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Angst, nur Angst

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Ich brauche mehrere Monate, bis ich dieses Fach in meiner Seele öffnen kann.

Es änderte sich die Verteilung der Räume in unserer Wohnung. In der Zeit, als mein Vater im Krankenhaus war, schlief ich in seinem Bett. Als er zurückkam, wurde ein Bett ins Herrenzimmer gestellt. Ich blieb im Elternschlafzimmer. Wir hatten alle Angst vor meinem Vater und ergriffen Vorsichtsmaßnahmen. Die Schlafzimmertür wurde nachts abgeschlossen und meine Brüder hatten „Waffen“ unter ihren Kopfkissen (Gaspistole und Schlagring). Das war für uns alle bald normaler Alltag.


Aber was sich in meiner Seele abspielte, war nicht auszuhalten. Die Angst war unmenschlich. Irgendwann in der Nacht fing ich an zu zittern, dass die Ehebetten wackelten. Ich spürte, wie das Auto meines Vaters sich unserem Haus näherte, ich spürte, gleich wird die Autotür klappen, gleich wird der Schlüssel sich in der Haustür drehen, und gleich werden seine Schritte auf der Treppe zu hören sein. (Das war Auslöser für die Panikattacke in der Klinik).


Das war meiner Mutter unheimlich, aber noch unheimlicher war mein Zittern. Sie lag hilflos daneben und brachte es nicht fertig, mich zu berühren. Ich war allein. Ich musste es aushalten.


Aber bei dem, was dann kam, wenn mein Vater die Wohnung betreten hatte, war ich noch einsamer. Ich hatte Angst, dass er das Essen vergiften könnte, weil er doch nach Aussage des Arztes uns etwas antun könnte. Wir waren ja durch die verschlossene Tür geschützt, aber es gab doch noch andere Möglichkeiten. Doch darüber konnte ich nicht sprechen. Dann würden die anderen mich auslachen oder auch in Angst geraten, und das konnte ich meiner Mutter oder meinen Brüdern nicht antun. Ich horchte also genau auf alle Geräusche und das Gemurmel meines Vaters. Er ging immer in die Küche, guckte in die Töpfe, die mit dem Essen für den nächsten Tag auf dem Herd standen und aß auch manchmal davon, obwohl es kalt war.

Durch die kleine Scheibe in der Schlafzimmertür konnte ich sehen, wenn endlich das Licht in der Wohnung ausging. Dann wurde ich wieder ruhiger.


Am nächsten Tag, wenn meine Mutter zur Arbeit war, musste ich dieses Essen warm machen für meine Brüder und für mich. Wenn ich davon essen würde, war es mir egal, aber wenn meine Brüder aßen, war die Angst wieder da. Wenn das Essen jetzt nicht in Ordnung war, hatte ich es meinen Brüdern gegeben. Unvorstellbar.


Am Tag hatte ich dann viele Aufgaben zu erledigen, so dass ich nicht viel an die Nächte denken konnte. Am nächsten Morgen ging ich in die Schule mit der Angst, dass er meiner Mutter etwas antun könnte. Aber ich musste lernen, ich musste in der Schule gut sein. Bei schlechten Noten bekam ich sonst Ärger. Auf dem Heimweg traf ich dann meine Mutter, die zur Arbeit ging. Bis ich sie endlich sehen konnte, war es die Hölle für mich, ich rannte, um schneller bei ihr zu sein und zu sehen, dass ihr nichts passiert war. Dann trennten sich unsere Weg wieder. Zu Hause war keiner, ich war wieder allein.


Irgendwann kam vielleicht mein Vater, dem ich das Essen warm machen musste. Danach verließ ich schnell die Wohnung, ich hatte immer meine Jacke und den Schlüssel bereit gelegt. Wenn er wieder gegangen war musste ich auf meine Brüder warten, das Essen warm machen, und sie bedienen.


Vor der nächsten Nacht kam aber dann immer noch ein Abend. Meine Mutter hatte um 19.00 Uhr Feierabend. Ich konnte sie doch nicht allein die 4 km gehen lassen. Also machte ich mich rechtzeitig auf den Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Sommer und im Winter. Ich musste sie doch beschützen. Es gab da sehr einsame Abschnitte auf dem Weg. Wenn es dunkel war, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, machte große Schritte und pfiff vor mich hin. So würde man mich, glaubte ich, für einen Jungen halten. Oder ich lief neben der Straßenbahn her, bis mir die Luft wegblieb. Doch dann hatte ich meine Mutter ganz für mich allein, dachte ich. Denn eigentlich erzählte sie auf dem Heimweg nur von der Arbeit und den Familiengeschichten ihrer Kolleginnen.


Und dann kam wieder eine Nacht – vielleicht wird er nicht nach Hause kommen. Vielleicht werde ich schlafen können. Und wenn er doch kommt? Werde ich wieder von meinem eigenen Zittern geweckt? Werde ich wieder allein sein in der Dunkelheit mit dem kleinen Lichtschein durch die Türscheibe und den Geräuschen hinter der verschlossenen Tür? - Keiner wusste von meiner Angst. Und meine Mutter lag neben mir.

Kann es eigentlich wirklich noch schlimmer kommen?

Ich habe also all die Ängste allein ausgehalten. So habe ich für mein weiteres Leben auch nicht gelernt, dass man anders mit Sorgen und Ängsten umgehen kann. Es ist für mich ganz selbstverständlich, alles mit mir allein auszumachen, und ich kann niemanden an mich heranlassen. Was ich mir damit angetan habe, begreife ich erst, als wir in der Therapie auch an die Traumen in meinem Erwachsenenleben kommen.

Als ich in dieser Aufarbeitungsphase zu einer Trauerfeier auf den Friedhof gehe, wo auch meine Mutter begraben ist, gehe ich vorher zu ihrem Grab. Ich weiß, dass es mein letzter Besuch an ihrem Grab sein wird. Es macht mich traurig. Ich komme nicht wieder! Auch diesen Schlussstrich ziehe ich ganz allein. Ich fühle mich etwas erleichtert, vielleicht habe ich ein bisschen losgelassen.

Sage es niemandem, sonst...

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