Читать книгу Die Botschaft - Karlheinz Vonderberg - Страница 9
SONJA
ОглавлениеSonja parkt vor dem Haus in der Oststraße in Norderstedt. Hier hat sie eine Eigentumswohnung, zu der auch ein kleiner Garten gehört. Sie wohnt Parterre, und die weiteren Mitbewohner waren sich darin einig, dass sie den Garten haben kann, unter der Bedingung, dass sie eine große Bank mit Tisch aufstellt, die von allen genutzt werden kann. Schnell hatte man sich auch auf einen Gemeinschaftsgrill vor der kleinen Terrasse geeinigt. Diese Ecke war dann zu einem Ort der geselligen Stunden geworden. Das störte Sonja nicht. Die Mitbewohner waren alle nett und aufgeschlossen, und der Weg zur Terrasse führte außen um das Haus herum. Niemand musste durch ihre Wohnung laufen, um zum Grill zu kommen. Obwohl sie nun schon seit vier Jahren hier wohnte, hatte sie keine der andren Wohnungen betreten oder von den Mitbewohnern Besuch erhalten. Alle schienen auf ihre Privatsphäre sehr viel Wert zu legen.
Sonja passt das gut. Sie ist Maklerin und Gutachterin für industrielle Objekte. Da hier meist Verschwiegenheit vereinbart wird, hat sie von ihrem Beruf ohnehin nicht viel zu berichten. Außerdem möchte sie nicht, dass „Fremde“ durch ihre Wohnung laufen, denn abgesehen von dem kleinen Entreebereich, in dem sie die unumgänglichen Besucher wie Postboten oder Lieferanten empfängt, ist ihre Wohnung ein intimer Ort. Überall hängen Fotos von ihr und Ruth herum, ihrer großen Liebe.
Die Mitbewohner kennen die farbige Ruth zumindest vom Aussehen, und ein paarmal war sie auch zum Grillen da. Ruth hat ihre Wurzeln in Ghana. Ihre Mutter stammt aus einem kleinen Dorf im Inneren, und ihr Vater, der als Entwicklungshelfer ins Land gekommen war, hatte sich auf der Stelle in sie verliebt. Nach Ende des Projektes war er mit Ehefrau und zwei Kindern nach Deutschland zurückgekommen. Ruth studierte in Hamburg und lernte dort Sonja kennen, und seit jener Zeit sind sie ein Paar. Sie nennen sich liebevoll „Black and White“. Die Mitbewohner im Haus habe sich längst an den Anblick des Paares gewöhnt und freuen sich sogar, wenn Ruth bei Gemeinschaftsunternehmen mit dabei ist.
„Hallo, Sonja“, begrüßt Tom, ihr Mitbewohner, die ankommende Sonja. „Sicher hast du heute auch im Stau in Hamburg gesteckt.“ Tom wohnt im zweiten Stock und ist so etwas wie der Sonnyboy des Hauses, immer gut gelaunt und freundlich, etwas behäbig, weil er schon eine deutliche Leibesfülle mitbringt, aber dieses Lächeln macht die überflüssigen Pfunde wett. Tom ist Anwalt in einer Hamburger Kanzlei, spezialisiert auf Familien- und Erbrecht. „Ich jedenfalls habe eine wichtige Sitzung mit dem Familiengericht verpasst. Ein Glück, dass die Richterin auch im Stau steckengeblieben ist.“ Auffordernd sieht er Sonja an.
„Hi, Tom, das ist mir auch passiert. Ich musste ein Objekt begutachten, weiter unten im Süden der -Stadt. Ohne die Hilfe eines netten Autofahrers hätte ich das Chaos nicht überstanden. Ein Glück, dass es noch solche Männer gibt!“ Sie lächelt ihn an. „Und es hat sich sogar rentiert.“
„Rentiert? Hast du etwa die Fronten gewechselt, weil dir ein Adonis über den Weg gelaufen ist?“
Sonja lacht kurz und macht eine knappe, abwehrende Bewegung. „Der Mann muss erst noch geboren werden, der mir Ruth ersetzt, Tom. Nick, so heißt er, war aber sehr hilfreich, und wir haben sogar ein Stück des Asteroiden gefunden. Fiel am Flughafen Fuhlsbüttel direkt vor unsere Füße. Na ja, jedenfalls fast. Es blitzte kurz, dann ist er eingeschlagen, und dann haben wir ihn ausgebuddelt und geteilt.“
„Wow, das ist ja toll.“ Tom wirkt sehr neugierig. „Und wie sieht das Teil aus?“
Sonja kramt in ihrer Tasche und zieht das flache Stück Metall heraus. Sie merkt, dass es noch warm ist, und das findet sie verwunderlich. Nach so vielen Stunden noch warm? Sie reicht es Tom, der vorsichtig zugreift.
„Das sieht ja nicht so aus, als wäre es schon Millionen von Jahren durchs All gerast“, stellt er fest und betrachtet das Stück genau. „Aber du hast es wohl in deiner Tasche gewärmt. Da bist du ja glückliche Finderin des momentan berühmtesten Meteoriten.“
„Nicht nur das, Tom, ich habe sogar im NDR über meinen Fund geredet. Das war ein richtig nettes Gespräch, und ich denke, dass mich viele Hamburger nun beneiden.
„Du warst im Radio?“, fragt Tom zurück. Sonja nickt.
„Und ich habe mir einen kleinen Hautriss zugezogen, weil das Metall so scharfkantig ist. Sieh mal.“ Sie zieht den Ärmel hoch und beweist ihre Behauptung, indem sie auf den kleinen Ratscher zeigt. „Dann bist du ja eine Raumfahrtverletzte!“, lacht Tom. „Und was machst du jetzt? Zum Arzt gehen und fragen, ob du eine Krankheit der kleinen, grünen Marsmännchen bekommen kannst?“
Tom liebt es, solche lustigen Reden zu führen. Dabei verzeiht er das Gesicht und rollt mit den braunen Augen. Das sieht lustig aus. Sonja muss wieder lachen.
„Ich werde es wohl überleben, Tom. Und ich habe ein schönes Andenken an ein außergewöhnliches Ereignis. Das bekommt einen Ehrenplatz!“
Sie nickt ihm zu und öffnet ihre Tür. Nun braucht sie zunächst einmal eine Dusche und ein Glas Wein, kühlen Weißwein. Shiraz aus Südafrika. Ruht liebt diesen Wein, und das ist ausreichend, ihn auch zu mögen.
Sie wirft Schlüssel und Tasche auf den Sessel im Entree und macht sich auf in das Schlafzimmer, um sich auszuziehen.
Ihr Handy meldet sich. Es ist nicht einmal ein kurzer Blick auf das Display nötig, um zu wissen, wer anruft. Es sind die afrikanischen Trommeln, die als Signal einprogrammiert sind. Sie lächelt. Das passt.
„Hi, meine Liebste“, flüstert sie fast verschwörerisch. „Gerade haben Tom und ich von dir geredet. Und da rufst du auch schon an.“ „Ich habe dich im Radio gehört, Sonja“, platzt Ruth heraus. „Das ist ja unglaublich. Das musst du mir sofort erzählen. Hast du wirklich ein Stück des Meteoriten gefunden?“
Sonja freut sich an Ruths dunkler Stimme. Es ist dieses Timbre, dieses dunkle, sinnliche Rauschen, das ihre Sinne sofort anspricht. Sie blickt zu dem großen Foto hin, das gerahmt im Schlafzimmer hängt. Sie und Ruth liegen im Sand an der Ostsee. Ihr Kopf liegt auf Ruths Bauch, und sie schauen sich beide so sinnlich und vertraut an. Die Finger sind verschränkt, und die Lippen sind leicht geöffnet, als wollten sie sofort loslegen und reden. Eine neuerliche Liebeserklärung? Immer wieder muss Sonja an diesen Moment denken, als der fremde Mann dieses Foto mit ihrem Apparat schoss. Er hatte wohl einen guten Blick für eine angemessene fotografische Situation. Das Foto war das Highlight der beiden Ferienwochen gewesen. Es hing nun in ihrem und auch in Ruths Zimmer.
„Ja, ich habe das Glück gehabt und ein Stück des Meteoriten gefunden, Das ist eine unglaubliche Geschichte, Ruth.“
„Erzähle, sie. Ich bin so gespannt.“
Sonja erzählt alles sehr ausführlich. „Ich mache ein Foto von meinem kleinen Himmelsmetall, Ruth, das schicke ich dir dann.“
„Und auf die Schramme achten, Sonja“, fügt Ruth hinzu. „Ich will dich als Ganzes um mich herumhaben.“
„Darauf freue ich mich schon, meine Liebste. Wir sehen uns am Wochenende, nicht wahr?“
„Klar doch, mein Herz. Ich kann es kaum erwarten.“
Ruth legt auf. Sonja behält den Hörer noch in der Hand, so, als könnte sie den Kontakt mit Ruth dadurch verlängern. Aber Ruth lebt in Bremen, und das tägliche Pendeln von Bremen nach Norderstedt oder umgekehrt wäre eine zu große Belastung. Da Ruth bei einer großen Reederei arbeitet, die nun mal in Bremen beheimatet ist, wird sich daran auch nicht viel ändern. Aber die Wochenenden gehören ihnen, sei es in Bremen oder in Norderstedt.
Sonja packt ihr Metallstück auf ein Bord, das ansonsten mit Büchern vollgestopft ist. Wieder ist sie verwundert, was alle so an einem Tag passieren kann. Immerhin war sie rechtzeitig bei ihrem Geschäftstermin erschienen, und alles hatte sich routiniert und schnell erledigt. Es handelte sich um einen Gebäuderest, der zu einer großen Firma gehört. Nun sollte alles verkauft und abgerissen werden. Ein neues Gebäude, wohl ein Verwaltungskomplex, sollte hier entstehen.
Ihr Blick wandert über die Bücher. Wann hat sie eigentlich angefangen, historische Romane so zu lieben, dass sie sie in solcher Fülle sammelte? Sie weiß es nicht mehr. Aber es war nach dem ersten Roman, sie weiß noch, dass er etwas mit irischen Mönchen und Nonnen zu tun hatte, so davon gefesselt, in die alten Zeiten hinein zu tauchen, dass es sie fast süchtig gemacht hatte. Es gab nur ein Thema, das sie mittlerweile ausgespart hatte, das der Sklaven und ihre Schicksale. Da hat Ruth den Ausschlag gegeben, die es nicht ertragen kann, über das Los der Menschen zu lesen, die ihre Hautfarbe haben.
„Hättest du mich damals gekauft, um mich dann zu deiner Sexsklavin zu machen?“, hatte sie mit düsterer Stimme gefragt. „Vielleicht drei Golddollar für 25 Jahre Liebesdienste?“ Das hatte damals einen Schatten auf ihre Beziehung geworfen, und Sonja hatte alle Bücher zu diesem Thema dem Kirchenbasar gespendet. Nie wieder hat sie ein Buch zu diesem Thema gekauft.
Das ist schon lange her, schießt es ihr durch den Kopf. Und heute bin ich oft ihre willfährige Sklavin. Oder umgekehrt, Aber alle sauf freiwilliger und liebevoller Basis.
Während sie das Stück Himmelsmetall ansieht, denkt sie an Nick. Ob er sich auch so an seinem Fund freuen kann? Zu dumm, dass sie nicht die Telefonnummern ausgetauscht haben. Sie könnte ihn anrufen. So muss sie warten, bis er sich per Mail meldet. Warum war ich da so zurückhaltend? Sonst bin ich doch mit meiner Telefonnummer freizügiger, zumal sie zwei Handys hat, ein privates, dessen Nummer sie niemals an Fremde herausgeben würde und ein geschäftliches, dessen Rufnummer ja öffentlich bekannt war. Nun ja, er wird sich schon melden. Vielleicht hat er auch Radio gehört?
Sie geht zurück in die Küche und sucht sich ein Weinglas und den Rest des Weines, der im Kühlschrank steht. Sie dreht das Glas versonnen in der Hand, bockt auf das Bild Ruths und nippt vom Wein. Wunderbar! Sonst trinkt sie nicht viel Alkohol, sie genießt es eher, ab du zu Wein zu trinken. Es hilft ihr, die Gedanken zu kanalisieren, während sie den Wein im Mund hin- und herschiebt.
Sie sollte Ruth einen Antrag machen! Eine eingetragene Lebenspartnerschaft oder sogar eine Ehe. Alles war ja möglich. Dann würde ihre innere Verbindung auch einen äußeren Rahmen haben. Ja, das wäre eine gute Idee. Am Wochenende könnte sie Ruth fragen.
Der Gedanke beschwingt sie. Sie öffnet ihren Laptop und sieht nach, welche Mails gekommen sind. Nur die üblichen. Keine von Nick. Warum auch? Dann öffnet sie das Programm zur Bewertung von Gebäuden. Sie muss alle Daten übertragen und zu einem ausgewogenen Urteil über den Wert der Immobilie kommen. Hinfahren und sich alles ansehen ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Das Gutachten auszuarbeiten und nochmals alles überprüfen ist der weitaus anstrengendere Teil. Das muss jetzt erledigt werden, schließlich hat sie ihrem Kunden versprochen, das Gutachten unverzüglich zu erstellen. Ist der Kunde zufrieden, wird er sie weiterempfehlen. Das ist die Grundlage für ihr Geschäft.
Ihre Gedanken konzentrieren sich auf ihre Arbeit. Sicher wandert sie durch alle Bezüge und nach fast drei Stunden ist der Rohentwurf fertig. Erst eine kleine Pause mit Tee und etwas Gebäck, dann der Feinschliff. In der Küche gießt sie kochendes Wasser über die beiden Beutel, die in der Kanne liegen. Gewöhnlich veranstaltet sie eine kleine Zeremonie, wenn es um Tee geht. Das hat sie in Japan kennengelernt und fand es so toll, dass sie die Zeremonie mitgebracht hat. Heute ist dafür keine Zeit. Also wieder das barbarische Aufgießen von Teebeuteln. Alltag.
Sie geht zum Laptop zurück und reckt sich, öffnet ihr Haar und lässt die blonden Locken frei fallen. Ihr Blick geht zum Regal.
Da liegt es, das Stück Metall, das das Universum gesehen hat. Sie geht zum Regal, als würde sie magisch angezogen werden. Ihre Hand greift nach dem Eisen.
Es ist immer noch warm! Das ist doch unmöglich. Es müsste doch längst Zimmertemperatur haben. Vorsichtig streicht sie über die von der Feuerglut des Eintritts in die Atmosphäre geglätteten Oberfläche. Es fühlt sich nicht fremd an, eher wie die haut eines bekannten Menschen. Warum und glatt.
Sie zieht die Hand zurück. Verrückte Gedanken!
Die Arbeit ruft. Zurück in die Küche, Teebeutel entnehmen, Tasse vorwärmen und den leichten Duft von Jasmin aufnehmen.
Was jetzt wohl alle diejenigen machen, die auch ein Stück des Meteoriten gefunden haben?
Ein leichtes Jucken an ihrem Arm, wo die Schramme ist, die sie sich zugezogen hat. Sie denkt nicht nach, bewegt ihren Zeigefinger massierend um die Stelle herum und geht samt Tee zur Arbeit zurück.