihm dann alles erzählt. Alle unsere kleinen Tricks mit denen wir über drei Jahre für uns gekämpft haben. Er war so stolz, dass wir cleverer waren als dieses ganze Schulsystem. Und wir? Wir waren alle stolz, einen solchen Lehrer auf unserer Seite zu haben.

Anne ist nach ihrem Abitur zu mir nach Berlin gezogen. Nach einigen Wochen auf der Couch ihrer Bruders, fand ich meine erste Wohnung: Naunynstraße in Kreuzberg, vierter Stock, in einem alten Berliner Haus, aber es war billig. Die Toilette lag im Treppenhaus, zwischen den Stockwerken. Drei Zentimeter Platz zwischen Rahmen und Fenster, sorgten für Wind im Sommer, eine natürliche Belüftung und im Winter da war es dann drinnen so kalt wie draußen.

Um eine Dusche zu nehmen musste ich Wasser im Kessel heiß machen, mich in der Küche nackt in eine Plastikschüssel stellen und dann langsam einseifen und abspülen.

Naunynstraße habe ich überlebt, vor allem wegen meiner unheimlich netten türkischen Nachbarn. Sie kochte und backte jeden Tag für ihren Ehemann und die drei Kinder und sie brachte mir jeden Tag neue kulinarische Feinheiten der Türkischen Küche.


Sandy, meine Katze:


Ist eine Katze es wert, darüber ein kleines Kapitel zu schreiben? Ist doch eigentlich nur ein Tier, also bedeutungslos für uns Menschen die wir so clever sind, die sich so nahe zu Gott fühlen, die Spitze der göttlichen Kreation. Sind wir das wirklich oder ist das nur eine Illusion unseres fantasierenden Gehirns?

Sie ist eine der süßesten Seelen die ich je getroffen habe. Als ich drei Jahre später dann Berlin verlassen habe, hat sie Selbstmord begangen.

In Oberhausen kam sie zu mir, als Hilfe gemeint für meinen besten Freund im Wohnheim, Donald. Er wird hoffentlich heute noch leben, irgendwo in Deutschland, wahrscheinlich heute ein Arzt. Er fragte mich eines Nachts um Hilfe. Sein Vater hatte sich einige Jahre vorher aufgehängt, die Mutter verfiel mehr und mehr der Depression, in den Jahren danach den Pillen und dem Alkohol. Mir war schon aufgefallen, dass jedes Mal wenn er von einem Besuch bei seiner Mutter zurückkam, er sich in sein Zimmer oben einschloss und für viele Stunden nicht runter kam.

Als er dann schließlich erschien, war er ernst, wortkarg und nie zu Scherzen aufgelegt.

Nach einem dieser Besuche fragte er mich ob ich die Katze Sandy mit ihren zwei kleinen Babys nehmen kann. Seine Mutter verbrachte den Tag nur noch mit Alkohol, die Wohnung stank nach Katzenpisse und sie war auch nicht mehr in der Lage sie zu füttern. Aber nur vorrübergehend, er würde mir helfen ein neues Heim für sie zu finden.

Klar habe ich Ja gesagt. Er konnte sie nicht nehmen wegen seiner Allergie gegen Katzen.

So betrat Sandy mit ihren sechs Wochen alten Babys mein Leben. Sandy eine Siamesische Katze, klein, graziös, intelligent, die dahinschwebte wie eine Prinzessin auf dem Weg zu ihrer Krönung.

Er hatte mir versprochen ein neues Heim für sie zu finden, aber nichts passierte in den ersten vier Wochen. Ich hatte gerade beschlossen etwas Druck auf ihn auszuüben seinen Arsch zu bewegen und sich darum zu kümmern, als sich natürlich mal wieder alles anders entwickelte. Denselben Nachmittag kam er von seiner Mutter zurück, in Tränen aufgelöst. Seine Mutter hatte sich die Nacht vorher aufgehängt und ihr Leben beendet. Er hatte sie bei seinem Besuch gefunden.

Kein Platz mehr ein Versprechen einzufordern, und so mussten dann alle aus meiner Klasse helfen. Die beiden Babys konnten schnell untergebracht werden. Von Sandy wollte ich mich nicht mehr trennen. Sie war in mein Leben stolziert mit so viel Anmut, dass sie schon längst ein Teil war, das man einfach nicht herausschneiden konnte.


Sandy, der Schrecken aller Hunde. Ihr Revier: der Rasen und alle Gebäude des Wohnheims. Nach meiner Flucht habe ich sie dann rüber geholt in die Naunynstraße. Durch die DDR durfte man auf der Transitstrecke keine Tiere transportieren. So wurden dann Möbel transportiert, Sandy versteckt in einer Schublade hinter alten Lappen und Büchern. Dreimal anhalten auf der langen Strecke und ihr Baldriantropfen einflößen, aber es hat geklappt, sie hat ihren Mund gehalten bei der Kontrolle der Vopos.

Es folgten jetzt drei Jahre Berlin und es ist schwierig eine stinklangweilige Zeit mit begeisternden Worten zu schildern.

Mein Abitur habe ich bestanden. Anne lebte mit mir. Wir fanden eine neue Wohnung nur hundert Meter entfernt von der Naunynstraße, Oranienstraße 172, eine große Wohnung. Anne hatte ein Russisch - Studium begonnen und ich landete in der Psychologie, als Student im Psychologischen Institut in Schöneberg.


Waldvogel – weitreichende Folgen:


Einmal bin ich zu einer dieser Russischen Partys mitgegangen, veranstaltet von ihren Kommilitonen. Das waren alles nur langweilige Leute und einmal war genug für mich, sie konnte dann in Zukunft alleine gehen.

Eines Sonntagmorgens, Anne war erst früh von einer ihrer Partys zurückgekehrt, traf ich sie in der Küche, sie konnte immer noch nicht schlafen, war die ganze Nacht ganz aufgedreht von dem Gespräch mit einem Typen. Und sie musste mir auch alles in Einzelheiten erzählen. Ein Typ namens Waldvogel, ein Schweizer Astrologe, der wohl von Party zu Party zog und so seinen Lebensunterhalt bestritt.

„Ich habe sofort ein Horoskop bei ihm bestellt. Dauert nur drei Tage und kostet nur 20 Mark. Mach doch auch eins. Wäre vielleicht gut für uns.“

Ein Horoskop, was für einen Mist. Ich war links, Sponti, ganz sicher nicht an Sterne glaubend.

„Wir können das dann zusammen machen, dann braucht er nur einmal herkommen.“

Ich bereitete den nächsten Tee in der Küche und wartete, dass das Wasser kocht. Nur ein paar Tage zuvor hatte ich mein BAföG bekommen. Sie war so aufgedreht. Warum eigentlich nicht? Sind ja nur 20 Mark.

Ich musste meine Mutter noch in dieser Nacht anrufen, weil Waldvogel auch die Geburtszeit wissen wollte. Anne rief ihn dann an und ja, er würde in drei Tagen kommen. Er betrat dann auch unsere Wohnung an dem vereinbarten Abend, etliche Bücher unter dem Arm, wohl vorbereitet, auf unsere Horoskope. Ich wollte es einfach nur schnell hinter mich bringen, es war Anne die den ganzen Tag schon darauf gespannt wartete, etwas über sich zu erfahren.

Deshalb mich zuerst und das schnell. Wir saßen auf dem Teppichboden, und die nächsten zwei Stunden habe ich kein Wort mehr gesagt. Was dann folgte, darauf war ich nicht vorbereitet. Er redete nur über mich. Dabei konnte er nichts über mich wissen. Anne hatte ihm nichts erzählt, wir hatten uns vorher nie getroffen. Und trotzdem, er wusste alles über mich. Er sagte mir, wann mein Vater gestorben war. Korrekt. Erzählte mir, dass meine Großmutter mich regelmäßig bis zum siebten Lebensjahr geschlagen hat. Korrekt. Das meine wunderschöne Freundin M. aus Herten, fast im Krankenhaus in Marl gestorben ist, und wann das war. Korrekt.

Sie hatte tatsächlich einen Blinddarmdurchbruch. Dreimal musste ihre vernähte Narbe wieder geöffnet werden um den Innerraum nochmals zu säubern. Aber es half nichts bis zu der Nacht in der wir alle an ihr Bett gerufen wurden, weil sie sterben würde, so die Ärzte. Aber sie sollte die Nacht überleben. Korrekt.

Er erzählte mir alles über mich, was niemand wissen konnte. Zwei Stunden habe ich ihm zugehört, danach in der Küche gewartet bis Anne mit ihrer Sitzung fertig war.

Ich war schockiert, hatte diese akkuraten Aussagen über meine Vergangenheit nicht erwartet. Auch Annes Zeit war um und wir alle tranken Tee auf unserem Teppichboden. Und jetzt hatte ich natürlich Fragen. Vor allem wie er das alles wissen konnte? Seinen Erklärungen konnte ich nicht so richtig folgen. Aber wenn er so korrekt sein konnte mit der Vergangenheit, dann musste er uns etwas über unsere Zukunft sagen. Natürlich hat er sich mit allen möglichen Argumenten gesträubt, aber zwei Leuten gegenüber, die wissen wollte und auch nicht lockerließen, da gab er dann schließlich nach und zog auch eine Kladde aus seiner Tasche heraus. Er hatte sich sogar auf unsere Zukunft vorbereitet.

Was er Anne erzählte, kann ich mich nicht erinnern. Aber auch an rein gar nichts.

Was er mir sagte:


1) In zwei Jahren werde ich Deutschland im Februar verlassen. Diese Reise wird mein ganzes Leben andauern. Ich werde in vielen Ländern leben. Ich werde fast mein ganzes Leben außerhalb Deutschlands verbringen, nur manchmal für kürzere Zeiten zurückkommen. Ich werde in einem fremden Land sterben.

2) Der Höhepunkt meines Lebens ist mit 47. Danach würde meine Lebensenergie langsam zurückgehen.

3) Sehr spät in meinem Leben werde ich eine junge Frau heiraten. Sie könnte so um die 18 bis 20 Jahre alt sein.

4) Mit 55 wird ein Erlebnis mein Leben gründlich durcheinander bringen. Es kann eine Bombe sein, oder auch ein großes Feuer. Ich werde alles verlieren, was ich besitze. Aber mir wird nichts geschehen. Auch den Menschen die nahe bei mir sind wird nichts geschehen. Dieses Ereignis wird nur für eine Weile für ein großes Chaos in meinem Leben sorgen.


Ich hab den Typ heute immer noch vor Augen, wie er da vor mir sitzt und mir diese Punkte aufzählt, fast genauso wie ich sie hier wiedergebe. So gut er mit seinem Horoskop gewesen war - diese Vorhersagen waren totaler Blödsinn. Einen Bombenanschlag auf mein Leben. Als alter Mann eine 18 jährige heiraten, haha, schön wär‘s, will ja wohl jeder alte Mann. Deutschland für mein ganzes Leben zu verlassen, das konnte gar nicht sein. Wollte schließlich mein Psychologie - Studium abschließen, dann noch weiter lernen und als Psychologe arbeiten.

Nachdem er dann gegangen war, haben Anne und ich noch einigen Stunden darüber diskutiert, aber am nächsten Tag ging einfach der normale Trott weiter, man konzentrierte sich aufs Studium, und Waldvogel war vergessen.


Ende des zweiten Jahres in Berlin war dann auch unsere Beziehung zu Ende. Sie zog in eine kleine Wohnung, Eisenacherstraße, und einige Monate später hatten wir den Kontakt ganz verloren.

Da ich ja nun mein Abitur mit so einer guten Note in der Tasche hatte, standen mir eigentlich alle Studien offen, und ich Idiot wähle Psychologie, eine Einsicht die mir erst viel später kam.

Ich wollte Menschen helfen, die Gesellschaft verändern, Menschen in ihrem tiefsten Inneren verstehen lernen, Frieden und Liebe für die Welt und da bot sich die „Kritische Psychologie“ an - am Institut in Schöneberg.

Neben den Uralt - Psychologen, Freud, Jung, Skinner, wurde zu mindestens auch das Kapital von Karl Marx sowie Trotzki und Lenin angeboten. Allerdings kein Reich, das war dann wohl zu links für die beiden Professoren Holzkamp und Osterkamp, Überbleibsel der Studentenbewegung 1968/69.

1976 habe ich begonnen mit vielen, vielen Hoffnungen in die Zukunft und ins Studium. Aber die Realität war leider ganz anders. Ich habe zwar alle Scheine gemacht die man brauchte, aber verstanden habe ich wenig. Ich fühlte mich eigentlich am falschen Platz. Ich war einfach so ruhig und auch irgendwie eingeschüchtert, und fühlte mich richtig blöd. Jeder um mich herum sprach einfach fürchterlich intellektuell.

Mehr als zwei Jahre dieses Studiums, ich hatte viel gelernt, nicht viel über Psychologie aber viel über die Fähigkeit intellektuell zu reden wie alle anderen. Was sollte ich mit diesem Studium anfangen? Leuten helfen? Ich fühlte mich unfähiger und blöder als zu Beginn des Studiums. Erwog sogar schon alles hinzuschmeißen und ein anderes Studium neu zu beginnen.


Ein Leben

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