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Kapitel 12
ОглавлениеAfghanistan - Das Paradies / Pakistan
Zwischen Afghanistan und dem Iran lag ein Niemandsland, ein Streifen Wüste den niemand betreten durfte. Eine Straße von der Iranischen Grenzstation bis zur afghanischen Grenzstation, ein oder zwei Kilometer totes Land. Soweit wir blicken konnten, Sand, Sand, Sand und unsere Straße verlor sich im Horizont.
Also los! T Shirt um den Kopf gebunden, Bundeswehrjacke über den Arm gelegt, 25 kg auf dem Buckel, Zähne zusammenbeißen, jetzt konnte es nur noch besser werden.
Da draußen, hinter dem Horizont, lag irgendwo unser Paradies. Die Gespräche zwischen uns gingen nur noch um Joints und Marihuana und ob wir schon an diesem ersten Abend den ersten legalen Joint rauchen könnten. Aus Herten stammend, waren die Wörter Joint und Marihuana Fremdwörter. Da gab‘s keine Drogen, da kannte man niemanden, der es auch nur einmal probiert hatte.
Für Kiffer aus den großen Städten aber, war Afghanistan das Paradies, wo jeder rauchte, wo es angebaut wurde, der beste Stoff der Welt. Für mich aus Herten, auch immer noch ein Fremdwort. Ich hatte es in meinem Leben nur einige Male probiert. Ein paar Mal in Berlin bei meinem Bayern und zweimal mitgeraucht im Bus durch die Türkei. Marianna hatte kein Interesse an Joints, wir liefen nebeneinander her und machten uns über die anderen lustig, die schwitzend neben uns liefen, ihrem Traum so greifbar nah.
Afghanistan - heute kennen wir es als das Land der Terroristen. Selbst Bundeswehrsoldaten kämpfen dort jetzt einen Kampf der Amerikaner, ja noch mehr Terroristen zu produzieren. Einen dummen Kampf den bestimmt kein Afghane je wollte. Dieser Krieg kostet 30 Milliarden Dollar im Jahr, von denen natürlich kein Afghane je auch nur einen zu Gesicht bekommt. Ein Riesengeschäft, diese Maschine zu füttern - unten in das Loch rein und oben sitzen sie in feinen Anzügen und fischen die Dollarnoten raus - und so nebenbei werden da auch Terroristen an langen Haken raus gefischt.
Ja, das Land der Terroristen, ein fürchterliches Land, so stellt es unsere unabhängige Presse dar. Heute, mit 65 kann ich nur sagen, es ist ein einziger dreckiger Witz, eine dreckige Lüge, mit der wir jede Sekunde gefüttert werden. Sie müssen dort einen irren Hass auf uns haben und das zu Recht. Wenn ich als Afghane geboren worden wäre, würde ich mit der Kalaschnikow jeden Deutschen, Amerikaner, Briten, Franzosen usw. niedermähen, der meine Nachbarn hinrichtet und mein Land zerstört.
Was du anderen antust kriegst du zurück. Wenn ich dich mein Leser ins Gesicht schlage, dann schlägst du zurück. Und du hast alles Recht der Welt dazu. Wer bin ich, dass ich dich schlage? Und wenn ich gerade zu stark bin, vielleicht weil ich meine großen Drohnen dabei habe, nun, dann wartest du bis ich mal nicht hingucke. Und dann schlägst du zu. Und du hast alles Recht dazu.
Weggucken geht nicht. So zu tun als ob es ja gar nicht meine Schuld ist auch nicht. Jeder Mensch hat die verdammte Verantwortung für jede seiner Taten. Und jeder Mensch hat auch die verdammte Verantwortung seine Schnauze aufzumachen wenn anderen Menschen Schaden zugefügt wird und ihnen beizustehen.
Wer diese Verantwortung nicht jede Sekunde in seinem Leben akzeptieren kann, der ist nichts anderes als ein Feigling.
Das Afghanistan, das ich erlebt habe, hat wirklich nichts mit der heutigen Realität zu tun. Ich erinnere mich heute mit Achtung an jeden Tag und jede Sekunde die ich in diesem Land verbracht habe. Die Menschen kennenzulernen, ihre Kultur und die Gastfreundlichkeit, die ich überall erlebt habe.
Endlich, nachdem wir eine lange Zeit in der brütenden Hitze laufen mussten und dementsprechend schwitzten, erschien in der Ferne ein kleines weißes Haus. Wir erkannten drei klitzekleine Figuren davor, die in unsere Richtung blickten. Der afghanische Grenzposten mit den Grenzbeamten. Schon von weitem konnten wir das große breite Grinsen auf ihren Gesichtern erkennen.
Dieses erste Treffen mit Afghanistan verlief genauso wie ich es hier jetzt schildere. Wir hatten es zu dem kleinen Gebäude geschafft und ließen schwitzend unsere Rucksäcke auf die Straße fallen. Drei Zollbeamte in dreckigen Uniformen, aufgereiht vor uns auf der Straße, mit lächelndem Gesicht und so freundlichen Augen, erwarteten uns. Gleichzeitig machte jeder einen Schritt zu uns, nahm die Hände von den ersten dreien und schüttelten sie kräftig.
Dabei diese Rede:
„Willkommen in Afghanistan. Afghanistan ist ein gutes und glückliches Land. Wir lieben euch alle. Der Iran ist ein sehr schlechtes Land und wir wollen keine Iraner in unserem Land.“
Und noch mehr Händeschütteln. Der Typ in seiner dreckigen Uniform ließ meine Hand nicht mehr los.
„Willkommen, Willkommen, wir lieben euch alle.“
Ist irgendjemand jemals bei einem Grenzübertritt von Zollbeamten so herzlich willkommen geheißen worden? Mir ist das nur dieses eine Mal passiert, bei der Einreise nach Afghanistan. Aber Afghanistan präsentierte sich tatsächlich wie uns die Zollbeamten begrüßt hatten. Ein glückliches Land, besiedelt von guten Menschen.
Ich war einer der ersten drei Glücklichen. Danach dieselbe Rede und Händezeremonie mit allen anderen. Der Zollbeamte ließ meine Hand los und ich starrte erstaunt in meine Hand. Er hatte mir ein großes Stück Haschisch hinterlassen.
Auch die anderen hatten dasselbe Geschenk beim Händedruck bekommen. Meine ersten Gedanken:
„Der will uns was verkaufen?“
„Vielleicht werden wir jetzt alle verhaftet wegen Einfuhr von Drogen?“
„Wie viel kostet das?“ fragte ich.
Das konnte doch gar nicht sein, dass Zollbeamte uns Haschisch schenken. Das gibt’s doch gar nicht.
„Nein, nein, das ist frei. Das ist unser Geschenk an euch alle.“
„Kommt, kommt in unser Büro. Wir müssen jetzt alle zusammen zuerst rauchen.“
Drei Stufen höher öffnete sich ein kleiner Raum mit einem Tisch und drei Stühlen, wohl für die Beamten. Die Rucksäcke ließen wir draußen auf der Straße. Alle suchten sich einen Sitzplatz auf dem Boden. Chandus und ich saßen auf der obersten Treppenstufe. Einer der Beamten legte ein Tonröhrchen auf den Tisch und mixte mit Tabak und Haschisch die erste Füllung.
„Was ist das?“
Chandus:
“Ein Schillum.“
Das Wort kannte ich nicht.
„Und wie raucht man das?“
Chandus zeigte mir mit seinen Händen wie man es hält und raucht.
Ok, sieht einfach aus. Ich würde einfach das tun was alle machen. Man muss ja schließlich immer offen sein, etwas Neues zu lernen. Erst zogen alle drei Beamten, dann wurde das Schillum durchgereicht bis schließlich zu uns beiden auf der Treppe. Die beiden anderen Beamten begannen bereits zwei neue Schillums fürs Rauchen fertig zu machen. Unser kleines Geschenk wollten sie nicht benutzen. Sie hatten ihr eigenes Haschisch.
„Gibt es einen Bus von hier nach Herat oder müssen wir wieder laufen?“
Sie lachten:
„Der Bus kommt bald. Er wird warten bis wir alle fertig sind.“
Interessanter Fahrplan. Erst alles gemütlich aufrauchen und der Bus wartet auf uns. Das alles konnte doch eigentlich keine Realität sein. Was ist das für ein Land?
Tatsächlich hielt draußen ein kleinerer Bus und der Fahrer gesellte sich zu uns auf die Stufen. Fuck, der rauchte auch an den Schillums.
Dieses Haschisch war sehr stark. Schon bekifft nach zweien, die bis zu mir durchgereicht wurden, musste ich beim letzten abwinken. Als alles aufgeraucht war, gaben sie uns das Handzeichen für unsere Pässe. Zwölf superschnelle Stempel und das war’s. Iran: zwei Stunden für zwölf Pässe, Afghanistan: drei Minuten.
Raus zum Bus, wir verabschiedeten uns wie Freunde. Rein in den Klein Bus, Richtung nächste große Stadt, Herat. Chandus bewunderte erst mal die Riesenstücke Haschisch, unser Geschenk und Panda durfte jetzt wieder oben im Gang mitfahren, was er sichtlich genoss.
Zwei Stunden Fahrzeit nach Herat, um uns herum nur Sand, Sand, Hügel in der Ferne und ab und zu Zeltstädte. Ziemlich weit von der Straße entfernt sahen wir auch manchmal kleine Ansammlungen von großen schwarzen Zelten, zwischen denen sich kleine schwarze Figuren bewegten. Unser Fahrer erklärte uns, dass dies die:“Tribes“ sind, zu Deutsch wohl Nomaden oder Beduinen. Gruppen von einigen Familien die mit Frauen, Kamelen, Ziegen, Hunden und allem was man so braucht um mobil zu sein durch Afghanistan ziehen. Alle Zelte und alle Männer in schwarz, wohl die beste Farbe sich vor dem gleißenden Sonnenlicht zu schützen.
Haltestellen gab es nicht. Jemand stand im Sand am Straßenrand, der Bus hielt. Dann endlich die ersten schwarzen Männer an der Straße. Sie wurden vom Fahrer herzlich begrüßt, winkten uns zu und blieben vorne beim Fahrer stehen. Einer setzte sich im Schneidersitz auf das sehr breite Armaturenbrett und starrte in unsere Richtung. Noch mehr Schwarze stiegen zu.
Sie studierten uns wortlos. Der Typ im Schneidersitz starrte mich an, ich starrte zurück. Er studierte mich mit neugierigen, freundlichen Augen, ich studierte ihn. Ich musste lächeln, er lächelte zurück. Er sagte etwas in seiner Sprache zu den anderen Schwarzen, sie alle lachten. Ein freundliches Lachen. Ein herzliches Lachen. Irre sie zu beobachten. Ihre Pupillen in totaler Ruhe, ein gerade Blick direkt in unsere Augen. Unsere Augen waren eingerastet in einem gemeinsamen Universum. Der Blick tief in die Seele. Ungewohnt für mich aber ich hielt dem stand.
Das durfte man nie in den Staaten versuchen. Jemanden in einer New Yorker U-Bahn direkt in die Augen zu schauen ist ein ganz großes „ No-Go“, das fast immer mit sofortiger Gewalt beantwortet wird. Ein Zeichen von: “Bereit zu kämpfen.“ Deshalb blickt jeder runter oder fokussiert seine Augen auf das obere Abteilfenster, aufs Dach oder auf seinen Walkman. Dazu später im Buch mehr.
Der Blick in die Seele meines Gegenübers, der auf seinem Armaturenbrett ruhte. Oh mein Gott, diese Menschen haben eine innere Stärke, die ist fast unheimlich. Ein ruhender Mount Everest in einem Menschen. Stolz, Wissen, Barmherzigkeit, Güte, alles da - in perfekter Harmonie.
Wir hatten Fragen, sie antworteten in Zeichensprache. Dann hielt der Bus. Sie stiegen alle mit freundlichem Handzeichen aus. Der Armaturenbrett-Typ und ein anderer kamen zu uns nach hinten, schüttelten alle Hände, der Bus wartete, dann waren sie raus.
Nur ein Gedanke in mir:
„Ein beeindruckender Anfang für mein Afghanistan Abenteuer.“
Der Bus fuhr in einen sehr großen Innenhof, hinten ein längliches weißes Gebäude, etwas im Stile eines alten englischen Landhauses. Eine breite Veranda mit vielen Stühlen und kleinen Tischen, Gäste, auch Rucksacktouristen wie wir, alle an ihrem Schillum nuckelnd. Die waren stoned (weggetreten von sehr viel Marihuana), winkten uns mit breitem Grinsen zu, dabei war es erst zwei Uhr am Nachmittag.
Der Besitzer und alle Kellner begrüßten uns mit breitem Grinsen. Es gab keine Einzelzimmer in diesem Hotel. Sechs teilten sich einen großen Raum mit einer kleinen Veranda davor. Die Kellner schleppten alle Rucksäcke in die Räume und Chandus hatte sofort in der ersten Minute ein Schillum von einem der Kellner besorgt. Natürlich musste unser geschenktes Haschisch sofort ausprobiert werden. Alle Anspannung aus den letzten Tagen fiel von uns ab. Wir hatten es erreicht, das Paradies Afghanistan.
Es war klar, dass an diesem ersten Tag bis spät in die Nacht geraucht wurde und jeder fiel irgendwann ins Bett, stoned (voll mit Drogen) und grinsend.
Ich öffnete die Augen am nächsten Morgen und ein Schillum wurde mir sofort vor die Nase gehalten.
„Nein, Danke.“
Jetzt hieß es erst mal wach werden und mit den anderen beraten. Auf der Veranda, bei Rührei und Toast und super schwarzem Kaffee, einen Plan machen. Ein Blick über unsere Gruppe - fast alle waren bereits mit ihrem Schillum beschäftigt. Nur vier von uns nicht. Wir wollten raus, mit klarem Kopf, um zu Fuß die Stadt Herat zu erkunden. Einfach laufen ohne Plan, laufen und Eindrücke sammeln. An der Hauptstraße trennten wir uns. Marianna mit mir nach rechts und die beiden Franzosen nach links. Auf ging‘s.
Herat. Eine Stadt mit einem freundlichen Herzen, gefüllt mit Sonnenschein. Ein Eindruck den ich nie vergessen werde. Alle Menschen denen wir auf unserem Spaziergang begegneten waren freundlich. Grüßten uns und lächelten mit uns.
Viele Frauen in normaler westlicher Kleidung ohne Kopftuch, aber auch viele in vollem „Muslim Dress“. Bedeckt von Kopf bis Fuß, aber modisch gekleidet in super Farben. Von ganz leuchtendem Gelb bis leuchtendem strahlenden Blau oder tief Violett. Ein wunderschöner Sonnenschein und Farben wohin man sah. Ein Meer von Farben an jedem Geschäft, an den Seiten der Straßen, und Blumen wohin man schaute.
Was für ein Gegensatz zum zementgrauen Iran. Von jedem Ladenbesitzer wurden wir eingeladen doch reinzukommen. Aber wir wollten nichts kaufen und lehnten deshalb überall ab, aber mit freundlichem und dankendem Lächeln. Dann schließlich nach vielen Stunden, unsere Füße wurden müde, folgten wir einer Einladung in einen Laden. Zu unserer Überraschung - er wollte uns nichts verkaufen und sprach einigermaßen gut Englisch. Die Sandalen musste man draußen lassen. Drinnen wurde dann sofort Tee gemacht und man saß auf dem Boden.
Dann kamen die Fragen. Die waren so neugierig uns kennenzulernen, etwas über unsere Welt zu erfahren, über uns zu reden und über ihre Welt. Nach diesem ersten positiven Erlebnis folgten wir vielen Einladungen. Keiner wollte uns etwas verkaufen. Jeder wollte nur reden. Jeder begann nach einiger Zeit ein Schillum fertig zu machen, rauchte und lud uns ein, es mit ihm zu teilen.
Was ist das für ein Land? In dem alle Haschisch rauchen? Aus Höflichkeit nahmen wir dann manchmal einen Zug, selbst Marianna. Abends zurück in unserem kleinen Hotel, hatten wir einen super Tag in Herat verbracht. Haschisch zu rauchen schien eine Männersache zu sein. In allen Geschäften war der Besitzer immer ein Mann. Nirgendwo auch nur eine Frau im Verkauf.
In einigen Geschäften wurde uns dann auch manchmal Haschisch zum Kauf angeboten. Wir lehnten ab. In unserem Hotel wurden ständig Schillums herumgereicht. Da musste man nichts besitzen. Jeder teilte, was er hatte.
Am dritten Tag besuchten wir morgens einen kleinen Laden, den wir schon vom ersten Tag her kannten. Dieser Afghane war besonders nett und sprach sehr gutes Englisch. Auf die Frage ob wir Haschisch kaufen wollten, kam dann Mariannas überraschende Antwort:
„Vielleicht.“
„Wie viel kostet denn Haschisch hier?“
Statt zu antworten, langten seine Hände nach hinten unter einen Tisch und zogen eine große Metallkiste in die Mitte des Raumes. Der Deckel wurde geöffnet und ich traute meinen Augen nicht. Die Kiste war bis zum Rand gefüllt mit flachen Platten Haschisch, jede fast genauso groß wie eine 100 Gramm Schokolade, die man in Deutschland im Supermarkt kaufen kann. Hunderte von diesen Schokoladen, säuberlich in klarem Plastik verpackt, Haschisch vom Reinsten. Er warf uns eine Schokolade zu. Sie landete in Mariannas Schoß.
„Wie viele wollt ihr?“
Er sagte den Preis. Ich rechnete ihn in Deutsche Mark um, ein erneutes Staunen in mir.
Chandus hatte mir irgendwann während unserer Busfahrt mal erzählt, dass in Berlin 10 Gramm 80 DM kosten. Hier in diesem Laden kostete die Schokoladenplatte gerade mal drei Kaffee bei Tchibo.
Ich sah neben mir Mariannas Hirn rattern. So billig. Da konnte sie vielleicht was mitnehmen und später an andere Rucksäckler weiter verkaufen. Ihr Geld war sehr knapp und ein ganz kleines Einkommen während ihrer Reisen, konnten zwei oder drei Monate mehr Abenteuer bedeuten.
Bei so einem Preis begann ich auch zu überlegen. Ein kleines Stück für die restliche Zeit in Afghanistan konnte nicht schaden.
„Nein, nein, nicht so ein großes Stück. Kann ich ein kleines Stück kaufen?“
Selbst eine von diesen Schokoladenplatten, exakt 200 Gramm, wie er uns erklärte, war zu viel für mich. Damit Handel zu treiben schien mir keine gute Idee, und den Rest meines Abenteuers im Rausch zu verbringen, ebenfalls nicht.
Er wollte keine dieser Platten anbrechen. Stattdessen verschwand eine Hand in einer Schublade hinter ihm und er warf mir eine Runde Scheibe vor die Füße.
„Das Kleinste was ich habe. 70 Gramm. Sorry.“
Ein Zentimeter dick, eine perfekte runde Scheibe, Durchmesser zehn Zentimeter. Eigentlich immer noch zu viel für mich, aber wir reisten ja noch weiter durch Afghanistan. Ich konnte dann immer noch was rauchen - später in Kandahar oder Kabul, der Hauptstadt. Die Scheibe kostete weniger als die Rühreier morgens im Hotel und die waren schon spottbillig.
Mariannas Kopf hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen. Jetzt erzählte sie mir von ihren Möglichkeiten über die nächsten 5 Monate. Sie wollte mein ok. Aber das musste sie selbst entscheiden.
„Ich kaufe die Scheibe, das ist genug für mich. Wie viel für dich? Das musst du selbst wissen.“
Sie hatte sich schon entschlossen. So kaufte sie drei Schokoladenplatten, 600 Gramm. Das konnten später für sie zwei Monate mehr in Indien bedeuten. Von diesem dritten Tag an, besaßen Marianna 600 Gramm und ich 70 Gramm Haschisch.
Der Besitzer und alle Kellner unseres kleinen Hotels waren immer extrem hilfsbereit mit schneller Bedienung, aber auch immer da, um alle unsere Fragen zu beantworten über Herat und das Leben in Afghanistan.
Aber sie blieben immer in einer sicheren Entfernung von Panda. Solche großen Hunde gab es gar nicht in Afghanistan. Panda mit seinem dicken, schneeweißem Fell, mit pechschwarzen Augen, eingerahmt von weißen Wimpern, sah einfach sehr gefährlich aus. Auf der einen Seite bewunderten sie ihn, hätten ihn gern gestreichelt wie wir alle es taten, aber sie hatten auch Angst vor ihm. Jeden Abend verbrachten wir in dem großen Gastraum unseres Hotels. Entlang der drei Wände lagen Matratzen auf dem Boden, weitere Matratzen und dicke Kissen lehnten an der Wand. Man saß praktisch auf dem Boden, vor jeder Matratze ein kleiner länglicher niedriger Tisch.
Das Essen war super, 5 Sterne im Vergleich zum Iran. Jede Nacht wurden natürlich Schillums und Joints rumgereicht. Jede Nacht endete irgendwann um 1 Uhr, bis wir alle stoned und selig zu unseren Betten wankten.
Panda, ein vollzahlender Gast, nahm natürlich immer seinen Platz auf der Matratze neben Chandus ein, rechts von mir. Er liebte diesen wunderschönen weichen Platz auf der Matratze und wurde bedient wie wir anderen. Mit einem Gericht das Chandus für ihn bestellte und einer Schale Wasser. Joints und Schillums wollte er nicht mit uns teilen, das brauchte er wohl nicht für seine Seligkeit.
Panda und die Kellner – Die erste Nacht:
Am frühen Abend, nachdem wir alle unsere Bestellung serviert bekommen hatten, fiel mir auf, dass alle Kellner am Küchenausgang standen, wild miteinander flüsternd und ständig in Richtung Panda starrten. Ich lehnte mich rüber zu Chandus um einen Joint weiterzureichen:
„Beobachte mal die Kellner. Da läuft irgendetwas mit Panda. Die starren ihn ständig an.“
„Ich weiß, die wollen ihn nicht hierhaben. Aber ich bezahle ihm ein volles Bett und volles Essen. Der ist genauso Gast wie wir. Ich hab denen das schon vorher gesagt. Wenn sie was von ihm wollen, dann sollen sie das mit Panda ausmachen. Nicht mit mir. Nicht mein Problem.“
Ich streichelte Panda, der einfach nur cool die Kellner betrachtete. Er saß da wie eine Sphinx oder ein Buddha, entspannt in der Harmonie seines Lebens.
„Cool Guy“ dachte ich. Der hatte schon längst begriffen, dass da irgendein Spiel vor ihm ablief in dem er der Mittelpunkt ist.
Das Flüstern wurde jetzt wilder und wilder da vorne an der Küchentür. Ich beobachtete jetzt beide Parteien, die Kellner und Panda. Was hatten die vor?
Nach einer Weile schienen die da vorne sich durchgerungen zu haben. Das Flüstern war beendet, einer verschwand nach hinten in die Küche und erschien wieder mit einem kleinen Hühnerknochen. Diesen Kellner hatten sie wohl auserkoren um Panda aus dem Gastraum zu locken. Indem er den Hühnerknochen weit vor sich trug, kam er dann auch langsam näher.
Ein Blick auf Chandus und die Frage:
„OK? OK?“
„Natürlich! Kein Problem.“
Panda, mit ruhigen Augen, erwog den sich nähernden Knochen, beobachtete ihn bis er schließlich drei Zentimeter vor seiner Nase zur Ruhe kam. Noch keine Reaktion. Dann ein langsames Aufstehen und ein kurzes strecken, der Kellner ging langsam mit dem Knochen in Richtung Ausgangstür. Panda folgte dem Knochen. Tür auf, Panda draußen, er bekam den Knochen - und ganz schnell wurde die Tür geschlossen.
Ein breites Grinsen erschien auf den Gesichtern unserer vier Kellner. Sie hatten gewonnen. Nochmal die Frage in Richtung Chandus:
„OK? OK?“
„Klar.“
Sie standen wieder an der Küchentür als Gruppe, flüsterten und das Glück strahlte aus jedem heraus. Die Welt war für sie jetzt wieder in Ordnung.
Chandus, mit Blick auf seine Uhr, lehnte sich rüber zu mir:
„Ich gebe ihm fünf Minuten.“
Ich beobachte jetzt beide Türen und unsere Kellner. Die Küchentür öffnete sich, ein Kellner brachte ein Getränk und ein großes weißes Gespenst huschte an ihm vorbei, hielt einen Meter innerhalb des Gastraums an und bewegte sich dann mit aller Grazie langsam zu seinem Platz auf der Matratze. Da legte er sich dann hin, mit seinen Augen cool die Kellner erwägend.
Chandus:
„Zwei Minuten und fünf Sekunden.“
Ich streichelte Panda. Was dachte er jetzt wohl?
„Ist das alles was Ihr könnt? Da müsst ihr euch wohl was Besseres einfallen lassen.“
Ein Schock ging durch die Gesichter der Kellner, das Lächeln verschwand, jetzt wurde wieder wild geflüstert, und das zog sich für eine Weile hin.
Der nächste Joint wurde rumgereicht, die Kellner hatten einen erneuten Beschluss gefasst.
Derselbe Kellner, wohl der Mutigste von denen, erschien wieder. Diesmal mit einem größeren Hühnerknochen. Dieselbe Prozedur. Erlaubnis einholen von Chandus. Der Knochen näherte sich langsam der Nase von Panda. Für eine Weile passierte nichts. Panda erwog die Größe des Knochens. Als er ihn wohl für groß genug befunden hatte, stand er auf und folgte Kellner und Knochen langsam zur Tür. Draußen bekam er den Knochen. Die Tür wurde blitzschnell geschlossen. Ein breites Grinsen auf allen Gesichtern unserer Kellner. Es wurde euphorisches geflüstert.
Chandus beobachtete seine Uhr und ich hielt beide Türen im Auge.
Der nächste Kellner hatte was von der Küche reinzubringen, das Riesen-Gespenst huschte an ihm vorbei und blieb in der Mitte des Raumes stehen - dann ganz langsam, wie ein König zu seiner Krönung schreitend, ging‘s zurück auf seine Matratze.
„Zwei Minuten siebzehn Sekunden.“
Jeder im Raum hatte mittlerweile das Spiel mitbekommen, den Wettstreit der Intelligenz zwischen Panda und unseren vier Kellnern. Einige applaudierten Panda, kamen dann rüber um ihn zu streicheln. Fünfzehn Minuten später der nächste Akt in dieser Tragödie / Komödie. Jetzt beobachteten alle Panda und die Kellner. Wir alle wussten den Ausgang dieses Aktes, es ging nur darum wie lange er brauchen würde, um sie zu besiegen. Ein Akt nach dem anderen, die Knochen wurden größer und größer. Panda blieb in seiner Zeit immer unter fünf Minuten, die Kellner gaben nie auf, wir alle bepissten uns mittlerweile vor Lachen. Ich hatte Bauchschmerzen von diesen Lachkrämpfen.
Irgendwann reichten die Hühnerknochen nicht mehr und es wurden erst halbe und dann ganze Steaks an Panda ausgeliefert. Was für eine erste Nacht. Aber so sollte es dann in jeder Nacht gehen.
Neue Varianten der Tragischen Komödie, die selbst Shakespeare vor Lachen von seinem Hocker gerissen hätte.
Ganz tief drinnen liebten unsere Kellner diesen Hund. Sie hätten so gerne den Mut gehabt sich neben ihn zu setzen und ihn zu streicheln. Chandus bestellte nach der ersten Nacht nichts mehr für Panda. Jede Nacht wurde Panda besser gefüttert als wir alle.
Dann kam die letzte Nacht für mich, Marianna und unsere Franzosen. Wir hatten beschlossen jetzt endlich weiterzufahren, Richtung Kandahar und Kabul, die anderen in ihrem seligen Haschisch Rausch zurückzulassen.
Wir setzten uns und bestellten unser Essen. Es würde bald losgehen mit einer weiteren Variante unserer Komödie. Nein, diesmal nicht.
Erst wurde unser aller Essen rein getragen. Dann öffnete sich die Küchentür und alle vier Kellner präsentierten ein Mehr-Gänge Menü für Panda. Keinen dieser großen Teller, sondern eine noch größere Präsentierschale, daneben zwei Schalen mit Wasser und Milch, wurden vor ihm abgesetzt.
Ich traute meinen Augen nicht. Das Beste was sie hatten. Gebratenes Hühnchen, Steaks in Rahmsoße, Knochen mit viel Fleisch - eine Ansammlung von Delikatessen mit denen Panda von ihnen bedient wurde.
Chandus:
„Derjenige der smarter ist als Panda, ist bis jetzt noch nicht geboren worden.“
Ich hoffe das Chandus, der bestimmt immer noch irgendwo in Deutschland lebt, mal dieses Buch liest. Eine wahre Geschichte, um unsere Kellner zu ehren, die uns einen kleinen Teil ihrer Seelen gezeigt haben und um eine wunderschöne Seele zu ehren: Panda, einen weißen Schäferhund.
„Panda, mit all meiner Liebe, vielen Dank.“
Ich sollte ihn viel später wiedertreffen.
Ca. acht Tage in Herat, drei Wochen in Afghanistan, herzlichste Gastfreundlichkeit jede Sekunde meines Aufenthalts. Freundliche Menschen überall. Marianna konnte ihr dickes langes Haar offen tragen. Täglich ging‘s raus die Stadt zu erkunden, ihre Menschen zu erleben. Viele Frauen in ganz normalen kürzeren Röcken und schönen Blusen und ohne Kopftuch, aber auch viele in der voller Burka. ein langes Kleid, das sogar fast die Schuhe verdeckt aber mit feinstem Geflecht, das die Sicht von Innen ermöglicht. Und das auch sehr oft in wunderschönen geschmackvollen modischen Farben.
Mit Frauen in Burka konnte man nicht sprechen, aber wir begegneten ihnen oft auf ihren Einkäufen - alleine oder in Gruppen. Es war unmöglich das Alter dieser Frauen zu schätzen, sie konnten jung oder uralt sein. Aber kurze Begegnungen mit ihnen auf dem Bürgersteig liefen oft so ab:
Sie kamen uns entgegen. Ein Zögern in ihrem Schritt, sie verlangsamten ihren Spaziergang. Wir konnten sie nicht ansprechen und wollten sie nicht anstarren, aber wir wurden auch langsamer, um die ganz kurze Begegnung um zwei Sekunden zu verlängern. Auf gleicher Höhe drehten sie leicht den Kopf zu uns, wir lächelten und ich sah glitzernde, leuchtende, lächelnde Sterne durch die kleinen Löcher des Gesichtstuchs auf funkeln. Sie studierten uns mit Neugier und wir studierten die geheimnisvolle Person hinter dem Schleier. Dann waren sie vorüber. Sie drehten sich nicht um und wir auch nicht, was zudem unhöflich gewesen wäre.
Am vierten Tag wurden wir von unserem Afghanen, der uns das Haschisch verkauft hatte, zum Abendessen eingeladen. Er wartete um acht Uhr am Laden auf uns. Dann ging‘s zu Fuß zu seinem Haus. Wir hatten ein kleines Essen erwartet, etwas plaudern, dann zurück ins Hotel. Aber es lief ganz anders.
Beim Betreten des Hauses wurde Marianna sofort von einer Frau an die Hand genommen und verschwand in den hinteren Teil des Hauses. Ich sollte sie bis in die späte Nacht nicht mehr sehen. Ich wurde in einen großen Raum geführt, dessen Boden mit wunderschönen Teppichen ausgelegt war, mit einem runden sehr flachen Tisch in der Mitte. Der Tisch war schon voll beladen mit unzähligen Kostbarkeiten der afghanischen Küche. Da wurden wohl noch viele andere Gäste für dieses private Essen erwartet.
Sie erschienen dann auch alle innerhalb von Minuten nachdem ich mich auf den Boden gesetzt hatte. Mindestens zwanzig Männer, manche in Jeans und westlicher Kleidung aber auch zu meiner Überraschung, sechs schwarzgekleidete Beduinen. Natürlich stellte mir mein Gastgeber jeden vor, die Beduinen waren wohl auch Teil seiner Familie.
Was nun folgte, kann man nur als eine fünfstündige Schlemmerei beschreiben, begleitet von einem nie aufhörenden Frage- und Antwortspiel. Nur drei sprachen Englisch und die übersetzten dann für mich. Nach einer Weile erschien die erste Frau am Tisch, verschleiert, und stellt eine große Wasserpfeife bereit. Jeder am Tisch rauchte Haschisch damit. Sie wurde von Person zu Person gereicht. Natürlich konnte ich weder ablehnen mitzurauchen noch ablehnen alles zu probieren was uns auf dem Tisch präsentiert worden war.
Sie alle waren sooo neugierig mit mir zu sprechen, ein Strom von Tausenden von Fragen über unsere Welt. Aber auch meine Fragen, speziell an die schwarzgekleideten Beduinen, wurden alle beantwortet. Für mich eine Reise in eine andere wundersame Welt, die sich hier für Stunden öffnete. War eine Füllung der Wasserpfeife aufgeraucht, wurde sofort eine neue Füllung bereit gemacht und wieder rumgereicht. Essen, Fragen, eine Wasserpfeife nach der anderen, ein Spiel das sich über fünf Stunden hinstreckte.
Ein Blick auf meine Uhr. Nach ein Uhr Nachts und ich war vollgefressen und schwer vollgekifft, wie wohl alle Männer am Tisch. Ich fragte meinen Gastgeber:
„Vielleicht ist es besser, wenn wir jetzt zum Hotel aufbrechen?“
Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich die zwei Kilometer überhaupt noch laufen konnte. Ein Handzeichen zu einer Ecke des Essraums, alle erhoben sich, wir verabschiedeten uns und innerhalb von Sekunden wurde Marianna aus den hinteren Räumen geführt.
Hatte man uns von dort beobachtet? Wir wurden jetzt zurück ins Hotel gebracht. Unser Gastgeber und einer der Beduinen begleiteten uns. Marianna klammerte sich heftig an meinen Arm. Klar war sie auch so bekifft wie ich. Unmöglich noch über diese Nacht zu reden, wir fielen nur noch ins Bett.
Natürlich wollte ich am nächsten Tag wissen, wie es Marianna in der Frauen Sektion ergangen war. Das Folgende erzählte sie mir über ihre Nacht:
„Das Essen war bereits angerichtet und wir waren um die 25 Frauen. Alte Frauen, junge Frauen und etliche Kinder. Zwischendurch wurde auch die Wasserpfeife herumgereicht und fast alle Frauen haben mitgeraucht. Die Kinder natürlich nicht. Die ganze Nacht wurde nur gelacht. Einige sprachen gut Englisch und die übersetzten dann für mich. Sie wollten alles über mich wissen. Wie viele Freunde ich schon hatte und mit wie vielen ich Sex hatte. Welche Positionen ich am meisten mag und ob die Größe des Penis wichtig für mich ist.“
„Ich bin ein paar Mal so rot geworden wenn es um Sex ging, dann haben sie sich noch mehr amüsiert. Sie haben mir alles über sich erzählt. Einige Alte haben Geschichten erzählt über Sex mit ihren Männern. So lustig. Eine erzählte, dass immer wenn ihr Mann einen schlechten Tag hatte und übelgelaunt war, sie ihm dann einen Blowjob gab. Da hat sich dann alles kaputtgelacht.“
„Ich hab immer gedacht, die hassen das wenn sie mit ihren langen Burkas in der Hitze einkaufen müssen, so dass kein anderer Mann sie sehen kann. Aber die lieben das. In ihrem Frauenbereich sind sie frei und Männer haben da nichts zu bestimmen. Die Männer sind verantwortlich für das Draußen, das Geld zu verdienen, für Politik und das Geschäft. Die Frauen für das Kochen, die Sauberkeit im Haus, und kümmern sich um die Kinder. Außerdem für Schönheit und um ihrem Mann alles zu geben, was er braucht.“
„Spät in der Nacht haben sie dann eine Modenschau für mich gemacht, haben mir all die tollen Kleider vorgeführt, die sie in ihrem Bereich tragen. Sogar ihre sexy Unterwäsche, die sie nur für ihren Ehemann tragen. Solche Slips und BH‘s kann man in Deutschland nur im Beate Uhse Sexshop kaufen.“
„Das war mir manchmal richtig peinlich.“
Für uns vier ging es dann zwei Tage später weiter. Einige Tage Kandahar und dann mit dem Bus in die Hauptstadt Kabul. Hier wollten wir eine Woche bleiben. Alle anderen dieser Gruppe blieben zurück in Herat, um ihren täglichen Haschischrausch zu genießen.
Kabul – Ein überraschendes Wiedersehen:
In Herat konnten wir während des Tages im T-Shirt herumlaufen, abends wurde es nur etwas kälter. Je näher wir Kabul kamen, desto kälter wurde es. Die Einreise in Kabul war ein absoluter Schock für uns alle. Temperaturen um die Null Grad, mit eiskalten Winden. Kein Schnee, aber nur für den Weg zu unserem kleinen Hotel musste ich alle meine Kleidung tragen die ich in meinem Rucksack hatte. Drei T-Shirts, einen Pullover, die Bundeswehrjacke, die Socken zusammengebunden um sie als Schal zu benutzen.
Winter in Kabul. Ich hatte immer gedacht:
„Ist ja Asien und da scheint immer die Sonne. Da muss es immer heiß sein. Denkste!“
Also erst mal ab ins billigste Hotel, hatte der Bayer mir gesagt. Das hatte nur drei Räume. Wir nahmen einen mit vier Betten. Arschkalt. In der Mitte ein kleiner Buller-Ofen, den man mit Holz füttern musste. Aber da lag kein Holz.
Man warnte uns auch an der Rezeption, dass für die nächste Nacht minus vier bis acht Grad zu erwarten waren. Hinten an der Wand hing ein Thermometer. Es zeigte vier Grad plus. Wir sind verantwortlich fürs Holz. Wollten wir ein warmes Zimmer, dann mussten zuerst alle zusammen auf den Markt um Holz zu kaufen. So viel wir schleppen konnten. Nettes Hotel, nur Kaffee und Tee konnte bestellt werden. Essen mussten wir uns draußen besorgen.
Dann im Raum zuerst das Feuer in dem gusseisernen Ofen in Gang bringen. Schon während wir auf das Feuer warteten, beschlossen wir, hier keine sieben Tage zu verbringen. Auf Minustemperaturen war niemand von uns vorbereitet. Also das Beste, wir fahren morgen weiter, Richtung Pakistan. Der Raum wurde warm und wir machten uns auf den Weg dieses berühmte Steakhaus zu finden.
In Istanbul hatte es jeder als den Platz in Kabul beschrieben, ähnlich dem Pudding-Shop. Der Platz um Informationen auszutauschen und andere Rucksäckler zu treffen.
Man beschrieb uns den Weg dahin in der Rezeption. Ein ca. zwei Kilometer langer Fußmarsch durch die Kälte aber mit der Aussicht auf gutes Essen und mehr über unsere nächste Etappe zu lernen. Mir war es saukalt und ich hatte bereits beschlossen auf dem Weg vielleicht einen etwas wärmeren Pullover zu kaufen, was aber nicht klappte.
Wir betraten das Steakhaus und was für eine Enttäuschung. Nicht ein einziger Gast. Keine weißen Tafeln an der Wand um Nachrichten auszutauschen. Ich hatte Steak und Pommes Frites und Salat und viel Tee um mich aufzuwärmen für den langen Weg zurück. Wir sprachen natürlich über den nächsten Tag. Wir mussten den Bus um zehn Uhr morgens erwischen. Eine lange Busfahrt über den Khyber Pass und dem nachfolgenden Grenzübergang nach Pakistan.
„Warum schwitzt du so?“ fragte mich Marianna.
Stimmt, warum lief mir eigentlich der Schweiß in Strömen durchs Gesicht und den Nacken runter? Ich hatte bereits alle Papierservietten auf unserem Tisch aufgebraucht.
„Bist du OK?“
„Ja ich bin OK. Weiß auch nicht warum der Schweiß so läuft? Es geht mir gut.“
Aber es war schon sehr merkwürdig. Das Restaurant war angenehm warm beheizt, aber der Schweiß lief in Strömen und ich musste mir neue Packungen von Servietten von der Theke holen. Marianna kam rüber und fühlte meine Stirn.
„Du bist ganz heiß.“
Ich schwitzte wie ein Schwein. Das war mir schon langsam peinlich. Aber irgendwie war alles klar mit mir. Ich fühlte mich nicht heiß. Warum sollte ich auch. Der Schweiß hatte erst in dem Moment angefangen als wir dieses Restaurant betreten hatten.
„Ich bin OK. Wirklich.“
Wir blieben da für viele Stunden, in der Hoffnung, dass dann doch vielleicht irgendein anderer Gast kommt und es war schön warm. Aber der Schweiß lief und lief - was immer ich auch versuchte ihn zu stoppen. Schon sehr merkwürdig.
Niemand kam und so beschlossen wir zurückzulaufen, einen anderen Weg diesmal, um doch noch einen Laden für Biskuits und viel Wasser zu finden. Vorräte für unsere kommende Nacht.
Ich stand vom Stuhl auf, mein erster Schritt, ich verlor das Gleichgewicht, wäre fast auf den Boden geknallt. Marianna fing mich auf. In Schweiß gebadet, schwer atmend. Es war etwas falsch mit mir.
„Komm, ich helfe dir. Nimm meinen Arm.“
Ich wusste, dass irgendwas nicht mit mir stimmte. Aber ich musste den langen Weg zurück schaffen. Ich versuchte es wieder alleine. Ich war der erste an der Tür, öffnete und ging raus in die kalte Luft. Ich rannte direkt in einen anderen Menschen, wäre fast gefallen, und der wohl auch. Rappelte mich auf, drehte mich um.
Schock auf meinem Gesicht. Ich war sprachlos. Starrte meinen Gegenüber an. Die Entschuldigung für diesen Zusammenstoß blieb irgendwo in mir hängen. Fand nie den Weg raus.
Von dem Moment im Zug in Berlin, bis hier im Steakhaus in Kabul hatte ich nie mehr an Irmgard gedacht. Sie hatte sich total aufgelöst in mir.
Und hier in Kabul, starrten wir uns an, immer noch in der Eingangstür zum Steakhaus.
Das überraschte:
„DU?“
Es kam von uns beiden im selben Moment, traf sich in der Mitte zwischen uns.
Richtig! Sie wusste ja nicht, dass ich auch gefahren war. Totenstille zwischen uns. Sprachlosigkeit.
„Ja, ich.“
Da war noch ein anderer Typ neben der Tür, drängte sich vorbei ins Restaurant. Ihre starren Augen lösten sich von mir, sie sah ihm nach.
„Sorry, ich muss reingehen.“
Sie drehte sich um und weg war sie. Ich stand da wie erstarrt, konnte es immer noch nicht fassen.
Das Sorry war eigentlich nicht für mich bestimmt gewesen. Das fühlte ich. Das hatte sie dem Typ nachgeworfen. Das galt mir nicht. Diese ganze Begegnung hatte nur so eine Minute gedauert. Das letzte Mal das ich von Irmgard hören sollte. Eine Minute und ein Sorry. Unsere letzte Begegnung. Ein Jahr danach in Berlin hatte ich nochmal versucht herauszufinden was aus ihr geworden war. Hatte ihre alte WG angerufen. Aber niemand hatte von ihr gehört. Sie war da nie mehr aufgetaucht.
Ich hoffe, es geht ihr gut. Hoffe, dass ihr auf ihrem Abenteuer nichts passiert ist. Sie war mit einem Typen zusammen. Wo war eigentlich ihre Freundin? Keine Spur von ihr an der Tür des Restaurants.
Marianna:
„Kennst du sie?“
„Ja, aber nicht wichtig.“
Sie nahm mich beim Arm und es ging los. Mein Gott war ich schwach. Ich konnte kaum laufen. Sie nahmen mich jetzt in die Mitte, so konnte ich mich etwas aufstützen. Der Moment war dahin, keine Zeit darüber nachzudenken, ich musste alle Kraft verwenden den Rückweg zu schaffen.
Unser kleiner Ofen in der Mitte des Raumes hatte wirklich Wunder bewirkt. Der Raum war sauheiß. Mein Schweiß rann in Strömen und ich zitterte. Kalte und heiße Wellen schossen durch meinen Körper. Ich kroch in meinen warmen Daunenschlafsack.
„Hast du irgendwo Antibiotika?“
Meine Hand zeigte in Richtung Rucksack. Ja, hatte ich. Zehn Tabletten. Hatte mir der Bayer zu geraten. Das war das letzte woran ich mich erinnern kann.
Ich wachte auf vom hellen Sonnenlicht. Schaute auf und drei besorgte Gesichter starrten mich an, saßen um mich herum auf der Bettkante. Ich schaute auf die Uhr. Vier Uhr nachmittags. Konnte nur der nächste Tag sein? Oder welcher Tag?
„Wir haben unseren Bus verpasst.“
Marianna:
„Keine Sorge wegen dem Bus. Wie geht es dir?“
Marianna maß mein Fieber. Immer noch 40 Grad. Die Nacht vorher hatte sie 41,6 Grad gemessen. Aber davon hatte ich nichts mehr mitbekommen. Sie hatte die Antibiotika gefunden. Hatte mir sofort drei Tabletten eingeflößt. Ich fühlte mich besser. Starrte auf meinen Daunenschlafsack. Das war gar nicht meiner.
Der Franzose erklärte mir:
„Wir waren so besorgt um dich. Du hast in der Nacht gezittert vor Kälte. Wir haben dir meinen Schlafsack noch darüber gezogen. Ich hab mit meiner Frau in einem gepennt.“
Scheiße, ich lag in zwei Schlafsäcken, aber die waren klatschnass, vollgesogen mit meinem Schweiß. Mir war es so peinlich. Sie hatten den Bus an dem Morgen nicht genommen, hatten ihre Pläne geändert und das alles wegen mir.
„Ich bin OK. Wir können den Bus morgen nehmen.“
Marianna:
„Wir konnten dich hier nicht alleine lassen. Deshalb keine Sorgen. Wir bleiben noch zwei Tage hier. Dann hast du Zeit, dass dein Zustand sich verbessert. Danach fahren wir zusammen weiter.“
Wie kann ich denen nur danken? Alleine mit diesem hohen Fieber in diesem Raum. Ein erschreckender Gedanke. Sieben Antibiotika hatte ich noch und die wurden in einem geschluckt. Eine Rosskur. Ich musste einfach schnell gesund werden.
Sie gingen dann los um sich Kabul anzusehen und um auf dem Rückweg noch mehr Holz zu kaufen für unseren hungrigen kleinen Ofen. Ich hatte Zeit, beide Schlafsäcke zu trocknen und mich etwas zu waschen. Nachzudenken über Irmgard und dieses komische Treffen. Aber es war nicht wichtig für mich.
Haschisch und der Gedanke daran hatte uns alle in dem Moment verlassen als wir Herat hinter uns ließen. Keinen Bock zu rauchen oder auch nur daran zu denken. Meine kleine Scheibe war da wohl irgendwo im Rucksack. Es galt jetzt schnell gesund zu werden. Ich wollte die anderen nicht aufhalten. Besser, wir reisten weiter zusammen. War einfach ein Superspaß mit meinen Freunden.
In dieser Nacht hatte ich 39,5 Fieber. Am nächsten Morgen war es runter auf 39 Grad. An dem Abend weiter runter auf 38 Grad. Sieben Antibiotika hauten wahrscheinlich jede Bakterie in mir kaputt. Aber sollen sie doch. An dem Abend schmiedeten wir neue Pläne. Falls mein Fieber über Nacht nochmal runtergeht, so auf 37 Grad, dann konnten wir eigentlich weiter. Nehmen den Bus um zehn Uhr morgens und fahren weiter nach Pakistan. Da würde es auch wieder wärmer sein.
Am nächsten Morgen war mein Fieber auf 37,5 gefallen. Also fast normal. Das Startzeichen für uns. Packen und los zur Busstation. Ich war noch sooo schwach. Konnte meinen Rucksack nicht tragen. Es ging langsam zu Fuß, aber ich war OK. Meine Freunde nahmen mir meinen Rucksack ab. Sie trugen ihn zwischen sich bis zum Bus.
Pakistan ?????? – Alles ganz anders:
Wir saßen gerade im Bus in Kabul und jetzt gab es für Marianna nur noch ein Gesprächsthema. Ihre 600 Gramm Haschisch machten sie so nervös. Wir werden eine Grenze überqueren. Zollbeamte und Zollkontrollen. Wie kommt sie da rüber? Pakistan war nicht zu vergleichen mit dem Iran, aber auch nicht so frei mit Haschisch wie Afghanistan. Soviel hatten wir schon auf unserer langen Reise erfahren. Aber 600 Gramm sind eine ganze Menge. Und die durften nicht gefunden werden. Es konnte einige Jahre Gefängnis bedeuten. Vielleicht?
Viele hatten uns erzählt, dass es kein Problem sein wird. Die stempeln den Pass und machen nie Kontrollen, aber man weiß ja nie.
Wie schon seit Istanbul, saß ich wieder am Fenster, versuchte jedes Detail unserer Reise in mich aufzusaugen, zu starren und zu staunen. Marinna neben mir ging mir mächtig auf den Sack. Haschisch, Haschisch, Haschisch.
Sie wollte ihr ganzes Problem mit mir diskutieren, für jede Sekunde einen Plan entwickeln.
Sollte sie Lächeln oder Ernst sein beim Übergang? Sollte es unten im Rucksack versteckt sein, oder in eines ihrer Höschen gewickelt? Sollte sie langsam gehen oder schnell? Sollte sie es am Körper tragen? Hinten am Arsch oder zwischen den Beinen? Ein nicht endender Strom an Möglichkeiten und sie wollte meinen Rat. Aber den hatte ich nicht, außer, dass sie sich einfach entspannen muss und es das Beste ist, dass ich nicht weiß, wo sie es versteckt hat.
Sie redete und redete und ich konzentrierte mich auf das da draußen. Ein kalter sonniger Tag, eine sich durch die Berge windende Straße, das Gebirge zerrissen von tiefen Tälern. Und zwischendurch immer wieder beruhigenden Worten für Marianna. Sie musste sich entspannen. Sollte sich auf die Landschaft konzentrieren, denn die war atemberaubend. Und wir hatten den Khyper Pass noch nicht mal erreicht. Erst würde der Grenzübergang kommen, danach der Pass.
Endlich die Grenze und alles lief genauso ab, wie man es uns erzählt hatte. Rucksack auf dem Buckel, mein Bundeswehrjacke über dem linken Arm. Um ihr Sicherheit zu geben hatte ich meinen rechten Arm um ihre Taille gelegt. Wie ein Pärchen gingen wir durch die Kontrollen. Dann der Pass, der Stempel und wir waren wieder draußen im kühlen Sonnenschein. Sie lachte los. Alles cool jetzt. Sie hatte es überstanden.
Der Khyber Pass, wahrscheinlich nicht ganz so grandios wie der Grand Canyon. Eine hohe sich windende Passstraße, gewaltige Schluchten und Wasserfälle, kaum Bäume, eine endlose Landschaft aus Bergen. Und dann plötzlich ein roter Punkt in diesem grauen Gemälde und dann noch einer an einem Baum. Und dann noch mehr. Und Bäume vollgeladen mit diesen roten, orangenen Punkten direkt an unserer Straße. Ich traute meinen Augen nicht. Das konnte doch einfach gar nicht sein. Da hingen sie. Orangen! Dicke Orangen. Bäume mit Hunderten davon.
Die ersten Orangen die ich in meinem Leben am Baum hängen gesehen habe. Ich kannte sie nur beim Türken in Berlin, in Supermärkten, hatte immer angenommen sie kommen aus sehr heißen Ländern.
Der Bus hielt für eine Pinkelpause. Straßenhändler umringten uns. Und ratet mal was da angeboten wurde? Dicke Orangen. Ich kaufte eine und probierte sie, und kaufte sofort zwanzig mehr davon für mich.
So unglaublich lecker, süß und saftig. Jeder von uns deckte sich für die Weiterreise ein. Ich hätte noch mehr kaufen sollen. Meine zwanzig hatte ich den nächsten Stunden bereits alle aufgegessen.
Ende unserer Busfahrt, Rawalpindi. Von dort ging es mit dem Zug weiter nach Lahore.
Die Busfahrt war ganz ok, aber die Zugfahrt der pure Horror. Der Zug war vollgestopft mit Menschen. Einen Tag und eine Nacht im Stehen, an Schlaf war nicht zu denken. Alles stank. Die Fenster so dreckig, dass nichts zu sehen war von dem Pakistan da draußen. Der Weg zur Toilette war ein Kampf. Beim pissen versuchte man verzweifelt die Balance zu halten, damit man ja nichts an den Wänden berührte.
Bei der Ankunft in Lahore waren wir erschöpft und müde. Jetzt nur noch schnell ins Hotel, etwas waschen und schlafen, schlafen. Wir konnten an nichts anderes denken.
Am nächsten Morgen versammelten wir uns ausgeruht in der Rezeption fürs Frühstück. Der Franzose hatte bereits die Karte von Lahore vor sich ausgebreitet. Was gab‘s zusehen hier in Lahore?
Der Besitzer erschien an unserem Tisch:
„Nicht gehen heute. Heute nicht gut.“
Ein paar Worte Englisch und der Rest eine Erklärung in Pakistani. Aber das verstand natürlich keiner. Damit ging er von Tisch zu Tisch zu den anderen Gästen.
„Was will der von uns? Wir sollen nicht gehen? Was soll das?“
Nachdem seine Runde beendet war, setzte er zu einer neuen Runde an. Wieder an unserem Tisch und mit beschwörenden Händen:
„Nicht gehen. Bitte. Nicht gehen.“
Den Rest seiner Erklärung verstand keiner. Wir fragten am Nebentisch, aber da wusste auch keiner worum es hier ging. Er wollte wohl nicht, dass wir gehen. Aber warum? Von draußen lockte der Sonnenschein. Ein wohl schöner Tag in Lahore. Natürlich wollten wir was von Pakistan sehen und erleben. Kein Grund nicht rauszugehen. Der kann uns mal.
Frühstück beendet, wir falteten die Karte zusammen – und los geht’s um unserem kleinen Plan für den Tag zu folgen. Denkste! Einen Schritt in Richtung Tür und der Besitzer blockierte unseren Weg. Nahm unsere Hände, flehte uns an mit beschwörenden Worten:
„Nicht gehen. Bitte. Nicht gehen.“
Hinter uns erschienen zwei Jungen mit vielen Brettern unterm Arm, Nägel und Hammer in den Händen. Sie gingen an uns vorbei, schlossen sofort die Haupt Tür und begannen die Fenster von innen mit Brettern zuzunageln.
Wir konnten nicht raus und alle Gäste fingen jetzt Diskussionen mit dem Besitzer des Hotels an. Er ließ uns nicht aus dem Hotel. Mittlerweile wurde auch die Haupt Tür von innen mit Brettern vernagelt. Noch mehr Jungen erschienen von hinten und halfen die „Nagelprozedur“ zu Ende zu bringen. Jeder war jetzt mit einem Bambusknüppel ausgerüstet. Sie setzten sich von innen an die Tür. Wir waren nicht nur eingenagelt, sondern auch noch bewacht. Was wollte er von uns allen? Eine Entführung?
Alle setzten sich und wir versuchten irgendeinen Sinn in seinen Worten zu erkennen. Unser Franzose begann jetzt den Reiseführer zu lesen.
„Vielleicht ist es das?“
Manchmal gibt es öffentliche Hinrichtungen in Lahore. Touristen wurde empfohlen diesen Hinrichtungen fernzubleiben. Er malte ein Strichmännchen auf seiner Serviette, baumelnd von einem Galgen und zeigte sie unserem Besitzer.
Heftiges Kopfnicken:
„Ja, Ja, nicht gut. Nicht gehen.“
Jetzt war uns allen klar, es muss wohl irgendwo in Lahore eine Hinrichtung geplant sein. Aber nicht gehen? Sein Hotel zu vernageln? Erschien uns alles ziemlich übertrieben.
Einige andere Pakistanis erschienen jetzt durch die Hintertür. Sie setzten sich als Verstärkung mit ihren Knüppeln zu den Jungen und unter die vernagelten Fenster.
Einer kam zu uns und der sprach jetzt ein paar mehr englische Worte.
„Nicht gehen. Heute die Stadt nicht sicher. Hier bleiben. Essen hier. Besser für alle.“
Seine Hände deuteten die Bewegung von Kehle aufschlitzen an, gleichzeitig mit seinen Fingern in Richtung Stadt da draußen zeigend.
Die Situation war jetzt geklärt. Die hatten alle Angst, dass uns etwas passiert, aber auch Angst um das Hotel und den Besitzer. Wir wurden nach oben in unsere Zimmer geführt. Sie zogen die Vorhänge an unserem Fenster zu. Wieder Handzeichen. Nicht rausgucken. Ja nicht die Vorhänge aufmachen. Keiner darf uns von draußen sehen.
Was für ein toller Tag für uns. Später würden sie auch für uns Essen machen. Aber jetzt sollten wir abwarten und uns ruhig verhalten. Damit hatte keiner von uns gerechnet. Jetzt waren wir frisch und ausgeruht, so neugierig auf die Großstadt Lahore, aber man hatte uns eingenagelt. Also Karten spielen, ein Buch lesen und ab und zu lauschen was draußen vor unserem Hotel geschah.
Gegen elf Uhr morgens wurde es laut in der kleinen Straße vor dem Hotel. Geräusche von vielen Menschen, wohl alle in eine Richtung vorbeitreibend. Laute Stimmen. Manchmal riskierten wir einen kurzen Blick nach draußen.
Ja viele Leute draußen, alle sich in eine Richtung bewegend. Gegen ein Uhr wurde es ruhig. Konnten wir jetzt raus? Aber unten saßen alle Pakistanis noch gespannt mit ihren Knüppeln vor Tür und Fenstern. Offensichtlich erst der Anfang. Die Lichter wurden im ganzen Hotel ausgeschaltet. Man bereitete sich auf den Nachmittag vor.
Spät am Nachmittag ging‘s dann wieder los draußen, erst nur etwas lauter und dann viele Menschen, manchmal Schreie und aufgeregte Stimmen. Abends bis gegen elf Uhr Nachts, viele Menschen draußen, rennende Schritte, Schreie, erregte Stimmen. Draußen war wohl Partytime. Aber keine Party für uns.
Am Abend wurde uns leise Reis und Gemüse serviert. Gegen zwölf war alles vorbei und ruhig und wir gingen schlafen. Am nächsten Morgen beim Frühstück bekamen wir dann die genaue Erklärung.
Ein Pakistani setzte sich zu uns an den Tisch und der sprach sehr gut Englisch. Für ein Uhr hatten die Behörden eine öffentliche Hinrichtung angekündigt. Drei Diebe wurden aufgehängt. Zu einem solchen Ereignis wurden immer bis zu 30 000 Menschen erwartet, die den Akt des Hängens begeistert feierten. Gesteigert, wohl auch mit Alkohol, entflammten sich Emotionen und Gemüter zu einem unkontrollierbaren Mob der schreiend und feiernd durch die Straßen zog. Läden wurden geplündert und Brände entfacht. Alle Frauen, die es nicht bei drei auf die Bäume geschafft hatten, wurden vergewaltigt. Ein Mob ohne Gehirn. Wir lauschten gebannt seinen genauen Beschreibungen.
Die Angst konnten wir jetzt verstehen. Gut, das er uns nicht rausgelassen hatte. Vielen Dank.
Aber wir tauschten über den Tisch auch Blicke aus und die waren bei uns allen eindeutig.
Eine Nacht mit lebenden Toten im Iran und jetzt einen Tag und Teil einer Nacht mit Zombies. Eigentlich genug. Wir hatten jetzt schon die Schnauze voll von Pakistan. Keiner wollte an diesem Tag mehr raus. Stattdessen machten wir Pläne für den nächsten Tag. Auf jeden Fall am Morgen den nächsten Bus nehmen und raus aus Pakistan. So schnell wie möglich rüber nach Indien. Da war es dann hoffentlich besser. Da musste es besser sein! Immerhin das Ziel aller Rucksacktouristen: Indien, Goa und Nepal.