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Einführung

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Das römische Theaterpublikum dürfte mächtig ins Staunen geraten sein, wenn es ernst nahm, was der Komödiendichter Plautus ihm da in seinem um 191 v. Chr. aufgeführten Stück „Pseudolus“ vorsetzte: Gleich zu Beginn liest der Sklave Pseudolus einen zu Herzen gehenden Liebesbrief vor, den die Dirne Phoenicium an seinen jungen Herrn Calidorus geschickt hat. Mit „tränenfeuchtem Blick und schmerzerfüllter Brust“ teilt sie ihm „durch die Buchstaben als Dolmetscher“ mit, dass ihr Zuhälter sie einem anderen versprochen habe. Damit seien das „süße Küssen, Scherz, Spiel, Geplauder und die innigen Verschlingungen“ mit Calidorus jäh zu Ende. Mit dem Brief habe sie „zugesehen, dass auch du das erfährst“.1

Ein unfreies Freudenmädchen offenbar nicht einmal griechischer Herkunft schreibt einen Liebesbrief, ein griechischer Sklave liest ihn, wenn auch mit spitzen Bemerkungen zur schwer lesbaren gallinae manus, „Hühnerklaue“2, vor – da scheint Athen, wo die Handlung angesiedelt ist, ja ein noch bemerkenswerteres Bildungspflaster zu sein, als man vom Hörensagen ohnehin weiß. Zwei Sklaven, die offenkundig mit großer Selbstverständlichkeit und mit Erfolg eine Schule besucht haben – eine Institution, die in Rom gerade einmal ein paar Jahrzehnte alt war und gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckte. Vielleicht gab es damals zwei, drei Elementarschulen in Rom, doch waren deren erste Schüler sicherlich keine Sklaven. Da mag manch einem im Zuschauerraum die kulturelle Verspätung schmerzlich bewusst geworden sein, die Rom in der Tat gegenüber dem griechischen Osten hatte.

Die Liebesbrief-Szene, die Plautus von seiner griechischen Vorlage übernommen hatte, spiegelt freilich nicht den normalen Bildungsalltag im hellenistischen Kulturkreis wider. Die wenigsten jener Sklavinnen, die von ihrem Besitzer sexuell ausgebeutet und an den meistbietenden „Freier“ vermietet oder verschachert wurden, konnten schreiben und lesen, und auch beim Gros der übrigen Unfreien waren einschlägige Basiskenntnisse eher ungewöhnlich. Es sei denn, man hatte bewusst einen gebildeten Unfreien erworben, um ihn als Sekretär, als Vorleser, Geschäftsführer oder in einer ähnlich gehobenen Position einzusetzen.

Solche Sklaven kannte man auch in Rom zu Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. Das waren meist gebildete Männer, die das Unglück der Kriegsgefangenschaft ereilt hatte und die nach Italien verschleppt worden waren. Vornehme römische Familien „hielten“ sich den einen oder anderen dieser hoch qualifizierten Unfreien – und vertrauten ihm ihre Kinder zum Hausunterricht an. Auch die „öffentliche“ römische Schule hat so begonnen: Oft waren es freigelassene Sklaven, die als Existenzgrundlage für ihr neues Leben eine Schule gründeten.

Wenn von „öffentlichen“ Schulen die Rede ist, so meint das Schulen, die anders als privater Hausunterricht im Prinzip von jedem besucht werden konnten, der dem Betreiber das geforderte Schulgeld zahlte. In heutiger Terminologie spräche man eher von Privatschulen. Öffentliche Schulen im heutigen Sinne kannte man im antiken Rom nicht. Es gab keine Schulpflicht – und auch keine staatliche Schulpolitik. Die Hürden für den Schulbesuch waren also hoch. Die meisten Familien hatten große bis größte Mühe, ihn für ihre Kinder zu finanzieren. Wie hoch die Quote der Schulbesucher gewesen ist, wissen wir nicht, wohl aber, dass sie nach Zeit und Ort, Geschlecht und gesellschaftlicher Stellung stark differierte. Kinder aus den Unterschichten und Mädchen gingen seltener zur Schule, im 2. Jahrhundert n. Chr. traf man auf eine wesentlich größere Zahl von Elementarschul-Absolventen als in den Jahrhunderten davor.

Sicher konnte man sich auch außerhalb der Schule Basiskenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen aneignen oder aus unregelmäßigem Schulbesuch einiges mitnehmen, das im Umgang mit dem Alphabet alltagstauglich war. Die römische Zivilisation war vergleichsweise stark – viel stärker als etwa das Mittelalter – von Schriftlichkeit geprägt. Wer durch die Straßen Pompejis streift, stößt auf Wahlaufrufe an den Hauswänden und, wenn er sehr genau hinschaut, auf Graffiti, die überall in die Wände geritzt sind. Inschriften prägten in allen römischen Städten das Straßenbild, ebenso die an den Ausfallstraßen gelegenen Begräbnisstätten. Auf Haushaltsgegenständen wie Geschirr, Lampen, Gläsern und Gewichten finden sich häufig kurze handschriftliche Besitzervermerke, ebenso auf Schmuckstücken und Waffen. Ziegelstempel geben Herstellungsort und -zeit des Baumaterials an, Öl- und Weinamphoren tragen Vermerke über Menge, Herkunft und Qualität ihres Inhalts.

Auch wenn viele Berufe in der Landwirtschaft, im Transportwesen, im Baugewerbe und in Produktionsbetrieben keine Kenntnis des Alphabets verlangten, war es angesichts der vergleichsweise komplexen Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen im Römischen Reich sehr hilfreich, wenn man wenigstens auf niedrigem Niveau lesen und schreiben konnte. Da die einschlägigen Quellen nur spärlich fließen, liegen die Schätzungen der Wissenschaftler hinsichtlich der Alphabetisierungsquote in der römischen Bevölkerung weit auseinander. „Pessimisten“ sehen sie bei unter 15 Prozent, „Optimisten“ wagen sich bis zu 50 Prozent vor. Realistisch scheint eine Quote von rund einem Drittel Nicht-Analphabeten in der römischen Kaiserzeit – mit einem enormen Stadt-Land-Gefälle und erheblichen Unterschieden zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Immerhin standen die Elementarschulen auch Mädchen offen, sodass der Alphabetisierungsgrad bei Frauen damals nicht eklatant niedriger gelegen haben dürfte als bei den Männern.

Es gab mithin in der römischen Zivilisation mehr als nur bescheidene Ansätze zu einer „Grundbildung“ in der Breite. Dazu hat die Schule einen entscheidenden Beitrag geleistet. Allerdings war das dafür notwendige Schulbankdrücken ausgesprochen hart. Viele erlebten die Schule als Qual. Lernen bedeutete leiden, angefangen von den äußeren Bedingungen bis zur Methodik des Unterrichts und der Selbstverständlichkeit körperlicher Züchtigung. Wer an die besondere Effizienz autoritären Unterrichts glaubt, wer meint, dass ein ordentliches „Durchgreifen“ der Lehrer zu besserer Disziplin führe, der wird bitter enttäuscht, wenn er sich mit der Schule im Alten Rom beschäftigt.

Gewiss, es hat auch in den römischen Schulen tüchtige Lehrer gegeben, die ihren Schülern mit Zuneigung und Zuwendung begegnet sind, die engagiert waren und die Kinder und Jugendlichen zu motivieren verstanden. Doch waren diese personellen Lichtblicke eher die Ausnahme in einem Schulbetrieb, der auch die Lehrer zu Leidtragenden machte. Wenn sie über geringe gesellschaftliche Akzeptanz und kargen Lohn klagten, konnte ihnen niemand widersprechen.

Die römische Schule taugt nicht als Modell, sondern eher als Gegenmodell für alles, was eine schülerorientierte Pädagogik und einen schulischen Raum ausmacht, in dem sich humanitas, Bildung als Menschlichkeit, entfalten kann. Dass zu einer solchen humanitas auch zentrale Unterrichtsgegenstände der römischen Schule wie die lateinische Literatur und Sprache einen wertvollen Beitrag leisten können, davon ist der Autor überzeugt. Allerdings muss man sie auf andere Art und Weise unterrichten, als das im Alten Rom der Fall war: schülernäher, motivierender, einsichtiger, mit größerem inhaltlichen Tiefgang. Dass der moderne Lateinunterricht diese Wendung erfolgreich vollzogen hat, beweist seine Zukunftsfähigkeit in einer Schule, die sich dem Ideal der humanitas verpflichtet weiß.

Lernen und Leiden

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