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Meine erste Erinnerung

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Ich war gut 3 Jahre, mein Bruder fast 7 Jahre alt. Mein großer Bruder, fast 10 Jahre alt, war bei einer Tante. Meine Eltern gingen ins Theater. Das war eine ausgesprochene Seltenheit. Wir bekamen eine Flasche Brause und Kekse. Das gab es sonst nie. Es war noch hell draußen, mein Bruder öffnete ein Fenster und wir setzten uns auf die Fensterbank und ließen die Beine heraus baumeln. Wir wohnten Parterre. Als die Nachbarin uns ansprach, verschwanden wir schnell. Dann wollte mein Bruder den Ofen anmachen. Er hatte beobachtet, wie meine Mutter das immer machte. Sie stellte eine angezündete Kerze vor den Ofen, damit sie nicht so viele Streichhölzer verbrauchte. Er wusste auch, wo die Kerze und die Streichhölzer zu finden waren. Dann brauchte er noch etwas von dem Buschholz, das hinter dem Haus lag.

Ich hatte am Morgen ganz viele Blumen auf den Holzhaufen geworfen. Eigentlich hatte ich diese Blumen im Wald für meine Mutter gepflückt. Doch sie konnte sie nicht gebrauchen und hatte mir gesagt, ich solle sie auf den Holzhaufen werfen. Ich war traurig darüber.

Mein Bruder holte nun also dieses Gemisch als Holz und Blumen herein und steckte es in den Ofen - eine Blume blieb davor liegen -, zündete die Kerze an und wollte noch mehr Holz holen. Ich war allein, sah die Kerze und sah die Blume. Ich kroch um den Tisch herum, um zu der Blume zu gelangen. Als ich sie hatte, vergaß ich wohl die Kerze und kroch daran vorbei. Ich hatte Zöpfe, und gerade der Zopf in der Nähe der Kerze war aufgegangen. So fing mein Haar Feuer. Ich sehe mich noch heute auf dem Fußboden sitzen, hin- und her rutschend und schreiend. Zum Glück waren unsere Untermieter zu Hause, einer stürmte ins Zimmer, klatschte kräftig in die Hände und löschte so das Feuer. Sie wickelten mich dann in eine Decke und trugen mich zur Sanitätsstation. Ich fühlte mich sehr geborgen und zupfte mir die vom Feuer zu Spiralen aufgedrehten Haare vom Kopf. Ich hatte keine unangenehmen Gefühle, im Gegenteil ich spürte die Decke und dass ich auf dem Arm getragen wurde und jemand für mich da war. Was auf der Sanitätsstation passierte, erinnere ich nicht und auch nicht, wie ich wieder nach Hause und in mein Bett gekommen bin.

Ich wurde wieder wach, als meine Eltern kamen. Meine Mutter riss mich hoch und nahm mir den dicken Verband ab, den ich um den Kopf hatte. Dann ließ sie von mir ab. Ich stand da in meinem Kinderbett und sah nur noch die beiden Rücken meiner Eltern. Sie beugten sich über das Bett meines Bruders. Ich sah, wie mein Vater brutal den Jungen schlug. Meine Mutter tat nichts, hat ihn nicht beschützt. Mich jedenfalls hatten sie total vergessen.


Die Frage in der Psychotherapie, was ich mir denn gewünscht hätte, kann ich lange nicht beantworten. Meine erste Reaktion ist, dass ich mich auf dem Arm der fremden Leute sehr geborgen gefühlt habe. Es ist eine Umschreibung meiner Gefühle, weil ich nicht aussprechen kann, was mir wirklich gefehlt hat. Als ich kurze Zeit später in einem Buch lese, dass man seine Gefühle richtig aussprechen soll, kommt es in mir hoch. Ich hätte in der Therapiestunde nur so herausschreien mögen: „Nehmt mich auf den Arm, haltet mich, haltet meinen Kopf zusammen mit seinen Schmerzen und all seiner Angst. Lasst mich doch nicht so verdammt allein! Ich habe doch nichts Böses getan."

Während der Zeit der Aufarbeitung dieses Traumas versuche ich, mit allen mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, meinen Schmerz zu lindern. Ich greife manchmal zu einem Stift und Zettel. Eigentlich kann ich nicht malen, und doch entstehen unter anderem diese Bilder: Ich hätte es so gern gehabt, dass man mein Gesicht mit beiden Händen hält. Daraus entsteht der verbundene Kopf, gehalten von zwei Händen; der dann ganz unbeabsichtigt der Blume ähnlich sieht, die ich gepflückt hatte und die vor dem Ofen lag. Und ich habe eine unendliche Sehnsucht, gehalten, getragen zu werden.





Als Zuwendung erhielt ich später die Erlaubnis, in dem Liegestuhl, der nur meinem Vater vorbehalten war, zu liegen, wenn meine Mutter im Garten arbeitete. Und ich bekam von meinem Vater eine kleine Tüte mit Bonbons mit der Auflage, dass ich meinem Bruder nichts abgeben durfte. Das war wie eine Strafe für mich.

Ich habe großes Glück, dass ich so verschiedene Möglichkeiten habe, meine Gefühle auszudrücken. Die Gespräche, das in Worte fassen und einfach sagen können, was ich selbst nicht glauben kann, sind eine große Befreiung für mich. Am meisten hilft mir aber das Schreiben, doch auch das Spielen am Keyboard, obwohl ich absolute Anfängerin bin, hält mich im hier und jetzt. Aber am wichtigsten ist mein Mann, der sich so sehr wünscht, dass ich gesund werde, und alles mit mir durchsteht. Ich habe diese Hilfen auch bitter nötig, denn die Therapiegespräche bringen immer neue traurige Erlebnisse zu Tage. Es ist kaum zu ertragen, aber ich muss es aushalten, um eines Tages den Grund für meine Ängste zu finden. Ich will so gern gesund werden.

Sage es niemandem, sonst...

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