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Kapitel 5 1965

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In den letzten zwei Jahren hatte sich allerhand getan und verändert. Wir waren zu einer großen Gang zusammengewachsen und Wolfgang hatte seine Beziehungen in andere Städte, wie Hamburg und Bremen, spielen lassen. Wir bekamen oft Besuch aus Norddeutschland und es wurde so langsam eine Geschäftsbeziehung zu den anderen Gruppen aufgebaut.

Immer, wenn etwas anlag, was einer Planung bedurfte, wurde ich eingeschaltet, gefragt und musste die Pläne entwickeln. Mein Kampfname war geboren, ich wurde „Der Organisator“. Dieser Name sollte mich viele Jahre begleiten. Mein Talent blieb auch den befreundeten Gruppen nicht verborgen und so traten sie an Wolfgang heran, um zu fragen, ob ich auch für sie arbeiten könnte. Nach einer Besprechung unter vier Augen wurden wir uns einig, dass es für uns nur gut sein konnte, auch über die anderen Gruppen Bescheid zu wissen und wir sagten zu.

Eine meiner ersten Aufgaben war es, Transportwege zwischen den einzelnen Gruppen auszutüfteln und aufzubauen. So organisierte ich einen regen Botendienst zwischen Westfalen und Norddeutschland. Vorsichtshalber setzten wir für diese Touren nur Mädchen und Jungen ein, die noch keine sechzehn Jahre alt und somit noch nicht strafmündig waren. Sollte man sie erwischen, konnte man ihnen nichts anhaben. Aber wer kontrolliert schon Jugendliche und vor allem Mädchen? Transportiert wurde alles, Waffen, Rauschgift, Informationen, eben alles, was man zu Geld machen konnte und illegal war. In diese Zeit fiel auch das Ende meiner Schulzeit und ich musste mich um eine Lehrstelle bemühen.

Hier in der Gegend gab es nicht allzu viel Auswahl, mir blieben noch Lehrstellen als Kfz-Mechaniker und Bäcker,

aber beide Berufe waren nicht die, die auch meinen Vorstellungen entsprachen. Ich brauchte eine Herausforderung. Nach dem intensiven Studieren einiger Zeitschriften stieß ich auf eine Anzeige, in der für den Beruf des Seemannes geworben wurde. Ohne lange zu überlegen, entschied ich mich, diesen Beruf zu erlernen, ich wusste, das war genau das, was ich wollte.

Noch am gleichen Tag sprach ich mit Wolfgang über meinen Plan und wir überlegten gemeinsam, welchen Nutzen wir aus diesem Vorhaben ziehen konnten. Der Vorteil war, ich kam in der ganzen Welt rum und hatte dadurch auch Gelegenheit, mit anderen Gruppierungen auf der ganzen Welt Kontakt aufzunehmen, Nachrichten und Gegenstände zu transportieren, ohne groß aufzufallen. Wer kontrolliert schon einen Seemann auf anderes als Zigaretten und Alkohol. Also, gesagt getan, jetzt musste ich nur noch meine Eltern informieren und überzeugen, denn die mussten ja, da ich noch minderjährig war, ihre Zustimmung geben. Aber das war kein Problem und schon im Juli traf ich in Bremen ein um auf dem „Schulschiff Deutschland” meine Berufsausbildung zu beginnen. Nicht zu verwechseln mit dem Schulschiff „Deutschland“ von der Bundesmarine.

Genau zu diesem Zeitpunkt wurde Wolfgang von der Polizei wegen Körperverletzung festgenommen. Man informierte mich sofort und gab auch die Bitte von Wolfgang weiter, ihn aus der Haft zu befreien. Nach seiner Befreiung wollte Wolfgang dann in Hamburg untertauchen und die Gang erst einmal von dort aus leiten.

Wenn er länger im Knast blieb, bestand die Gefahr, dass Kräfte innerhalb der Gang versuchen würden, die Führung zu übernehmen und da es auch um viel Geld ging, wollten wir uns natürlich nicht ausbooten lassen. Vor allem, da wir gerade jetzt auf dem Sprung waren, uns weltweit auszudehnen. Dann gab es ja auch noch die Möglichkeit, dass andere Gruppen versuchen würden, uns zu übernehmen.

Wenn es nur ein paar Tage gewesen wären die er im Knast bleiben musste, hätte man das noch hinbekommen, aber es sah so aus, als wenn es Wochen oder Monate dauern konnte. Dann kam noch erschwerend hinzu, dass man ihn in eine andere Stadt verlegen wollte, in der die Befreiung fast unmöglich gewesen wäre. Es musste also schnellstmöglich ein Plan her! Da ich die Polizeiwache kannte und mit den Örtlichkeiten vertraut war, konnte ich den Plan gut von Bremen aus ausarbeiten. Das Problem war, wir mussten jetzt sehr schnell reagieren. So schnell, dass die örtliche Polizei keine Möglichkeit mehr hatte, andere Wachen in der Umgebung zu alarmieren und um Unterstützung zu bitten. Ich benötigte noch ein paar Informationen über die Anzahl der Streifenwagen und die Personalstärke in der Wache.

Diese Informationen wurden von unseren Leuten vor Ort besorgt und ausspioniert. Es wurde Folgendes in Erfahrung gebracht: zurzeit waren drei Streifenwagen dort stationiert, mit jeweils zwei Mann besetzt. In der Wache gab es den Leiter, den Stellvertreter, den Polizisten am Funk und drei Mann in Bereitschaft, dies machte insgesamt zwölf Mann. Gut, sie hatten Pistolen, aber sie würden mit Sicherheit in den Minderjährigen, die für diese erste Angriffswelle auf das Revier vorgesehen waren, keine Gefahr erkennen, und erst recht nicht auf sie schießen. Das Revier war so aufgebaut, dass im Eingangsbereich ein Tresen stand, hinter dem Tresen standen die Schreibtische der Bereitschaft und des Funkers.

Links ging ein Flur mit Büros für den Leiter und den Stellvertreter ab, dann der Aufenthaltsraum der Streifenwagenbesatzungen und die Zellen. Die Schlüssel der Zellen hingen vorne an einem Schlüsselbrett und waren leicht zu bekommen.

Mein Plan sah vor, dass alle Einsatzfahrzeuge im Einsatz waren, dies wurde durch mehrere Telefongespräche auf der Wache ausgelöst, die der Polizei von irgendwelchen erfundenen Vorfällen berichten sollten und um Hilfe baten. Die eigentliche Befreiungsaktion war im Prinzip ganz einfach geplant. Die Polizeistation stürmen, Zelle auf, Wolfgang raus und schnell wieder weg, bevor die Polizei wieder zu sich kam.

Die im Hof parkenden Privatfahrzeuge der Polizisten mussten durch Eisenkrampen einsatzunfähig gemacht werden, damit uns niemand damit verfolgen konnte. Dann sollte durch einen weiteren Anruf der Leiter und der für den Funk eingeteilte Polizist beschäftigt werden. Das war der Zeitpunkt, an dem unsere Kleinen zum Einsatz kommen sollten, sie mussten die zwei Polizisten am Tresen beschäftigen.

Diese Ablenkung sollte die letzte Gruppe nutzen, sie sollten die Räumlichkeiten betreten, sich dann blitzartig im Revier verteilen und die dort noch anwesenden Personen unschädlich machen. Sie sollten sie in die Räumlichkeiten einzuschließen, in denen sie sich gerade befanden. Das konnte gut klappen, da man die Türschlüssel immer im Schloss stecken ließ. In der Zwischenzeit sollten zwei unserer Leute Wolfgang aus der Zelle befreien und zu unserem startbereiten Auto bringen und gleich nach Hamburg fahren.

Alle zu diesem Zeitpunkt noch in der Wache befindlichen Mitglieder unserer Gang sollten sich dann in verschiedene Richtungen absetzen, um den eventuellen Verfolgern das Nachstellen zu erschweren. Nach meinem Plan sollte das alles innerhalb von vier Minuten zu schaffen sein.

Alles was länger dauerte, war mit der Gefahr verbunden, dass man unsere Jungs erwischte. Sollten die Einsatzfahrzeuge zu früh zurückkommen oder einer der diensthabenden Polizisten es schaffen, eine andere Polizeiwache zu verständigen,

würden bestimmt einige von unseren Jungs hops gehen. Dieses Risiko wollte ich auf jeden Fall vermeiden.

Unsere Crews wurden für die jeweiligen Aufgaben eingeteilt und eingewiesen. Per Telefon stand ich mit dem Leitungsteam in Verbindung und wurde auf dem Laufenden gehalten, bis einen Tag vor dem Ereignis. Da war plötzlich Funkstille und ich habe niemanden mehr ans Telefon bekommen. Was war los? War der Plan verraten worden? Hatten sie kalte Füße bekommen? In den nächsten zwei Tagen saß ich wie auf Kohlen, kein Anruf oder eine andere Nachricht. Ich setzte mich mit Hamburg in Verbindung, vielleicht hatte man dort etwas gehört. Nichts!

Am dritten Tag, zwei Tage nach dem geplanten Termin, bekam ich einen Anruf. Es war der Leiter meiner Gruppe, der ehemaligen „Cats” und er sagte mir, dass alles in die Hose gegangen war. Sie hatten fast alle erwischt und eingesperrt. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Mein Plan war fehlgeschlagen, hatte Fehler oder organisatorische Mängel gehabt! Was hatte ich in meiner Planung übersehen? Ich fragte ihn:

„Was ist passiert, was war falsch geplant?“

„Nichts, du hattest alles richtig geplant und eingeteilt“, bekam ich zur Antwort, „ aber der Idiot von Stellvertreter hat sich nicht an deinen Plan gehalten und sagte, dass er das auch und besser planen könnte. Er stürmte das Polizeirevier und hat, das musst du dir mal vorstellen, erst alle Polizeifahrzeuge kaputt machen lassen bevor er in die Wache ist, dort haben sie natürlich schon auf ihn gewartet. Die Einsatzfahrzeuge wurden nicht weggerufen und somit war fast die ganze Wache voll besetzt.

In der Zwischenzeit haben die Polizisten noch Verstärkung gerufen und unsere Jungs wurden regelrecht eingekesselt. Fast alle wurden festgenommen.“

„Ist dir und unseren Jungs etwas passiert?“, fragte ich ihn.

„Nein. Wir haben uns zurückgehalten und waren nicht in Reichweite der Polizei, als alles losging“, gab er mir die beruhigende Antwort.

„Halte mich auf dem Laufenden und vor allem bekomme raus, was mit Wolfgang geschehen ist.“ Er versprach es mir und wir legten auf.

Ich beendete meine Berufsschule in Bremen und heuerte auf meinem ersten Schiff an. Die Fahrt ging nach Australien und dauerte ein halbes Jahr. Während dieser Zeit hatte Wolfgang seine Strafe abgesessen und kam fast zum gleichen Zeitpunkt wieder aus dem Gefängnis heraus, als ich in Hamburg einlief. Nachdem er aus der Haft entlassen wurde, kam er nach Hamburg und hinterließ bei meinen Jungs seine Telefonnummer.

Ich rief ihn sofort an als ich in Hamburg ankam, und wir machten ein Treffen aus. Wolfgang hatte wieder Kontakt zu der Hamburger Gang aufgenommen, mit der wir schon zu unseren alten Zeiten im Sauerland zusammengearbeitet hatten. Wir sprachen über unsere Zukunft und beschlossen, unsere gemeinsamen Aktivitäten wieder aufzunehmen, diesmal von Hamburg aus.

In unserer alten Wirkungsstätte im Sauerland war nichts mehr los. Die Polizei hatte ganze Arbeit geleistet und alles zerschlagen, nur von den „Cats”, meiner alten Gruppe, hatte die Polizei keinen gefasst. Sie hatten sich nach der Befreiungsaktion zurückgezogen und aufgelöst.

Für mich begann jetzt ein neuer Abschnitt!

Zu nah am Abgrund

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