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Kapitel 7
Оглавление1977 – Holzkamp – Ein Streik
August 1977,Holzkamp gab uns eine große Hausarbeit, sechs Wochen Zeit, mindestens 30 Seiten mit allen Literaturhinweisen, über die Kritische Psychologie, genaues Thema weiß ich heute nicht mehr. Klar war, dass man dazu alle seine Bücher - neben einigen anderen – gelesen haben musste. Das ist natürlich auch ein Weg, den Verkauf seiner Bücher anzukurbeln.
So hab ich dann sein erstes Buch gelesen und mit meiner Komposition begonnen. Sechs Seiten fertig, durchlesen, alles Mist. Ich habe nichts von meinen eigenen Worten verstanden. Ab in den Papierkorb. Neu beginnen. Wieder Mist und nochmal von vorne.
So ging die Zeit dahin. Nach vier Wochen hatte ich nicht eine Seite Papier vorzuweisen und jetzt kam natürlich Zeitdruck dazu. Dann der Beschluss, dass ich es jetzt endlich packen muss. Bin am Samstagmorgen nicht zur Uni gegangen. Montag musste ich meine Arbeit fertig haben. Also zwei Tage durcharbeiten. Nochmal sein erstes Buch lesen, erst mal verstehen, was er eigentlich sagen will, alle Fremdwörter in Gelb markieren, jedes einzelne auf seine Bedeutung untersuchen, dann muss ich es ja wohl verstehen.
Die erste Seite, es fällt mir plötzlich auf, bestand nur aus zwei Sätzen. Wie kann einer so lange Sätze machen, das kann ja keiner verstehen. Zwei Sätze sind Zuviel. Erst mal den ersten Satz verstehen. Alles übersetzen, es mit meinen eigenen Worten niederschreiben. Scheiße - alles nur Unsinn.
Abends um zehn Uhr hatte ich immer noch keine einzige Seite geschrieben. Ein Wutanfall überfiel mich und ich warf sein Buch quer durchs Zimmer. Es prallte an der Wand ab und zerfiel in zwei Teile. Mein Schlüsselbund feuerte ich dann noch hinterher. Sandy war ganz schockiert, blickte mich mit fragenden Augen an.
„Du hast gut reden! Du musst keine Arbeit über Psychologie schreiben.“
Ich glaub das hat sie verstanden und ließ mich in Ruhe. Das war‘s dann für mich. Wenn ich nichts verstand, dann musste er es mir erklären. Er hat‘s geschrieben. Montagmorgen, Holzkamp, betritt den Raum und ich stehe sofort mit seinem Buch in der Hand auf.
Ich erklärte ihm, dass ich von meiner ganzen Arbeit noch keine Seite habe. Das ich sein Buch nicht verstehe. Das ich natürlich verstehen will.
„Es fängt schon mit ihrer ersten Seite an. Nur zwei Sätze. Können sie mir den ersten Satz übersetzen, mit einfachen Worten?“
Verblüfft und überrascht hörte er mir zu und natürlich wollte er sofort helfen. Ich kann die dann nachfolgende Konversation heute nicht mehr wiedergeben, weil sie sich über zwei Stunden zog und es ging nur über diesen einen Satz. Was immer er mir versuchte zu erklären, ich verstand kein Wort.
Er sprach genauso wie sein Buch. Bemühte sich wirklich einfach zu reden, aber was da seinen Mund verließ war derselbe komplizierte Scheiß den er niedergeschrieben hatte. Sehr lange Sätze mit unendlichen vielen Kommas und so vielen Fremdworten. Ich versuchte ihn oft zu unterbrechen, ihm zu erklären, dass ich aus einer Bergarbeiter Familie bin aber doch denke, dass ich nicht blöd bin.
Dann fing er wieder von vorne an mit seinen Erklärungen. Mittlerweile fiel mir auch auf, dass viele von meinen ach so intelligenten Kommilitonen mich mit ihrem Kopfnicken unterstützten. Dann kamen auch Bemerkungen, dann standen sogar einige auf, unterstützten meine Argumentation. Er wurde da vorne immer verzweifelter und rang nach Worten und rang nach Einfachheit.
„Also war ich nicht der Einzige der nichts verstanden hatte.“
Trotz all des intellektuellen Geredes, niemand hatte irgendeins seiner Bücher verstanden. Ihn so zu beobachten wie er sich abmühte vor mir, fiel mir plötzlich auf, dass er mich nie anguckte, mir nie in die Augen sah, eigentlich niemanden ansah. Seine Augen huschten nervös hin und her, blieben nirgendwo stehen.
Manchmal können Momente so intensiv sein, dass man eine vollständige Aufmerksamkeit entwickelt. Vorne eine Diskussion führt, gleichzeitig jedes Kopfnicken mitbekommt seitlich und sogar hinter einem, und dann noch seinen eigenen Gedanken folgen kann. Die ganze Klasse stand jetzt hinter mir und ich fühlte mich wie ein Feuerspeiender Drache.
Ein so deutlicher Gedanke:
„Jetzt bin ich endlich hier. Ich bin jetzt angekommen.“
Seine Augen gingen mir echt auf die Nerven:
„Ich kann verstehen, dass sie sich Mühe geben, aber was ich nicht verstehe, warum sie mich in den letzten Stunden nie angesehen haben. Ihr Augen sind überall aber nicht bei mir oder bei irgendjemanden hier in der Klasse.“
„Warum?“
Diese Frage konnte er nicht mehr beantworten. Das Glockenzeichen rettete ihn.
Unterrichtsende und er war innerhalb von drei Sekunden verschwunden. Kleine Ereignisse können oft ein Leben total verändern. Ich fühlte mich wie ein Adler der da hoch oben in den Wolken und im Sonnenschein seine Kreise zieht. Spürte den Wind in meinen Federn, spürte meine Federn sich strecken um jede kleinste Nuance des Windes auszunutzen, die grenzenlose Freiheit alles unter mir messerscharf zu sehen, und doch da oben zu schweben, unberührt von der Welt da unten. Ich glaub da gab‘s sogar mal einen Song von einem Deutschen darüber. „Über den Wolken“ von Reinhard Mey.
Es wird zwar nur der billige Abklatsch aus einem Flugzeug beschrieben, aber trotzdem gut. Offenbar können wir uns nur den vorstellen.
Fliegen muss einfach wunderschön sein.
Irmgard – Ein Streik:
Jetzt entwickelte sich alles mit einer irren Geschwindigkeit. In mir und an dieser Uni. Eine Woche später traf ich in einer Arbeitsgruppe Irmgard. Wir entwickelten ein Flugblatt gegen das neue Hochschulrahmen Gesetz für den nächsten Tag. Und wie zwei starke Magnete blieben wir aneinander kleben.
Etwas mehr als drei Monate sollte das andauern. Die ungewöhnlichste Beziehung die mir je passiert ist. Sie war klein, sexy, unabhängig, blond, smart, und studierte bereits im letzten Jahr Psychologie an meinem Institut. Und nicht zu vergessen, sie war so intensiv am Leben mit jeder Faser ihres Herzens.
Ich muss jetzt leider von Geschichte zu Geschichte springen, weil einfach in den nächsten vier Monaten mehr passiert als in meinen 27 Jahren zuvor.
Ich verbrachte die erste Nacht mit ihr in ihrer WG und fand mich dann am nächsten Tag mit Irmgard und sechs Lesben am Frühstückstisch sitzend. Für einen Deutschen aus Herten eine unheimlich Situation. Da traf man niemanden auf der Straße der offen lesbisch ist. Natürlich kannte ich den Ausdruck, aber hier waren sie dann in Fleisch und Blut. Offensichtlich drei Pärchen, zwei Anwälte und zwei die an der Uni lehrten, und dunkel erinnert, zwei Lehrer. Die haben wahrscheinlich auch meine innere Sprachlosigkeit mitbekommen, mein Versuch das einfach zu akzeptieren und zu studieren wie es mir dabei geht. Aber das Frühstück war super. Ich musste danach auch mal Irmgard fragen ob sie auch lesbisch ist, aber das stritt sie ab.
Was war so ungewöhnlich an meiner Beziehung mit Irmgard? Wir hatten in der ganzen Zeit nie Sex, und doch verbrachten wir Tage nackt im Bett, malten zusammen Bilder mit Wasserfarben, nackt auf dem Teppichboden sitzend, träumten zusammen über das Leben, konnten fünf Stunden wie kleine Kinder herumalbern. Ihr Studium hatte sie eigentlich beendet, alle Scheine beisammen, nur den letzten nicht, einen Praktikumsplatz, da war sie schon seit zwei Jahren auf einer langen Warteliste.
Musste dann allerdings auch erfahren, dass ihre Frustration mit diesem Studium der Psychologie so ungefähr 50 Mal größer war als meine. Rosige Aussichten für das Ende meines Studiums.
Die Berliner Uni 1977 - die Frustration bei allen Studenten war gewaltig. Die Studentenbewegung 1968 hatte so viele Hoffnungen über Veränderungen in der Gesellschaft erweckt, für die Freiheit des Menschen. Dazu die kleine Revolution in der Musik, mit Beatles und Rolling Stones, die Flower-Power Bewegung in den Staaten, Muhammad Ali hatte den Wehrdienst verweigert und ging dafür in den Knast. Eine Zeit des Aufbruchs, und die Gegenreaktion in Deutschland, eine Ultra - rechte Regierung, bestehend aus ex –Nazis, die sich feige hinter Positionen in Industrie und Handelskammer, Unternehmerverband, CDU/CSU versteckten, und um Kontrolle kämpften. Die Kontrolle die sie mal während des Hitler Regimes hatten.
Beim Sternmarsch in Bonn gab es jedes Jahr schwere Auseinandersetzungen mit der Deutschen Polizei, Benno Ohnsorg wurde 1967 hingerichtet von eben dieser Polizei, Rudi Dutschke starb ein Jahr später, 1978, als Folge eines Attentats, und die deutsche Regierung erlaubte es Iranischen Schlägern mit Holzlatten, Studenten, schwangere Frauen und Kinder zu prügeln, mit einer Polizei die lächelnd dabeistand und diese Schläger moralisch unterstützte.
Das nur zur Erinnerung um diese Zeiten zu verstehen.
Einige Demonstrationen hatten in den Monaten zuvor bereits stattgefunden, aber mit geringer Beteiligung. 40 000 Studenten gab es in Berlin und knapp 1000 marschierten mit. Ist ja wohl nichts.
So viele politischen Gruppen buhlten um die Gunst der Studenten, von Marxisten, Trotzkisten, Leninisten, Sozialisten, Kommunisten, die verrückte Moon Sekte, Ultra - rechte Christen, der christliche Flügel der CDU und dann noch etliche andere exotische Spinner. Alle hatten etwas gemeinsam: Sie hatten Recht und jeder andere hatte Unrecht, und die Menschen gingen denen am Arsch vorbei. (netter deutscher Ausdruck)
Das ganze Spektrum konnte man jeden Morgen bewundern, nachdem man die U Bahn an den Uni Stationen verließ. Da standen sie dann links und rechts und verteilten ihre Flugblätter.
Wintersemester 1977:
Eines Morgens war er da, der große Streik, Freie Universität, Technische Universität, viele Gymnasien, in Berlin wahrscheinlich alleine 50 000 Schüler und Studenten. In den Streik getreten das neue Hochschulrahmengesetz zu verhindern. Viele andere Universitäten schlossen sich dem Streik an, auf seinem Höhepunkt ca. 500 000 in der BRD.
Ich betrat morgens das Institut, der Streik hatte begonnen und wir wurden zu einer Versammlung aller Studenten gerufen. Ein Vertreter der ASTA (Studentenausschuss aller Studenten der FU) hielt eine kleine Rede. Unser Institut schloss sich natürlich dem Streik an.
Wir sollten einen Streikrat wählen, der dann den Streik am Institut organsierte und leitete. 900 Studenten in der Aula, vollgestopft bis in die letzte Ecke, Namen sollten vorgeschlagen werden und kamen auch sofort zur Abstimmung.
Mein Name wurde aufgerufen:
„Wer unterstützt ihn?“
Ich begriff gar nicht was da vor mir passierte, das ging alles viel zu schnell. Fast alle Hände signalisierten ihr „Ja“ und ich war gewählt. Warum eigentlich? Mich kannte doch keiner. Ich war immer der ruhige Typ. Die einzige Ausnahme war die Diskussion mit Holzkamp 14 Tage vorher. Hatte sich das rumgesprochen?
Meine Klassenkameraden schoben mich nach vorne und hoch auf das Podium, an den langen Tisch. Die Wahl der acht anderen vollzog sich in wenigen Minuten und wir nahmen alle Platz hinter dem großen Tisch.
Und Scheiße! Das hatte ich gar nicht gesehen: genau vor mir das einzige Mikrofon.
Und es war schon zu spät noch den Stuhl zu wechseln. Doppelt Scheiße. 900 Augenpaare gucken mich an und ich wäre am liebsten in den Boden versunken, da wo mich niemand sieht. Ich hatte noch nie in meinem Leben mit einem Mikrofon gesprochen und noch nie vor irgendeiner Versammlung.
Etwas musste ja jetzt passieren und das schnell. Ich nahm das Mikro, der Schweiß lief mir den Nacken runter, die ersten Worte verschwanden in froschähnlichen Lauten und dann ging‘s plötzlich. Ins Wasser geschmissen konnte ich schwimmen. Der Schweiß hörte auf zu laufen, der Frosch hatte sich verpisst, und ein anderer Typ und ich leiteten die Diskussion, als ob ich nichts anderes in meinem Leben gemacht hätte als das.
Die Tage danach gab es kaum noch Schlaf. Versammlungen, Flugblätter, unsere 900 Studenten am Institut organisieren, den normalen Lehrbetrieb zum Erliegen bringen.
Normalerweise blieben die meisten Studenten während des Streiks zuhause, doch diesmal war es anders. Sie alle kamen jeden Tag. Alternative Seminare wurden organisiert, Seminare mit unseren Inhalten. Fast alle Lehrer unterstützten uns, natürlich nicht offiziell, aber halfen mit als Beobachter und mit Worten.
„Ihr müsst durchhalten. Ihr streikt nicht nur für euch sondern für alle Lehrer und alle Unis und die gesamte BRD.“
An vielen Orten in der BRD fanden riesige Demonstrationen statt und natürlich durfte die Ordnungsmacht nicht fehlen. Und die schlug zu - speziell in Berlin! Irmgard und ich verbrachten jeden Tag zusammen, in Versammlungen, Seminaren bis spät nachts, in der letzten Arbeitsgruppe um ein Flugblatt zu gestalten und es dann noch in der Nacht 10 000 Mal zu kopieren.
Am sechsten oder siebten Tag, wir betraten das Institut sehr früh, erwartete uns bereits ein Student von der ASTA. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zwei Studenten, Christoph und Peter wurden an diesem Morgen an einer U Bahn Station von Polizisten in Zivil angegriffen, vor 50 oder 60 Passanten zusammengeschlagen (die hier die Praxis unserer wunderschönen Demokratie bewundern konnten), dann in einen haltenden Wagen gezerrt und blutüberströmt verschleppt.
Eine große Demonstration wurde für den Nachmittag organisiert, an der wahrscheinlich so 20 000 Studenten teilnahmen. Anwälte versuchten Druck zu machen und herauszufinden, wohin man die beiden verschleppt hatte. Sie blieben verschwunden. Und klar: In derselben Nacht wurden für den nächsten Tag neue Aktionen geplant.
Um halb zwei morgens verließ ich Irmgards Wohngemeinschaft, um in die Oranienstraße zurück zu kehren. Ich hatte früh am nächsten Tag ein Treffen in einem Gymnasium in Kreuzberg geplant, damit sie sich unserem Streik anschlossen. Ich war gerade mal drei Minuten in meiner Wohnung als das Telefon läutete.