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Ein Puzzle – Die Zerstörung einer Kinderseele

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Ich kann die Erinnerung nur wie ein Puzzle aus Einzelteilen zusammensetzen – alle Bilder auf einmal kann ich nicht verkraften.


Eine Situation verursacht in mir das Gefühl, dass ein Teil von mir einfach verschwindet, mich verlässt. Bald schiebt sich ein anderes Bild davor. Es ist ein Mädchen ohne Kopf und Füße, es trägt einen karierten Rock. Nach ein paar Tagen erweitert sich das Ganze. Es entsteht ein Mädchen mit einem karierten Rock und Rollschuhen. Das bin ich.


Ich hatte früher einen solchen Rock, den ich sehr gern getragen habe. Und Rollschuhe hatte ich auch. Am Rollschuhlaufen hatte ich sehr viel Spaß. Doch Rollschuhlaufen mit einem Rock, und dann noch Kunststücke zu versuchen, das konnte nicht gutgehen. Ich probierte es trotzdem, ich ging in die Hocke und versuchte ein Bein nach vorn zu strecken. Prima. Ich versuchte es immer wieder. Doch irgendwann verhakte sich der Rock in einem der Räder. Ein Loch im Rock. Ich war sehr traurig darüber. Und ich hatte Angst, es meiner Mutter zu zeigen. Um diese Angst loszuwerden, ging ich gleich zu ihr. Sie wurde sehr böse – meine Angst war wieder einmal berechtigt gewesen. Sie wollte wissen, wie das passiert sei. Ich konnte auf keinen Fall die Wahrheit sagen, dann hätte sie mir die Rollschuhe weggenommen. Ich sagte einfach: Ich weiß es nicht. Doch damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie drohte mir eine Tracht Prügel an, wenn ich es nicht sage. Ich musste also zu einer Lüge greifen, obwohl das wieder neue Angst verursachte. Was sollte ich nur tun? Meine Mutter wurde immer ärgerlicher. So sagte ich, ich sei auf den Hühnerauslauf geklettert und dabei am Draht hängen geblieben. Das war natürlich keine gute Lüge und die Reaktion war entsprechend. „Da hast du überhaupt nichts zu suchen!“ Und ich bekam eine Tracht Prügel. Ich hatte gelogen, also nun ein schlechtes Gewissen, und trotzdem die Tracht Prügel. Ich war doppelt gestraft.

Nach ein paar Tagen entstehen wieder neue Bilder in meinem Kopf. Eine Tracht Prügel war nicht einfach eine Tracht Prügel! Es war ein Ritual. Ich will nicht weiterdenken. Lieber nicht! Doch es lässt sich in mir nichts mehr aufhalten.

Ich sah das kleine Mädchen vor mir, da hatte es noch Kopf und Füße, und meine Mutter – sie war sehr groß. Sie befahl mir, den Kochlöffel zu holen, sie befahl mir, meine Hosen herunterzuziehen. Allein dieser Ausdruck! Ich empfinde die Scham noch heute. Mir wird ganz elend. Dann musste ich mich bücken und bekam die Schläge. Es tat sicher weh, aber den körperlichen Schmerz kann ich heute nicht mehr nachempfinden.


Danach bekam der Kochlöffel meinen Namen. Er wurde immer nach demjenigen benannt, der zuletzt damit geschlagen wurde. Das wurde dann auch solange immer mal wieder erwähnt, bis er einen anderen Namen bekam. Dann musste meistens mein Bruder diese Erniedrigung aushalten.


Danach musste ich ins Bett oder bekam Stubenarrest. Ich war ganz allein mit meinem schmerzenden Po und meiner noch mehr schmerzenden Seele. Wenn meine Mutter es für richtig hielt, kam sie zu mir und fragte: „Hast du mir nichts zu sagen?“ Dann musste ich mich entschuldigen und versichern, dass ich so etwas nicht wieder tun würde.

Heute habe ich das Gefühl, es ging gar nicht um mich, es ging um sie. Sie hat meine Entschuldigung gebraucht, weil ich sie in die Situation gebracht habe, in der sie mich schlagen musste. Dabei hat sie eigentlich nichts gemacht. Ich habe den Löffel geholt, ich habe die Hosen heruntergezogen, und geschlagen hat mich der Kochlöffel. Sie hat gar keinen direkten Kontakt zu mir gehabt, sie hat mich nicht berührt. Auch nicht, wenn alles vorbei war und ich mich entschuldigt habe. Meistens ist sie trotzdem immer noch böse gewesen und ihre Missachtung hat mich sehr gequält.

Einmal schrie ich in dieser Situation ganz laut: „Hilfe, Hilfe!“ Das war das letzte Mal, dass sie mich so behandelt hat. Schläge bekam ich in dieser Weise nicht mehr.

Soweit bin ich in meinem Puzzle, als ich einen Gesprächstermin habe. Es fällt mir sehr schwer darüber zu reden. Ich schäme mich, - aber warum?

In der Nacht vor diesem Termin habe ich einen Traum:

Ich betreue ein stark behindertes Kind, es ist nicht mein Kind. Es ist ein Junge, 8 Jahre alt und sehr groß. Dieses Kind lässt sich nicht berühren, man darf es überhaupt nicht anfassen. Ich habe viel Zeit und nehme sie mir auch und gehe auf dieses Kind ein. Ich frage es immer, ob ich seine Hand nehmen dürfe, wenn wir über eine Straße gehen wollen. Ich frage, ob es sich auf den Stuhl setzen möchte oder auf den anderen und ob ich mich auf den anderen setzen darf. Es ist sehr schwierig, aber das Kind wird immer zutraulicher. Wir besuchen andere Leute, und sie finden das Kind sehr lieb, und alle meine Bedenken, mit dem Kind abgelehnt zu werden, schmelzen dahin. Dann gehen wir eine Straße entlang, nebeneinander. Plötzlich nimmt das Kind meine Hand. Ich gucke es an. Es lächelt. Als ich aufwache, kann ich mich erst an gar nichts erinnern, nur dass ich etwas geträumt habe. Ganz langsam dringt der Traum in mein Bewusstsein. Es ist ein gutes Gefühl.

Wieder ein paar Tage später kommt das nächste Bild. Es packt und schüttelt mich. Die Tränen steigen hoch bis in die Augen. Nur nicht weinen. Warum nicht?

Ich sah das kleine Mädchen, es weinte, hielt die Hände auf seinen Po und bettelte: „Mutti bitte nicht hauen, ich werde es bestimmt nicht wieder tun. Ich will immer ganz lieb sein.“

Ich beginne die Angst dieses Kindes zu spüren. Aber dieses kleine Mädchen hätte eher einen Stein erweichen können, als das Herz seiner Mutter.

Ich glaube, da hat das Kind seinen Kopf und seine Füße verloren. Es wird in seiner Seele ein schwer behindertes Kind. Ich sehe es vor mir, wie das Kind im Traum. Ich hätte es gern in den Arm genommen, aber ich darf es nicht berühren. Es kann es einfach nicht aushalten, wenn Menschen nahe herankommen und es berühren, wenn sie es wollen. Das Kind kann es nur ertragen, wenn es selbst diese Berührung zulässt. So geht es nicht nur dem Kind in dem Traum, sondern auch mir in der Wirklichkeit.

Immer, wenn sich meine Gefühle erklären lassen, die Verbindung zu Kindheitserlebnissen hergestellt ist und ich erfahre, dass meine Ängste eine Berechtigung haben, denke ich es geht bergauf, ich werde es schaffen. Schlimmer kann es nicht kommen. Doch das ist ein großer Irrtum denn die Erklärung für die Ängste ist es nicht.

Sage es niemandem, sonst...

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