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Die Erinnerung einer Erzählung

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Meine Mutter erzählte mir manchmal, wie schwer ihr Leben war mit drei Kindern im Krieg, und dass sie mich gar nicht gewollt hatte. Dabei sprach sie immer wieder über dieses Erlebnis:


Als ich ein Jahr alt war, fuhr meine Mutter mit uns drei Kindern aufs Land. Die Kriegsgeschehnisse wurden immer heftiger, und man brachte Mütter mit Kindern aus den Städten für eine begrenzte Zeit dorthin. Ich hatte gerade eine schwere Bronchitis überstanden und danach angefangen zu schielen, und zwar ziemlich stark. Wenn meine Mutter nun mit den Kindern draußen war in diesem kleinen Ort, wurde sie wiederholt angesprochen, dass das kleine Mädchen aber stark schiele. Sie war so empört darüber, was die Leute sich wohl dabei dachten. Sie empfand es als persönliche Beleidigung. Aber ich schielte doch wirklich.


Dann kam die Fahrt zurück nach Hause. Es war sicher nicht leicht, mit drei Kindern und Gepäck in den überfüllten Zügen im Krieg klar zu kommen. Aber es gab Rote-Kreuz-Schwestern, die den Müttern halfen. Sicher konnte es passieren, dass man ein Gepäckstück vergaß, oder dass die Kinder schrien und die Mütter noch nervöser wurden. Aber ich denke, jede Mutter wäre besorgt gewesen, ihre Kinder bei sich zu haben und wieder mit nach Hause zu bekommen. Wenn ich die Erzählung meiner Mutter über diese Fahrt, die ich manchmal noch im Ohr habe, überdenke, wird mir ganz unheimlich zumute. Die Art und Weise, wie sie sie erzählte, war von einer Kälte und Gleichgültigkeit geprägt. Als sie im Zug war und der sich schon fast in Bewegung setzte, hörte sie auf dem Bahnsteig eine Schwester aufgeregt rufen: „Hier ist noch ein Kind, hier ist noch ein Kind!“ Da erst bemerkte sie, dass es ihr Kind war. Ich. Man reichte mich noch schnell durch das Fenster hinein und für meine Mutter war es schrecklich, dass sie mich nun auch noch irgendwo unterbringen musste.


Ihre Erzählung empfand ich wie eine Geschichte, die niemals von meiner Mutter und mir handeln konnte, sie war so ohne Gefühl. Meine Mutter gab sich nicht als besorgte, ängstliche und dann frohe Mutter zu erkennen.

Ich kann doch nicht dieses Kind gewesen sein, denn sonst wäre meine Mutter doch froh gewesen, mich wiederzuhaben. Diese Geschichte ist nicht mein Leben, sie scheint neben mir abgelaufen zu sein. Aber ich muss mich der Wahrheit stellen, sie ist mein Leben. Ich leide fürchterlich unter dieser Erkenntnis. Ich habe meine Mutter so sehr geliebt bis zu ihrem Tod, dass ich ihre Liebe zu mir nie in Frage gestellt habe. Aber nach der Aussage der Therapeutin war meine Liebe so groß, dass ich die Lieblosigkeit meiner Mutter kompensiert habe.

Ich suche immer wieder nach einem Strohhalm, der mich im Leben hält. Ich lerne Keyboard spielen und texte das Lied "Blowin' in the wind" für mich um:

So viele Menschen sind schrecklich allein,

und ich habe doch so viel mehr.

Denn ich hab meinen Mann und die Kinder sind mein,

warum quäle ich mich so sehr?

Oh, warum, lieber Gott, hilfst Du mir nicht heraus,

aus dieser unendlichen Not,

wo nichts besser scheint als nur noch der Tod.

Dabei lebe ich doch so gern.

Oh, lieber Gott, warum siehst Du es nicht?

Ich halte es so nicht mehr durch.

Die Last auf meiner Seele, an der ich zerbrech‘,

sie lässt mich ganz einfach nicht los.

Dieser Druck in dem Herzen und Krampf in dem Bauch,

sie nehmen mir all meine Kraft.

Wenn Du mir nicht hilfst, was soll dann werden aus mir?

Befreie mich von dieser Last.


Ich trage beim Spielen einen Kopfhörer, und so kann ich die Musik laut oder leise stellen, je nach meiner Stimmung. Und den Text flüstere ich oder schreie ihn innerlich. Es ist jedes Mal ein einziger Hilfeschrei.

Sage es niemandem, sonst...

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