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Kapitel 3
ОглавлениеMein Vater – 1970
Ich war bereits zusammen mit M., meiner wunderschönen Freundin und ich war durch und durch verliebt. In der Obersekunda bin ich leider mit einer 6 in Latein ein zweites Mal sitzengeblieben und hatte gerade eine Arbeit bei den Chemischen Werken Hüls als Chemiearbeiter begonnen. Ich hatte bereits begonnen über den Anfang einer Lehre als Chemielaborant im selben Werk nachzudenken.
Mit 55 wurde mein Vater in den Ruhestand geschickt. Kohlebergwerke schlossen überall im Ruhrgebiet und auch die Zeche in Langenbochum machte dicht. Mit Kohle war wohl kein Geld mehr zu machen. Bergarbeitern blieb keine Wahl als den Zwangsruhestand zu akzeptieren und das mit 55 und bei halbem Geld. So eine Scheiße.
Mein Vater hasste es, plötzlich Rentner zu sein und das bei halbem Geld. Er war immer noch ein sehr starker und innerlich ein junger Mann, auf keinen Fall einer der auf der Parkbank mit anderen Rentnern Skat spielt. Saustark, ruhig, höflich, immer umgeben von einer Aura von Power, suchte er sich eine Schwarzarbeit, weil das Geld auch einfach nicht mehr für eine Familie von vier Menschen reichte.
Die neue Arbeit, Steine zu schneiden und zu schleifen war sau-hart. Aber ich denke er wollte sich einfach auch selbst beweisen, dass er noch kein Rentner ist, dass er immer noch stark ist.
Im Februar dann die ersten Tage mit Rückenschmerzen. Er arbeitete weiter. Keiner wunderte sich weil ja seine Arbeit sehr hart war und wir alle seine Müdigkeit nach einer 8 Stunden Schicht sahen.
Die Schmerzen wurden stärker, er musste gelegentlich mal einen Tag aussetzen und der erste Arzt behandelte ihn mit Spritzen. Im März und April wurden die Schmerzen noch schlimmer, musste manchmal eine ganze Woche aussetzen und die Spritzen wurden regelmäßig. Ohne die ging es gar nicht mehr. So gab er dann schließlich seine Arbeit auf.
Noch mehr Spritzen und dann schließlich im April zum ersten Mal ins Hertener Krankenhaus und natürlich noch mehr Spritzen. Aber die Schmerzen hörten jetzt nicht mehr auf und die Spritzen halfen einen Dreck. Dann wieder raus nach Hause und zwei Wochen später wieder zurück ins Krankenhaus.
Noch mehr Spritzen, er konnte jetzt nur noch langsam laufen, aber immerhin das konnte er noch. Im Krankenhaus haben wir ihn natürlich jeden Tag besucht, meine Mutter morgens und nachmittags. Nach Ende meiner Schicht um 3.45 fuhr ich auch sofort ans Bett meines Vaters.
Er wurde schwächer, ein Scheiß Gefühl für einen Mann der zeitlebens ein starker Mann gewesen war. Ich erinnere mich, dass er mir als Kind manchmal diesen Trick gezeigt hatte. Er krempelte seine Ärmel hoch, spannte seine Oberarmmuskeln, dicke Dinger, und ließ ein spitzes Küchenmesser von 30 Zentimeter gerade runterfallen auf seine Muskeln. Da gab es nie Blut zu sehen für mich - und das Messer war sau-scharf und spitz. Ich habe immer genau seine Muskeln untersucht, ob da nicht doch irgendwas von der Spitze des Messers zu sehen war.
So war er.
Im August dann wieder Krankenhaus und es ging weiter mit Spritzen und jetzt noch ein zusätzliches Korsett das er ständig tragen musste. Er war jetzt schon drei Wochen da drin, wir besuchten ihn täglich, jetzt ging‘s nur noch mit zwei Krücken durch den Gang.
Eines Nachmittags, bei unserem üblichen Besuch, genau vor seinem Zimmer, wurden wir von einer Krankenschwester aufgehalten. Der Chefarzt wollte uns alle sprechen - er wartete bereits auf uns.
Eine hohe Ehre, dass der Boss sich höchstpersönlich um unseren Vater kümmerte.
An diesem Tag, in diesen 20 Minuten mit dem Chefarzt trat der Tod in unser Leben!
Nachdem sich sein Zustand ja nun fünf Monate nicht gebessert hatte, sondern sogar jeden Tag schlechter wurde, hat man schließlich Blutproben an ein Krankenhaus in Essen geschickt, das auf Blutkrankheiten spezialisiert ist und bessere Untersuchungen anbot.
Essen ist nur 30 Kilometer von Herten entfernt, da hätte ich mit dem Fahrrad in einer Stunde hinfahren können. Aber der Boss war gut, hat er ja schließlich gemacht, hat halt nur fünf Monate gedauert bis zu seinem Geistesblitz. Die Ergebnisse waren gerade eingetroffen.
Mein Vater hatte eine sehr seltene Blutkrankheit, die nur bei einigen wenigen Patienten in Deutschland im Jahr diagnostiziert wurde. Es gab wohl noch mehr Chefärzte die mit Geistesblitzen auf dem Kriegsfuß standen. Das Mark des Knochens verschwand und alle seine Knochen werden dadurch spröde und brechen irgendwann. Sechs Monate lang die verdammten Cortison - Spritzen und niemand ist mal auf die Idee gekommen sich zu fragen, warum die nicht halfen. Und so was darf sich Chefarzt nennen, der sollte besser bei Aldi Rabattmarken in die Hefte kleben.
Bei Röntgenaufnahmen seines ganzen Körpers heute Morgen, wurden bereits zwei große Löcher in seiner Schädeldecke entdeckt. In all diesen Monaten vorher ist denen nicht einmal die Idee gekommen Röntgenaufnahmen zu machen. Ich hatte in diesem Moment nicht den Mut diesen ekligen schleimigen Typen zu verprügeln, der da in seiner Aura von Gott saß.
Aber er war der Boss und meine Mutter schaute mit Achtung zu ihm auf.
Mein Vater hatte höchstens noch ein Jahr zu leben, aber wahrscheinlich weniger.
Der Tod war jetzt da, im Flur auf dem Weg in sein Zimmer, in unserem Leben. Jeder versuchte sich zu sammeln, den Schmerz zu unterdrücken, so zu tun als ob es ein ganz normaler Besuch ist. Ich musste etliche Male auf die Toilette, einfach nur, um da zu heulen, sonst hätte er meine Tränen unter dem Lächeln gesehen. Er war guter Laune, lächelte, scherzte rum, scherzte über den Körper der nicht mehr so will wie er sollte. Fragte uns öfters warum wir so ernst sind.
Zuhause gab‘s dann natürlich viele Tränen von meiner Mutter. Und manchmal sah ich sie auch in den Augen meiner Großmutter, aber nur, dass bisschen Wässerige, das vor dem Ausbruch erscheint, der aber dann nie kam.
Meine Schwester nahm diese Nachrichten auf, als ob es sie nie gab. Keine Reaktion, keine Träne, Nichts, einfach weiter machen, so als ob nichts wäre. Das hat mich am Anfang sauer gemacht und habe es nicht verstanden. Das war ja ihr Vater und er war super zu ihr und hat sie geliebt.
Sie hat jede Ausrede genutzt um nicht mit ins Krankenhaus zukommen. Konnte sie es nicht vermeiden mitzukommen, war sie dann immer super cool am Krankenbett.
Erst nach ein paar Wochen habe ich verstanden. Jeder geht mit Schmerz verschieden um.
Sie war 13 zu der Zeit und ein Weg mit Schmerz umzugehen, ist so zu tun, als ob er nicht da ist, ihn nicht reinzulassen. Aber natürlich ist er da, man steckt ihn nur weg, tief rein in irgendeine Ecke in der er nicht auffällt. Ich bedauerte sie manchmal, aber man muss es auch akzeptieren wie es passiert.
Es wurde schlimmer und schlimmer mit meinem Vater. Selbst auf Krücken ging‘s auf dem Gang nicht mehr auf und ab. Gerade mal im Zimmer konnte er noch auf seinen Krücken laufen. Dann kam auch noch ein neues Korsett. So was wie in einer Irrenanstalt, nur in einer harten Schale.
Dann kam er mal wieder nach Hause, geplant für zwei Wochen aber drei Tage später war er wieder zurück in seinem Krankenhausbett. Jeder Besuch bei ihm war schmerzhaft, weil wir alle über seinen nahen Tod wussten, er aber nicht. Er war immer in bester Laune, immer rumscherzend über das Leben, die Ärzte, mit uns und über seine Krankheit, die ihn ja nur vorrübergehend lahmlegt.
Aber er sprach nie über die Zukunft, immer nur in der Gegenwart oder über Morgen, aber nie weiter voraus.
Ich bin eines Tages, irgendwann im September, spät angekommen. Ich wusste, dass meine Mutter schon wieder nach Hause gegangen war. Ohne anzuklopfen ging ich rein und er hat mich wohl nicht mehr erwartet. Er stand am Fenster auf einer Krücke, schaute raus, zuckte zusammen als er mein Hallo hörte, drehte sich aber nicht um. Seine Hand kam mit einer schnellen Bewegung hoch, dann versuchte er mit seinem Körper die Hand zu verbergen.
„Ah, da bist du ja.“
Dann drehte er sich um, die Träne war so klein, die sein Gesicht noch immer feucht machte, dann das große Lächeln und Scherzen und zurück ins Bett und dann war alles wieder normal, wie bei jedem Besuch.
Nach dem Besuch ging ich raus zu meinem Wagen, aber ich konnte nicht fahren. Stattdessen setzte ich mich auf eine Parkbank. Und dann konnte ich nicht mehr. Meine Tränen flossen wie ein Bach, mein Körper war irgendwie nicht mehr richtig unter Kontrolle, es schüttete nur noch aus mir raus.
Er wusste Bescheid. Er wusste seit langem das der Tod nahe war. Das nur noch Augenblicke übrigblieben für ihn. Er hat es schon vor uns gewusst. Der Tod eine Tatsache für ihn, ganz nahe dran.
Wie lange bleibt Schmerz in einem? Ich habe geheult als ich dieses Buch in Englisch geschrieben habe und jetzt bei der Übersetzung ins Deutsche heule ich wieder.
Schmerz bleibt wohl, so wie auch Glück, so wie auch alle anderen Gefühle. Man kann sie wegstecken in irgendeine kleine Ecke wo niemand sie sieht, aber sie sind immer noch Teil von uns. Man kann sich eine neue Erinnerung schaffen, eine in der man gut aussieht, in der man toll ist, aber alles ist noch da. Man kann sich nicht in die Tasche lügen, die wirkliche Wahrheit ist eingebrannt in uns, ein Teil unserer Persönlichkeit, ein Teil was uns ausmacht. Man kann sich reich machen, so reich das niemand einem mehr die Wahrheit sagt, aber das kleine Ich ist immer noch da und bleibt da, und verkümmert.
Dann ist es besser zu heulen, weil es einfach da ist.
Ich hab lange auf dieser Parkbank gesessen. Zuhause konnte ich das niemandem sagen. Ich konnte keinem sagen dass er wusste dass er bald stirbt. Es ging einfach nicht.
Er siechte dahin mit seinem Körper, sein Geist hellwach, Oktober und November vergingen. Anfang Dezember wurde der Plan gemacht, dass er Weihnachten vielleicht für zwei Tage nach Hause kommt, um mit der Familie zusammen zu sein.
Im Dezember bin ich dann nochmal alleine mit ihm gewesen, meine Mutter und die anderen waren schon nach Hause gefahren. Alles war normal, scherzen und gute Laune und mit den Schwestern flirten. Dann nahm er plötzlich meine Hand, wurde ganz ernst.
„Du musst mir ein Versprechen geben.“
„Na klar. Was soll ich dir versprechen?“
„Wenn ich tot bin, und das wird sehr bald sein, versprich mir, dass du diese Paula und ihren blöden Mann aus dem Haus wirfst. Ich hätte das vor 13 Jahren tun sollen. Ich hätte das wirklich tun sollen. Versprichst du es mir?“
Und er presste meine Hand. Und ja, ich hab es ihm da am Bett versprochen. Irgendwie wusste ich, dass er den Moment mit der Klopp - Peitsche nie vergessen hatte.
Dieses Versprechen konnte ich nach seinem Tod nicht einhalten. Aber ich hab es ihm versprochen und da führt kein Weg dran vorbei. Der Schmerz war so groß in mir. Habe mehrmals mit meiner Großmutter Paula ein Gespräch angefangen, aber nicht durchgehalten, irgendwie vor den letzten Worten immer aufgegeben.
Aber ich hatte es ihm versprochen!
Weihnachten zuhause, konnte für ihn nicht klappen. Er wurde schwächer. Das war schon Mitte Dezember klar. Am 21 Dezember, unser übliche Besuch von zwei bis sechs Uhr, ein normaler Tag. Er war bester Laune, konnte sich kaum noch bewegen und wir haben uns bis zum nächsten Tag verabschiedet.
Gerade zurück im Haus angekommen, klingelte das Telefon.
Die Krankenschwester die für meinen Vater verantwortlich war:
„Sie alle müssen sofort wieder zurückkommen. Ihr Vater hat mir gerade aufgetragen sie anzurufen. Heute ist der Tag. Er wird heute sterben.“
So einfach. So schnell. Wie kann er das wissen?
Meine Mutter hatte noch nicht mal ihren Mantel ausgezogen und es ging zurück ins Krankenhaus so schnell wir konnten.
Da lag er dann, sein Körper so schwach, dass er nichts mehr bewegen konnte, außer seinem Kopf, den er noch zu jedem von uns bei der Ankunft drehen konnte. Auf seinem Gesicht lag ein unbeschwertes Lächeln.
Und wie üblich die Scherze mit jedem. Waren wir wirklich von ihm gerufen worden weil er jetzt gleich oder in der Nacht stirbt? Aber über den Tod spricht man nicht, sprach niemand von uns. Scherzen, Lachen, Lächeln und sprechen mit jedem, jedes Mal den Kopf demjenigen zudrehend.
„Ich muss dringend“, sagte er dann, und meine Mutter schob die Glasflasche unter die Bettdecke, steckte seinen Schwanz rein. Man sah seine Anstrengung. Er versuchte zu pissen.
„Geht doch nicht. Jetzt hat das Ding auch aufgehört zu funktionieren“, mit lachender Stimme.
Einige Minuten vergingen mit normalen Gesprächen. Etwas änderte sich im Raum. Man konnte es fühlen. Er hob den Kopf lächelte jeden von uns an, nacheinander und seine Augen glitzerten als sie auf meine trafen. Er nahm einen tiefen Atemzug, und war weg. Starb da direkt vor unseren Augen mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Aber er war nicht mehr da.
Aber dieses letzte Lächeln war immer noch in sein Gesicht geschrieben, mit all seiner Wärme.
Es war vorbei. Ich berührte sein Gesicht und küsste ihn, aber es war niemand mehr drin in dieser Schale, die aufgehört hatte zu funktionieren.
Ich hab noch nie in meinem Leben meinen Vater geküsst. Er hat der Welt sein Lächeln hinterlassen und er hat es mir hinterlassen.
Die nächsten drei Tage überrollten uns einfach. Beerdigung am 24. Dezember, ein Weihnachten, das ich nie in meinem Leben vergessen werde. Nach dem üblichen Kaffeetrinken danach, zurückgezogen in dem großen Fernsehsessel, leerte ich eine Flasche Wodka.
In den Wochen danach und eigentlich bis heute, hat mich dieser letzte Moment des Todes niemals verlassen. Der Tod mit einem Lächeln. Was für einen Mut. Er wusste lange vor uns, dass das Ende nahe war. Er sagte mir das in diesem ganz kleinen Moment am Fenster.
Er ist wie ein Krieger gegangen.
Ich möchte genauso sterben. Ich hoffe ich habe den Mut wenn es Zeit für mich ist. Den Mut zu akzeptieren, zu lächeln und ihn willkommen zu heißen, den Tod.
Ich möchte mein Leben so leben, dass ich es kann. So, dass ich nichts bereue und jede Sekunden meines Lebens als Teil von mir akzeptieren kann. Ein volles Leben und dann gehen.
Dieser Gedanke mit einem Lächeln zu gehen, hat mich nie verlassen. Ich hoffe am Ende meines Lebens habe ich diesen Mut in meinen Spiegel zu sehen, jede Sekunde zu sehen und jede Sekunde akzeptieren, mein Leben zu sehen wie ein schönes Gemälde, in dem ich jede Sekunde einen neuen Pinselstrich dazu gefügt habe, und am Ende ist es fertig und es ist gut so. Jeder Pinselstrich, jede Farbe an der richtigen Stelle.
Man legt den Pinsel weg, betrachtet es mit einem Lächeln und geht. Ich hoffe es.
Durch den Tod meines Vaters habe ich über mich gelernt und viel über die Menschen die zurückblieben. Sechs Monate später habe ich eine kleine Wohnung gemietet, nur für mich. Der Kontakt mit meiner Familie ist nie abgerissen, wurde aber weniger über die Jahre, weil einfach mein Leben in anderen Bahnen weiterging.
Ich liebe meine Schwester Barbara - und auch heute, 2015, telefonieren wir jede Woche.
Meine Großmutter, Paula:
Alles veränderte sich jetzt schnell. Meine Großmutter habe ich gehasst, jeden Tag und jede Sekunde an die ich mich erinnern kann, bis zum Tod meines Vaters.
Ihr sarkastischer tödlicher Witz, ihr Kritik jeden Tag, ihre hunderte von Bemerkungen, ihre Intelligenz. Wir waren ihre Opfer. Mit fünfzehn habe zurückgekämpft, mich gewehrt, rebelliert. Meine Schwester hat sich nie gewehrt, hat alles in sich hineingefressen.
Ich erinnere mich, irgendwann im Alter von elf oder zwölf Jahren kam dann der Tag, als alles zu viel wurde für mich. Am Abend, alleine in meinem Zimmer, habe ich dann beschlossen das ganze wissenschaftlich anzugehen. Buch zu führen über jede Sekunde des nächsten Tages.
Ich nahm ein großes Blatt Papier. Auf die linke Seite schrieb ich, von oben angefangen, alle Ausdrücke die meine Großmutter mir an diesem Tag gesagt hatte und an die ich mich erinnern konnte.
Du Idiot! Du Affe! Du Tunichtgut! Kein Gehirn! Blöd wie ein Stück Scheiße und so weiter. 19 Ausdrücke und Beschimpfungen hatte ich auf der linken Seite gesammelt. Unten noch ein wenig Platz wenn sie eine neue erfinden würde. Der nächste Tag war mein Tag, mein Wissenschaftstag. Die Liste hatte ich versteckt.
Ich wurde der Beobachter einer irrealen Welt, meiner Welt und meiner Familie.
Die erste Beschimpfung geschah oft schon in den ersten fünf Minuten, nachdem ich morgens die Küche betreten hatte. Merken, in mein Zimmer laufen, einen Strich rechts neben der Beschimpfung machen.
Zurück, so tun als ob nichts wäre, zwei weitere Beschimpfungen, zurück in mein Zimmer und zwei Striche mehr.
Wurde ich von einem neuen Ausdruck überschüttet, merken, in mein Zimmer und schnell auf die linke Seite zu den 19 anderen schreiben, die ich schon hatte. So ging‘s den ganzen Tag bis spät abends. Niemand hat etwas gemerkt, den ganzen Tag.
Alleine in meinem Zimmer, alle anderen waren schon schlafen gegangen, konnte ich die Liste aus meinem Versteck holen. Ich konnte sie betrachten, zählen und analysieren.
Auf der linken Seite hatten sich 28 verschiedene Ausdrücke angesammelt.
Auf der rechten Seite zählte ich 213 Striche. 213 Mal hat mich dieser Teufel beschimpft. Und meine Schwester hat immer dasselbe abbekommen wie ich. Also für sie wahrscheinlich noch einmal 200 Beschimpfungen dazu. Was für eine Hexe.
In dieser Nacht hatte ich vor dem Einschlafen Phantasien von Blut. Von viel Blut. In die Küche zu gehen und das größte Messer nehmen, in sie reinstechen, wie wild, damit das Blut auf alle Wände spritzt. Das Messer nach jedem Stich noch extra rumdrehen damit ja alles rausspritzt und jedes Loch riesig wird.
Mein Vater tot, ein Hauptspieler in unserem Familien Drama war plötzlich weg. Und jetzt änderte sich langsam alles. 80 % dieser täglichen Beleidigungen hörten in den nächsten sechs Wochen auf.
Das war richtig faszinierend zu beobachten.
Das Hauptproblem in dieser Familie war wohl ein Konflikt zwischen meinem Vater und meiner Großmutter, der nie ausgetragen wurde. Der nie an die Oberfläche kommen konnte, der 16 Jahre alle Handlungen beeinflusste.
Das ist wie eine Fußballmannschaft die vier Mittelstürmer hat. Einer versucht gar nicht das Tor zu treffen, sondern stattdessen nur seine drei Kollegen abzuschießen.
Paula wurde jetzt viel weicher, viel umgänglicher und richtige Gespräche waren mit ihr möglich ohne direkt beschimpft zu werden. Über die folgenden Jahre, mein Leben ging weiter, vom Chemielaborant bis zum Psychologie Studium in Berlin, habe ich sie regelmäßig in Herten besucht.
Ihre Erinnerung verschwand langsam, erst das, was lange zuvor geschehen war und dann auch langsam das Gestern. Mit 26 bin ich mal auf ein Wochenende von Berlin aus rübergefahren. Alle waren bereits schlafen gegangen und ich saß mit ihr vor dem Fernseher. Zeit ihres Lebens konnten Fußball und Action Movies sie total begeistern. Die Art von Filmen, in denen viele starben und viel geschossen wurde und es einen Polizisten gab der am Schluss, nachdem alle tot waren, den Fall geklärt hatte.
Einen solchen Film sahen wir uns zusammen an. Sie saß da neben mir, mit ihrem Körper und Geist gefesselt von der Aktion auf dem Bildschirm. Alle paar Minuten kamen ihre Fragen.
„Warum hat der plötzlich eine Kanone?“
„Ist das der Polizist?“
„Warum findet der jetzt diesen Wagen?“
Alle zehn Minuten musste ich ihr den Film neu erklären. Ich konnte dem Film gar nicht mehr so richtig folgen. Es war zu faszinierend sie zu beobachten. Aller zehn Minuten begann ein neuer Film für sie, mit neuen Schauspielern, mit einer neuen Handlung und sie versuchte so verzweifelt alles zu verstehen.
Das war eigentlich richtig lustig sie zu beobachten, für mich viel besser als der Film. Manchmal sah sie rüber zu mir und unsere Augen trafen sich. Ich sah es in jedem Blick von ihr. Sie liebte mich. Sie hat mich immer geliebt und sie war eine sehr süße Person da ganz tief drinnen.
Diese Seite von ihr hatte ich nie gesehen. Die konnte sie in dieser Familie nie ausleben. All der Sarkasmus, der scharfe Verstand, die Bissigkeit ihrer Bemerkungen waren weg. Nichts mehr da.
Sie hat mich immer geliebt und sie hat auch immer meine Schwester geliebt, aber es konnte nie an die Oberfläche kommen und wir haben es nie gesehen. Aber in diesem Moment war das so sonnenklar in ihren Augen.
Ist das Leben nicht irgendwie verrückt? Vier verschiedene Persönlichkeiten in dieser Familie.
Sie passten nicht zusammen, konnten keinen ihrer Konflikte lösen. Und wir zwei Kinder standen da in der Mitte und versuchten verzweifelt in dem täglichen Chaos Sinn zu finden. Das war nicht ihre Schuld. Jeder von ihnen war gefangen in seinem eigenen Gefängnis und sie haben versucht das Beste daraus zu machen. Zurückblickend sind wir in einer fantastischen Familie aufgewachsen, trotz allem Chaos. Es hat mich stark gemacht und es hat meine Schwester stark gemacht. Und wir beide haben unseren Weg darin gefunden. Sie haben uns alle geliebt, jeder auf seine Weise, jeder so gut wie er unter den Umständen konnte.
Sie alle haben uns ihr Bestes gegeben, und mehr kann man von niemandem verlangen.
1985 habe ich bereits in Los Angeles gelebt, flog rüber nach Herten um in Freiburg für mein Mini Geschäft auf der Promenade von Venice Beach Silberschmuck einzukaufen. Paula, jetzt 85 Jahre alt, war bis zum Tage meines Abfluges in Los Angeles ok. Bei der Ankunft in Herten hatte sich alles geändert.
Während meines Fluges wurde sie krank und man musste sie ins Hertener Krankenhaus bringen. Gerade im Haus in Herten angekommen, fuhren wir dann auch sofort ins Krankenhaus.
Ihr Körper war schwach, ihr Geist wach wie immer, aber immer nur in der Gegenwart. Noch mehr der Vergangenheit war verschwunden und jetzt waren es nur noch fünf Minuten der Gegenwart die da hängenblieben. Als ich sie da so liegen sah und mit ihr redete, wurde mir plötzlich klar, dass ich ihr alles vergeben hatte, schon lange vorher. Ich mochte sie. Aller Hass hatte sich in Luft aufgelöst.
Die Diagnose der Ärzte:
„Sie ist ja jetzt schon 85 aber sie wird bestimmt noch viele Jahre leben. Alles kein Problem. In einer Woche wird sie wieder zuhause sein.“
Am nächsten Morgen sind wir wieder hin zu ihr. Sie empfing uns mit ihrem üblichen Lächeln, und meine Mutter gab ihr die berühmte Longines Uhr, die Uhr die ich jeden Sonntagmorgen um 7.45 bewundert hatte, sie oft in der Hand gehalten hatte weil sie einfach so besonders war.
Sie muss meiner Mutter wohl am Tag vorher gesagt haben, dass sie sie mitbringen soll. Paula gab sie mir.
„Für dich. Du hast sie immer bewundert. Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Verkauf sie wenn es dir mal dreckig geht und du Geld brauchst.“
Für mich. Was für ein Geschenk.
Nach vielen Stunden mit ihr sitzend und redend fuhren wir wieder nach Hause. Die Fahrt von Krankenhaus bis zur Feldstraße dauert 20 Minuten. Als wir zuhause ankamen war sie bereits tot. Sie starb 10 Minuten nach unserem Besuch, während wir noch im Wagen zurückfuhren.
Sie hatte auf mich gewartet, dass ich noch einmal zu ihr kommen konnte, den langen Weg von den Staaten. Ich wusste dass in dem Moment, als sie mir die Uhr gab.
Einige Tage nach der Beerdigung. Meine Mutter:
„Sie hat nur darauf gewartet, dass du nochmal kommst. Ich wusste das. Sie wollte dich und Barbara nochmal sehen, zusammen, damit sie Abschied nehmen kann von euch beiden. Wenn du erst in drei Jahren gekommen wärst dann hätte sie noch drei Jahre gelebt. Sie hat sich so gefreut am Tag vor deinem Abflug nach Herten. Ich wusste das sie gehen wollte sobald sie von euch Abschied genommen hat.“
Meine Großmutter, die Hexe, der Teufel aus der Hölle, innen eine wunderschöne Person.
Am Ende habe ich das alles verstanden. Das Leben ist verrückt.