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Kapitel 1 1959

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Es war einer dieser wunderbar trägen Nachmittage, an denen alle in den Häusern saßen, weil es im Freien zu heiß war. Die Luft stand und war zum Schneiden dick. Der Asphalt auf den Straßen flimmerte vor Hitze. Mich zog es in den Wald, dort erhoffte ich mir etwas Abkühlung und vielleicht, auf dem amerikanischen Schießstand, ein paar interessante Funde. Mein Weg führte an der Kirche vorbei, die am Rand unserer Siedlung stand, sie warf einen einladenden, kühlen Schatten über die Straße. Wie magisch angezogen, näherte ich mich ihr und legte meine Hand ans Mauerwerk, es fühlte sich wunderbar kühl an. Langsam umrundete ich den Kirchenbau und stand im Hof. Direkt gegenüber der Kirche war das im gleißenden Sonnenlicht liegende Pfarrhaus zu sehen, dessen Fenster weit offen standen.

„Wo war der Pfarrer?“, fragte ich mich, „was macht er wohl um diese Zeit und in dieser Hitze im Haus? Sich ausruhen? Kaffee trinken? Oder trank er schon ein Bier?“

Diese Fragen musste ich unbedingt klären. Ich wusste, dass es als Messdiener nicht erlaubt war, sich dem Pfarrhaus zu nähern. Es war seine Privatsphäre, wie der Pfarrer immer sagte. Wir Messdiener mussten uns immer in der Sakristei treffen und sollten nicht auf den Hof hinter der Kirche gehen. Aber wie gesagt, mich quälten diese beiden Fragen, also schaltete ich mein Denken von Messdiener auf Indianer um und schlich, alles als Deckung nutzend, was sich mir bot, an das Pfarrhaus heran. Endlich stand ich an der Mauer und war geschützt vor den Blicken aus dem Haus.

Ich drehte mich so, dass ich mit dem Rücken an der Hauswand stand. Mich durchzuckte ein Schrecken, mein Blick hatte jetzt eine Perspektive, die ich noch nicht kannte. Ich blickte vom Pfarrhaus weg in Richtung Kirche, es war ein toller Blick.

Die Kirche im Vordergrund, von der Sonne angestrahlt und über die Siedlung ragend, die man im Hintergrund sah. Leise schlich ich um die Ecke des Pfarrhauses herum, von hier bot sich mir ein herrlicher Blick über die Felder und ich blieb einen Moment stehen, um diese Aussicht zu genießen. Ein leises Stöhnen schreckte mich aus meinen Gedanken.

Hatte sich der Pfarrer verletzt? Oder war das ein Schnarchen?

Ich schaute an der Hauswand entlang und sah, dass auch hier alle Fenster offen waren. Jetzt war es mir egal, ob man mich erwischte! Vorsichtig, immer ganz dicht an die Hauswand gepresst, ging ich weiter, bis ich vor dem Fenster stand, aus dem diese Geräusche kamen.

Mein Herz pochte vor Angst bis zum Hals, aber ich konnte einfach nicht weggehen, ich musste und wollte unbedingt in das Zimmer sehen. Ganz langsam schob ich meinen Kopf immer weiter Richtung Fensteröffnung, ich war gespannt wie ein Bogen. Langsam konnte ich immer mehr vom Inneren des Zimmers erkennen. Links stand ein Schrank, einer von diesen echten, alten, geschnitzten Holzschränken, in die man seine Wäsche hängt, dann die Tür, ein Tisch mit gehäkelter Tischdecke und einer Blumenvase mit schönen Sommerblumen darauf. Drei Stühle standen um den Tisch, auf einem hing eine schwarze Hose. Ich bewegte mich weiter nach links, um noch mehr vom Zimmer zu sehen, musste aber dabei immer die Tür im Auge behalten, denn wenn da jetzt jemand ins Zimmer gekommen wäre, hätte er mich im Fensterrahmen sehen können.

Weiter rechts kam ein Bettteil in Sicht, es war eins von diesen Betten, die hinten und vorne ein hohes Holzteil haben. Mein Blick sauste immer zwischen Tür und Bett hin und her.

Sollte ich den Pfarrer beim Schlafen erwischt haben?

Dieses Geräusch hatte nicht viel mit Schnarchen zu tun, es hörte sich eher so an, als wenn er schwer arbeitete und dabei heftig atmen würde.

Aber was in Gottes Namen hätte der Pfarrer um diese Zeit schwer arbeiten sollen? Zumal schwer arbeiten gar nicht zu ihm passte. Langsam ließ ich den Blick weiter durch das Zimmer wandern. Es kam die Matratze in Sicht, auf der ein paar Füße zu sehen waren, aber diese Füße lagen ja umgekehrt mit den Spitzen nach unten und bewegten sich auch so seltsam. Dann kamen noch ein paar Füße in Sicht, etwas zarter und schlanker. Jetzt vergaß ich alle Vorsicht, eine weitere Bewegung nach links und ich hatte das ganze Bett vor Augen. Mir stockte der Atem! Ich sah den Pfarrer auf seiner Haushälterin, in einer mir damals natürlich noch nicht eindeutigen Stellung. Aber ich wusste was sie taten.

Eine eiskalte Erregung überkam mich, das war selbst mir schon klar, dass das mit dem Zölibat nichts zu tun hatte. Hatten wir es nicht erst letzte Woche gelernt, Enthaltsamkeit, Zurückhaltung, Glaube an die Menschen? Ich machte kehrt und ging ganz offen und langsam über den Hof und weiter Richtung Wald.

‚Wer sollte mir denn jetzt noch etwas verbieten? Der Pfarrer bestimmt nicht, der macht ja selbst verbotene Sachen‘, dachte ich mir.

Der Tag war nicht mehr so heiß wie am Anfang und alles war noch stiller als vorher. Ich wollte es auf jeden Fall für mich behalten, denn es gab mir die Kraft, alles zu überstehen, egal was er in Zukunft von der Kanzel predigen würde, sei es auch die Anprangerung meiner Mutter. Der Wald nahm mich auf. Ich ging weiter Richtung Schießstand und mir kam es so vor, als wenn der Wald mich verschlucken würde.

* * *

Zu nah am Abgrund

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