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Kapitel 9
ОглавлениеIrmgard – ein Ende – 12. Januar 1978
Der normale Trott des Studiums ging jetzt einfach weiter, so als ob der Streik nie stattgefunden hatte. Wir hatten nichts erreicht mit dem Hochschulrahmengesetz. Andere waren verantwortlich für die Bundesrepublik Deutschland und denen ging es am Arsch vorbei was die Studenten oder die Bevölkerung wollte. Es war einfach zum Kotzen frustrierend für alle Studenten, die an dem Streik teilgenommen hatten.
Drei Nächte in der Woche schlief ich in Irmgards WG. Sie hat in etwas mehr als drei Monaten nie auch nur eine Nacht in der Oranienstraße verbracht. Ich konzentrierte mich jetzt auf mein Studium. Irgendwie war was mit mir passiert. Ich war anders. Ich bin durch das Feuer gelaufen und hatte mich nicht verbrannt. Dezember in Berlin, es ist sehr kalt. Gegen Ende Dezember dann eines Nachts, nackt im Bett mit ihr:
„Über uns .............“ sie ließ den Satz verklingen. „Ich werde im Februar nach Indien reisen, über Land.“
„Was meinst du damit? Du gehst nach Indien? Im Februar?“
„Meine Freundin und ich haben das beschlossen. Wir fahren zusammen nach Indien, für vielleicht sechs Monate.“
„Nach Indien? Warum? Und was ist mit uns? Ich gehe bestimmt nicht nach Indien. Was soll ich da? Warum sollte ich gehen?“
„Ich rede nicht über dich. Wir gehen alleine, ohne dich.“
Schock, Überraschung, mir fiel in diesem Moment nichts an Worten ein. Und überhaupt, wo ist dieses Indien? Irgendwo da hinter dem Mond. Ich war nie weiter gekommen als Gran Canaria, mit einer dieser Pauschalreisen. Ich wusste nichts über Indien. Und ganz sicher würde ich da nie hinfahren.
Das war‘s. Beziehung zu Ende da irgendwann im Februar. War ja nicht mehr weit weg.
„Warum? Und wer ist diese Freundin? Hab dich nie mit einer Freundin gesehen seit wir uns kennen. Dann bist du doch lesbisch?“
Sie hatte in der ganzen Zeit nie eine Freundin erwähnt und auch keine getroffen.
„Du kennst sie nicht. Du wirst sie in zwei Tagen treffen. Ja, sie ist lesbisch, aber ich nicht. Hab dir das schon mal gesagt. Sie ist eine sehr gute Freundin und wir wollen alleine fahren.“
„Und?.........mit uns.........?“
„Wir trennen uns an dem Tag, an dem wir losfahren. Ist das ok mit dir?“
Was für eine blöde Frage.
„Wenn wir nach Berlin zurückkommen, dann werden wir ja sehen, ob es mit uns weitergeht oder auch nicht. Aber wir wissen noch nicht, wie lange wir fahren. Sechs oder acht Monate oder vielleicht auch das ganze Jahr.“
Jedes andere Wort war jetzt eigentlich eine Verschwendung von Zeit. So gut kannte ich sie. Sie würde fahren und nichts konnte sie davon abhalten. Sicher nicht ich. Diese Seite an ihr hab ich auch immer etwas bewundert. Ich muss mich jetzt einfach auf das Studium konzentrieren, und wenn sie je wiederkommt, ok, dann werden wir ja sehen.
„Warum treffe ich deine Freundin erst in zwei Tagen? Lebt sie überhaupt in Berlin?“
„Sie hat immer hier gelebt, aber du hast sie bis jetzt noch nicht getroffen. Wir treffen in zwei Tagen jemanden in Tegel. Er war schon mal in Indien und er hat viele Fotos. Wir müssen jetzt einfach viel über Indien lernen.“
Sie hat wahrscheinlich mein Zögern mitgekriegt, auch vielleicht meine Unsicherheit, was ich mit dieser Situation anfangen soll. Das „wir“ war jetzt natürlich plötzlich: sie und ihre Freundin und nicht mehr sie und ich.
„Bitte, bitte, du musst mitkommen. Bitte helfe mir. Ich brauche dich jetzt. Ich brauche deine Unterstützung. Wir müssen jetzt so viel über Indien lernen. Welche Medizin und welche Impfungen wir brauchen und wie wir über Land da hinkommen. Ich brauche dich an meiner Seite. Bitte komm mit uns mit. Wir haben nur noch fünf Wochen. Wir wollen am 5. Februar aufbrechen.“
Damit hatte sie mich. Ob ich wollte oder nicht. Immerhin waren es ja fünf weitere Wochen mit ihr. Zeit, mich an diese neue Situation zu gewöhnen, Zeit, Good Bye zu sagen und auf mein Studium umzuschalten.
„Ok, ich helfe dir. Wenn du in Indien bist studiere ich halt. Aber was ist wenn ich eine neue Freundin finde, und du kommst zurück? Ist das ok für dich?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich auch mit einer neuen Freundin.“
Es war schon in diesem Moment zu Ende mit uns. Es war eigentlich alles gesagt und alles klar. Sie hatte mich runtergestuft, vielleicht nur vorübergehend, von Lover und Boyfriend, zum Freund.
Zwei Tage später dann das Treffen mit ihrer Freundin, sie war ganz nett. Zusammen fuhren wir zu diesem Typen in Tegel, für den großen Vortrag über Indien mit einigen hundert Fotos. Er hatte Kerala besucht in Südindien und ja, es sah super aus da, mit Kanälen und leeren weißen Sandstränden, tropischen Wäldern in sattem dunkelgrün. Irmgard hatte sich bereits ein großes Notizbuch angelegt, außen in großen Buchstaben: INDIEN. Sie hing an seinen Lippen, fleißig jedes Wort aufschreibend, das da rausfloss. Mir war es langweilig, hörte oft gar nicht zu, trank meinen Wein und ja, ich war auch ein wenig eifersüchtig. Er badete sich in der Aufmerksamkeit dieser zwei wunderschönen Frauen. Hat wahrscheinlich noch nie mit solchen Schönheiten gesprochen. Sein Vorteil: er war schon mal in Indien.
Den nächsten Abend trafen wir uns wieder in ihrer WG. Der große Aufenthaltsraum hatte sich über Nacht verwandelt. Alle Fotos und Kunstdrucke hatten sie von den Wänden genommen. Stattdessen zierte eine riesige Landkarte die Wand. Mindestens 3 Meter mal 3 Meter. Indien. Woher sie die organisiert hatte über Nacht, keine Ahnung. Wahrscheinlich in irgendeiner Schule gestohlen. Also war alles sehr ernst mit ihren Plänen. Mit einem riesigen Lächeln begrüßte sie mich.
„Guck mal was ich gefunden habe“ mir mit der Hand die gesamte Wand präsentierend.
„Indien, und wir haben auch schon unsere ersten Nadeln gesteckt.“
Ich hatte sie sofort gesehen, die roten Stecknadeln. Immer noch fünf Wochen bis dahin. Indien, Indien, Indien. Jeden Tag Indien. Sie schleppten mich von einem Typen zum Anderen, jeden Tag neue Vorträge und neue Fotos, neue Geschichten von diesem so fernen Land. Die beiden hatten wahrscheinlich jeden in Berlin gefunden der schon mal Indien besucht hatte. Einige sind geflogen, andere mit öffentlichen Bussen gefahren, wieder andere hatten Busse überführt um sie dann in Nepal oder Indien zu verkaufen.
Ich war irgendwie zerrissen zwischen Langweile und nicht Loslassen von ihr, hinter ihnen herlaufend, nicht interessiert an Indien, runtergestuft zu einem Unterstützer.
Ihr Indien Buch wurde voller und voller und ein zweites Buch wurde begonnen - und weiter ging‘s mit Informationen.
12. Januar 1978:
Ich besuchte sie am Nachmittag. Irmgard war total beschäftigt mit ihren Nadeln und ein leerer Rucksack lehnte bereits an der großen Wand. Ich setzte mich an den großen Tisch und da lag dann das neue Stern - Magazin. Ich blätterte da so einfach durch und meine Augen blieben an einem schönen Foto hängen. Eine schöne nackte Frau, die friedlich entspannt im Schneidersitz unter einem Wasserfall saß. Der Artikel war über Indien.
„Hey Irmgard, hast du das gesehen? Im Stern ist ein Artikel über Indien.“
„Ja klar, aber das ist nicht unser Ding. Irgendeine verrückte Sekte. Da wollen wir nichts mit zu tun haben.“
Trotzdem las ich den Artikel. Eine verrückte Sekte in Poona. Ein Aschram, therapeutische Gruppen, Sex und ein Guru. Was immer das war! Und alle trugen rote Kleider.
„Hört sich aber interessant an. Therapeutische Gruppen. Das würde gut in unser Studium passen.“
Keine Antwort. Sie war nicht interessiert.
„Wo ist eigentlich dieses Poona?“
Ihr Finger folgte ihren vielen roten Nadeln, kam zur Ruhe neben ihrer Nadellinie.
„Aber da fahren wir nicht hin. Neben Bombay. Wir fahren von Bombay direkt nach Goa und dann nach Kerala.“
Das war‘s zum Thema Poona.
Irmgard zu beobachten, wie sie da so rummachte mit ihren Nadeln und dem Rucksack, das liebte ich. Sie wurde von Tag zu Tag schöner. Ihre Augen glitzerten wie Sterne, ihr Körper strahlte die Elektrizität von etwas Neuem und von viel Abenteuer aus. Sie war am Leben, bereit sich ganz dieser tollen Zukunft hinzugeben.
Ende Januar hatten sie dann nochmals einen ganz neuen Typen aufgetan, und der musste unbedingt besucht werden. Sie hatten gehört, dass er der Spezialist für Indien - Reisen ist. Dreimal soll er schon dagewesen sein. Tagelang versuchten sie ihn am Telefon zu erreichen, aber er hob nie ab. Also fuhren wir am Sonntagmorgen mit der U Bahn nach Neukölln. Die beste Zeit jemanden in Berlin anzutreffen, ist der Sonntagmorgen. Da schläft Berlin noch und keiner will raus aus seinem Bett. Um zehn Uhr morgens, Sonntags, bei irgendeinem zu klingeln, lief man Gefahr von einem fliegenden Schuh begrüßt zu werden.
Er antwortete dann auch nicht auf das viele Klingeln an seiner Haustür. Aber sie wollten nicht aufgeben. Endlich dann die ersten Geräusche von drinnen, ein dumpfes Gemurmel in Bayrisch und die Tür wurde geöffnet. Da stand er dann im dreckigen Frottee Bademantel, die Augen zusammengekniffen, unrasiert, starrte uns wortlos an, winkte uns rein, ganz sicher nur, um zu verhindern, dass wir weiter klingeln.
Irmgard wollte erklären, er stoppte sie sofort und führte uns in seine dreckige Küche. Keiner sprach ein Wort, irgendwie verboten in dieser Situation. Er starrte uns weiter an und begann sich eine Zigarette zu rollen. Es war ganz klar: der Typ war einfach noch nicht in der Lage irgendwas zu sagen, wollte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Die Kaffeemaschine wurde angeschmissen, seine Zigarette am Ende, ein kleines Döschen erschien auf dem Tisch, jetzt wurde ein Joint gebaut und geraucht. Ist ja auch das Beste zum Frühstück.
Irgendwann nach einer Stunde und noch einem Joint war er dann endlich bereit zu sprechen und wollte wissen, was wir von ihm wollten.
Er nahm Irmgards Notizbuch, blätterte es durch und gab‘s ihr zurück mit der Bemerkung:
„Alles Mist. Das vergiss mal lieber.“
Dann ging‘s los und Irmgard begann fleißig zu schreiben und diesmal hörte ich zu. Der Typ war einfach faszinierend zu beobachten und natürlich halfen die Joints, die er mittlerweile mit mir teilte. Dieser Typ wusste wirklich alles. Welchen Bus man in Istanbul nehmen muss, Puddingshop, Casablanca Steakhaus in Kabul, welcher Zug nach Pakistan. Wie viel was kostet und alle Adressen von den billigsten Hotels.
Die erste Stunde brachte er kein Wort raus, die nächsten fünf Stunden konnte keiner den Redefluss stoppen. Und natürlich halfen die vielen Joints. Spät nachmittags dann zurück per U Bahn und ich total zugekifft in die Oranienstraße.
Die beiden Rucksäcke waren mittlerweile voll, wurden jeden Tag wieder geleert und neu gepackt und die roten Nadeln formten eine klare Linie von Berlin über die Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan, Indien, Bombay, Goa, Kerala und dann wieder hoch bis Nepal.
Die letzte Woche war dann eigentlich nichts mehr zwischen uns. Keine Nacht mehr mit ihr und das schon die letzten Wochen. Ich saß für eine Stunde mit denen rum, sie beobachtend und danach zurück in meine Bude. Für mich ging‘s weiter mit dem Studium und manchmal nachts auszuhängen im Max und Moritz, einer linke Kneipe in Kreuzberg.
Der Sonntag vor ihrer Abreise, ein wichtiger Tag wie sich später herausstellte. Petra, sie hatte drei Jahre zuvor mit mir ihr Abitur am Berlin Kolleg gemacht, rief mich Tage vorher an um mich zu ihrem Geburtstag einzuladen. An diesem Sonntagmorgen, ein Sektfrühstück um acht Uhr. Mit der U-Bahn an diesem Morgen nach Schöneberg, es schneite in Berlin, die Hauptstraßen waren alle schon geräumt. Die Nebenstraßen versteckten sich immer noch unter einer flauschigen weißen Schneedecke.
Ein Super Tag. Er fühlte sich an wie ein neuer Anfang. In mir hatte Irmgard ihre Reise bereits angetreten. Wie eine Zauberfee hatte sie mein Leben drei Monate zuvor betreten, hatte so viele Türen in mir geöffnet, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gab. Und so verließ sie auch mein Leben, wie ein Traum und man wacht am nächsten Morgen auf und fragt sich:“ War das wahr? War das real?“ Irgendwie hatte ich auch immer gewusst, dass es genauso sein würde, ein langer wunderschöner Traum und dann eines Tages das Aufwachen.
Es war arschkalt in Berlin an diesem Morgen. Ich betrat Petras Wohnung, alle ihre besten Freunde saßen bereits an dem großen Tisch, der mit dem Besten an Käse, Wurst, Eiern, Croissants und Baguette beladen war. Die ersten Flaschen Sekt waren bereits geöffnet.
Ich gab ihr mein kleines Geschenk, ein Buch über die Deutsche - Räte Bewegung 1918/19. Ich wusste sie würde es mögen. Es ist schwierig die nächsten drei Stunden zu beschreiben. Studenten machen was sie immer machen - wild über die Gesellschaft diskutieren, über Freiheit und Gleichheit, über Veränderung, unsere Politiker und die Polizei, das Studium und das alles extrem intellektuell, gespickt mit superschlauen Worten. Das hatte ich ja gelernt in den letzten fast drei Jahren und so ging‘s dann los, in dem Moment an dem man an diesem Tisch Platz nahm. Jeder hat natürlich seine eigene Meinung und die verteidigt man bis fast aufs Blut.
Ich war die erste Stunde voll dabei, nur manchmal einen Moment die Schneeflocken vor ihrem Küchenfenster bestaunend die langsam am Fenster vorbeiglitten. Es sah draußen einfach so herrlich friedvoll aus. Ich wurde ruhiger und ruhiger, nahm nicht mehr an den verbalen Schlachten vor mir teil, begann diese Menschen zu beobachten, während sie ihre schweren Wortmaschinen in Stellung brachten, sie aufeinander abfeuerten. Eine Schlacht tobte da vor mir und getrennt durch eine kleine Glasscheibe schwebten da diese kleinen Kristalle vorbei, vom leichten Wind getragen und niemand sah es.
Petra erschien neben mir mit einem Sektglas:
„Du bist so ruhig. Muss ich mir Sorgen machen um dich? Es ist mein Geburtstag. Kannst du lächeln?“
Mit ihr konnte ich lächeln, eine wunderschöne Seele, die an diesen scheiß- verbalen Schlachten nicht teilnahm. Das war alles so fürchterlich langweilig vor mir. Keiner hörte dem anderen zu. Die Worte waren einfach nur Worte, die keine Bedeutung hatten, keinen Inhalt. Dahinter Menschen, die ganz anders waren. Die Worte hatten einfach keine Verbindung mehr zu diesen Menschen, die ihren Mund öffneten - es floss etwas Sinnloses raus und niemand merkte es.
„Rede ich auch so?“
Ich begann mich zu wundern.
„Rede ich auch so einen Unsinn?“
Ich folgte dieser Schlacht, von Person zu Person, sah mir ihre Gesichter an, die alle so starr waren. Wie Masken, die alles verbergen, was dahinter ist. Eine Frau mir gegenüber war an einer feurigen Diskussion beteiligt. Ihre Augen blinzelten raus aus ihrer Maske, tanzten wild und eingeschüchtert in dem kleinen Raum der Augenlöcher und sie war traurig, nahe dem Heulen. Warum ist das so? Haben wir das alle?
Je weicher das Innere, desto härter das Äußere, die Maske. Und sie hatten alle Masken die auch rein gar nichts mit dem inneren Menschen zu tun hatten.
Der Moment war dann genug für mich und ich wollte nur noch raus, weg von hier. Ich stand auf und ging rüber zu Petra:
„Sorry, aber ich muss jetzt gehen. Hab noch an meiner Arbeit zu schreiben. Happy Birthday und es war so schön hier mit dir zu sein.“
Meine Maske und es tat mir irgendwie um Petra leid. Aber ich musste einfach raus. Ich war in einer Sekunde draußen, stand auf dem Bürgersteig. Schneeflocken tanzten ihren langsamen Foxtrott um mich herum, hüllten mich ein, nahmen mich in die Mitte. Die Straße vor mir zeigte keine Reifenspur, soweit das Auge reichte eine sanfte Schneedecke.
„Oh wie schön ist das, atemberaubend.“
Und dann zwei Gedanken.
„Was Irmgard machen kann, das kann ich auch.“
„Ich gehe nach Indien und das alleine.“
Nur diese zwei Gedanken und mein Leben wurde in neue Bahnen gelenkt. 50 Meter zur linken Seite eine Telefonzelle, mit Schnee bedeckt und da musste ich hin.
Was musste ich machen, um schnell aufzubrechen? Es ging zur Zelle durch den Schnee, schnell mein Notizbuch suchend, ein Anruf, ich hatte mir seine Nummer aufgeschrieben.
Klar nahm er den Hörer nicht direkt ab, aber ich ließ es klingeln und klingeln. Und nochmal wählen und wieder klingeln lassen, bis endlich nach einer Weile, der bayrische Akzent sich auf der anderen Seite meldete.
„Was willst du?“
„Ich bin‘s. Karl. Erinnerst du dich? War vor zehn Tagen bei dir mit den beiden Frauen?“
„Ja klar. Was willst du?“
Ich will in sieben Tagen nach Indien aufbrechen. Alleine. Ich brauche deine Liste. Kann ich sofort kommen?“
Stille in der Leitung.
„Dann komm mal lieber schnell. Ich warte auf dich.“
Ein drei Stunden Sektfrühstück, ein Tanz von Schneeflocken und zwei Gedanken. Mein Leben wechselte die Spur, nahm eine neue Wendung.
Diesmal wartete er auf mich. In seiner dreckigen Küche gab es Kaffee und es wurde sofort ein Joint gebaut. Aber diesmal nicht für mich. Ich musste einen klaren Kopf behalten. Er saß da, als ob er seine Küche in den letzten Tagen nie verlassen hatte. Er hatte bereits mit meiner Liste begonnen, schön vom Anfang an mit Berlin.
Er gab mir ein Blatt Papier:
„Habe die Liste bereits angefangen und du schreibst alles nieder was ich dir jetzt sage. Warum fährst du jetzt? Willst du ihr folgen?“
„Nein will ich nicht. Ich fahre allein. Ich werde ihr auch nichts sagen. Es geht nicht um sie. Ich fahre. Ich will sie auch unterwegs nicht treffen.“
„Alles so plötzlich, aber ok. Wann willst du los?“
„In sieben oder acht Tagen, kann ich das schaffen?“
„Klar, musst nur meiner Liste folgen. Wann fährt sie?“
„In fünf Tagen, am Samstag.“
„Siehst du sie nochmal?“
„Ja, heute Abend, und vielleicht nochmal am Freitag, aber das ist dann der Abschied.“
Dann ging‘s los. Berlin - Istanbul mit dem Zug; Pudding-Shop; Der Bus bis Teheran;
“Du darfst im Iran kein Dope rauchen. Die killen dich dafür.“
Dann weiter mit Bussen, über Afghanistan, Pakistan, und Indien und dann war ich da – in Indien. Hört sich einfach an.
In Mashhad musst du die Nacht verbringen, weil der Bus zur Afghanistan Grenze schon um 11 Uhr morgens fährt, den schaffst du nicht mehr wenn du von Teheran ankommst. Es gibt nur einen am Tag.“
Drei Stunden hörte ich ihm zu, schrieb jede Einzelheit nieder. Aber das konnte ich alles schaffen. Hatte gerade ein Prämiensparen ausgezahlt bekommen - 5000 DM. Nach meiner Kalkulation konnte ich für sechs Monate mit drei bis viertausend Mark auskommen. Eintausend Mark lasse ich in Berlin, für meinen späteren Einstieg. Einen Monat für den Hinweg, vier Monate Indien und einen Monat um über Land zurückzufahren.
Schon in der U-Bahn auf dem Weg zurück in die Oranienstraße begann ich meine eigene Liste.
Ich musste einen Platz für Sandy finden, meine wertvollen Sachen wie Akai-Tonband, Plattenspieler und Platten bei Freunden einlagern. Einen Studenten finden, der meine Wohnung für sechs Monate nimmt.
Ab da gab‘s keine Universität mehr für mich. Die musste jetzt einfach auf meine Rückkehr warten.
Sonntagabend sah ich Irmgard und ihre Freundin dann nochmal für knapp eine Stunde - und auch am Freitag. Aber es war vorbei. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass ich irgendwie fehl am Platze war. Ich gehörte nicht mehr dazu. Und natürlich habe ich denen nichts von meinen Plänen gesagt. Ein süßes Geheimnis in mir.
„Was du kannst, kann ich auch.“
Es war natürlich ein Schock für meine Mutter, weit weg in Herten, aber ich hab die zwei Stunden am Telefon überlebt, nach einigem Heulen von ihr. Sie musste das einfach verstehen, was ich eigentlich selbst nicht verstand. Aber was passiert, das passiert und dann geht man einfach vorwärts.
Sandy fand für sechs Monate ein neues Heim bei einem Freund. Der hatte eh schon eine Persische Katze und Sandy mochte ihn, wenn er mal bei mir vorbeikam. Petra nahm meine paar wertvollen Besitztümer in Verwahrung. Sie war schockiert, dass ihr tolles Sektfrühstück das alles ausgelöst hatte. Ein Student für meine Wohnung fand sich auch. Vier Monate Miete zahlte er im Voraus, wusste aber noch nicht ob er sie für sechs Monate nehmen konnte. Den Rest würde er später, nach meiner Rückkehr zahlen. Dienstag, am Tag von Irmgards Abreise, war ich nur mit meiner Liste und meinen Vorbereitungen beschäftigt. Irmgard war einfach weg. Weg! Ich verschwendete nicht einmal einen Gedanken an sie.
Mitte der Woche war alles erledigt. Es hatte mich sieben Tagen gekostet und ich entschied mich am Donnerstag das Zug-Ticket für Freitag den 10. Februar zu kaufen. (Hier gibt es leider einen Fehler in der englischen Version, weil ich leider die Wochentage durcheinander gebracht habe)
Zwei Tage vorher nochmal in die Disko, alle Freunde vom PI und neue, die ich im Streik kennengelernt hatte, zu treffen. Die letzte Nacht verbrachte ich dann alleine in der Oranienstraße. Es gab nichts mehr zu irgendjemanden zu sagen. Sandy war bereits bei meinem Freund und sie würde ich vermissen. Mein Herz hing an ihr! Sie und Ich – meine Familie.
Draußen vor meinen Fenstern schneite es. Ich saß die ganze Nacht auf meinem Teppichboden. Alles war arrangiert. Zug am nächsten Morgen um neun Uhr. Eine wunderschöne Nacht mit vielen Zigaretten, den Schnee beobachtend, da draußen im kalten Berlin. Sich wundern über sein Leben und die merkwürdigen Seitenstraßen die plötzlich auftauchten. Ich wartete auf den Morgen, der Blinker war gesetzt, wo würde diese neue Straße mich hinführen?
Der nächste Morgen: Bahnhof Zoo, der Zug nach München, danach der Orient Express bis Istanbul. In Berlin lag Schnee, es war saukalt. Ich fand ein leeres Abteil, den Rucksack rein und dann raus ans große Fenster in den Gang. Es ging los. Das musste ich sehen.