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Rückblicke auf meine Kindheit

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So kam ich in die Psychotherapie, die mich 15 Jahre lang am Leben gehalten hat. In den Gesprächen erkannte ich, dass meine Kindheit nicht nur nicht normal war, sondern überhaupt keine Kindheit gewesen ist. Ich hatte bei meinen Eltern kein Selbstwertgefühl entwickeln können, Liebe gab es für mich nur als Belohnung. Also musste ich mich immer anstrengen, um geliebt zu werden. Und was sonst noch alles nicht normal war, werden sie in diesem Buch entdecken.

Trotzdem habe ich die ganzen Jahre teilweise sogar sehr gut gelebt, meine eigene Familie aufgebaut, zwei Kinder großgezogen. Das war das, was ich mir von meinem Leben vorgestellt hatte.

Aber jetzt war alles anders. Es gab nur noch die Angst. Und die Angst vor der Angst. Aber ich bekam Hilfe, sehr große Hilfe von meinem Mann, der diese Behandlung voll mit trug, und von dieser Ärztin.

Wir kannten alle nicht den Grund für meine Ängste, die mich immer wieder lähmten, die mir die Kraft nahmen und mich zeitweise lebensunfähig machten. Ich konnte nichts mehr unterschreiben, keine Briefe in den Briefkasten werfen, keinen Müll wegwerfen ohne eine Panikattacke zu bekommen. Dann war immer nur die Frage in meinem Kopf, habe ich jetzt etwas gemacht, das der Familie schaden könnte. Dann konnte ich nichts mehr steuern oder beeinflussen. Manchmal konnte ich überhaupt nicht aus dem Haus gehen. Wenn das Telefon klingelte, fing ich an zu zittern. So kauften wir einen Anrufbeantworter, und ich konnte nur die Gespräche entgegennehmen, die ich wollte.

Während der Therapiegespräche stießen wir immer wieder auf Kindheitserlebnisse, die ich vorher teilweise wie eine Geschichte abgetan habe oder gar nicht in Erinnerung hatte. Anstöße, diese Geschichten aus den dunklen Ecken herauszuholen, gaben aktuelle Erlebnisse oder Träume. Wir sprachen in den Stunden intensiv darüber, und ich lernte die Gefühle kennen, die ich als Kind hatte. Wie habe ich das als Kind nur aushalten können?

Die erste schlimme Erkenntnis in diesen Gesprächen ist die Entdeckung, dass meine Mutter mich nicht geliebt hat. Weil ich ein Mädchen bin, hat sie mich abgelehnt. Ich entdecke dies, als ich von meiner Therapeutin die Aufgabe bekommen habe, die Gefühle, die meine Mutter mir entgegenbrachte, in Farben darzustellen. Ich sitze lange vor dem weißen Blatt Papier. Als ich mich endlich in die Aufgabe fallen lasse, entsteht wie von selbst ein ganz anderes Bild.


Als ich mit meinem Bruder darüber spreche, fragt er ganz erstaunt: „Hast Du nicht gewusst, dass unsere Mutter keine Mädchen mochte, das hat unsere Tochter schon sehr früh herausgefunden.“ Ich habe es nicht gewusst. Ich kann es einfach nicht verstehen, kann es bis heute nicht verstehen, dass man ein kleines Mädchen nicht liebhaben kann. Um was hat sie sich gebracht? Um was hat sie mich gebracht? Die Gefühllosigkeit, die ich bei der Geburt unserer Enkeltochter empfunden habe, die sich aber zum Glück in dem Moment in eine große Liebe umgewandelt hat, als ich dieses kleine Mädchen auf dem Arm habe, muss meine Mutter durch ihr ganzes Leben in sich getragen haben. Ich bin froh, dass ich dieses alles erst erfahren habe, nachdem sie gestorben ist. Denn so habe ich ihr all meine Liebe uneingeschränkt bis zuletzt geben können. Ich habe sie sehr intensiv in ihren letzten Wochen begleitet.

Ich schreibe Tagebuch seit ich in der Therapie bin. So kann ich zu jeder Zeit meine Gedanken und Gefühle herauslassen und muss nicht bis zur nächsten Sitzung warten. Dann kann ich auch im Gespräch alles aus der letzten Woche ansprechen. Hier ist ein Eintrag aus meinem Tagebuch:

'Warum schreibe ich auf einem Zettel und nicht im Tagebuch? Das ist mein Heft, der Zettel ist anonym. Den Zettel kann ich wegwerfen. Ich traue mir nicht. Ich habe so viel von mir preisgegeben, spontan, das macht mir Angst. Immer wieder die Frage, was habe ich da gesagt, was war falsch? Aber das war doch mein Empfinden, das kann doch nicht falsch sein. Aber durch das Aussprechen ist alles schlimmer geworden. So lange es nur meine Gedanken gewesen wären, hätte ich es immer unterdrücken können. Aber jetzt ist es gesagt, und irgendwie schäme ich mich für meine Empfindungen. Warum? Warum komme ich nicht los von meiner Mutter, will sie scheinbar sogar noch jetzt davor beschützen, verletzt zu werden. Das ist ein irrer Zwiespalt. Denn auf der anderen Seite habe ich das innere Bild von meiner Mutter verloren.'

Wie sah dieses Bild aus? Es war einfach das Gefühl „meine Mutter“. Mit dem Wort Mutter verbinde ich Liebe, Zärtlichkeit, Schutz, Verständnis, Mitgefühl, Trost. Da habe ich gefühlsmäßig in einer Scheinwelt gelebt.

Ich bin wie erstarrt.

Ich kann es nicht glauben. Ich will es auch nicht glauben. In den Therapiegesprächen erinnere ich dann immer neue Situationen, die mir das Gefühl geben, ich muss es glauben. Aber immer wieder der Gedanke, so kann eine Mutter nicht sein.

Ich führe dieses Tagebuch zum einen um meine Erkrankung mir selbst zu erklären und zum anderen in der Hoffnung, die Macht dieser Erlebnisse aus meiner Seele herauszulassen, die Erlebnisse selbst werden immer in mir sein.

Sage es niemandem, sonst...

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