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PURE FREUDE

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Ein tiefes Einatmen. Luft anhalten und spüren, wie sich die Luft im Brustraum ausbreitet, im Zwerchfell, im Bauch. Mit dem langen Ausatmen formt sie leise und doch kräftig einen hellen klaren Ton. „Mii_______“

Kathi, mit blonden, langen Korkenzieherlöckchen, den blauen Augen und einem so fröhlichen und liebenswerten Gesicht, steht eingereiht zwischen den Sopranstimmen neben ihrer Schwester. Britta sieht sehr schlank, ernst und hübsch aus mit ihren pechschwarzen, langen Haaren, die sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Stolz und zufrieden lässt Kathi den Ton klingen. Wie aus einem inneren Gefängnis schwebt er auf einer Wolke durch den kleinen, weit geöffneten Mund hinaus. Ein langer, wohlklingender, klarer Ton, der aus ihrem tiefsten Inneren kommt.

Oma und Opa waren selten zu Besuch zu Hause. Aber sie sagten schon früher, dass einmal etwas aus ihr werden würde, bei dieser wunderschönen Stimme.

Mama hatte tatsächlich nach Kathis sechstem Geburtstag im Hamburger Kinderchor der Hauptkirche St. Petri nachgefragt, ob ihre Töchter in den Chor könnten. Kathi tanzte sich inzwischen wöchentlich auf Spitzenschuhen in der Ballettschule Boter-Adam die Füße wund und blutig und hasste diese Schmerzen in den Füßen. Aber das sei normal, wenn man schon mit vier Jahren Spitzenschuhe bekomme. Sie ging täglich zum Turnen. Blockflöte spielte sie bereits und auch hier fiel den Eltern das bemerkenswerte musikalische Talent ihrer kleinen Tochter auf. Nun also auch noch Chor.

Kathi war furchtbar aufgeregt. Die Mutter zog ihr die Sonntagssachen an, weiße, kratzige, gestrickte Kniestrümpfe, einen karierten Faltenrock, eine weiße Bluse und eine Klubjacke mit Hamburgemblem und goldenen Knöpfen daran. Britta durfte etwas legerer gehen, sie war nun schon fast neun Jahre alt. Mit der U-Bahn einmal Umsteigen am Hauptbahnhof, bis Mönckebergstraße die U3. Die gelbe Linie. Dann durch einen langen Bahnhofsgang, Treppen hoch und vor ihnen ragte hoch hinaus die imposante Kirche St. Petri.

Mama kämmte Kathi noch einmal durch die Locken vor der Tür zum Gemeindehaus, was schrecklich ziepte und feuchtete ihre Hand mit Spucke an, um die Stirnlocken im Zaum zu halten. Dieser Geruch von Spucke, ob es das Taschentuch war, mit dem sie ihr die Mundwinkel oder Wangen versuchte, sauber zu machen oder die Haare zurückstrich, dieser Geruch, war für Kathi unerträglich. Ihr war häufig kurz vorm Sich-Übergeben, ein Ekelschauer lief ihr von den Zehen über den Rücken bis in den Nacken. Ein: „Mama, nein, bitte nicht“, wurde ignoriert.

So standen sie zum ersten Mal alle drei vor Frau Koller. Frau Koller war eine kleine Frau, die sehr selbstbewusst wirkte. Mittelblonder Kurzhaarschnitt und ein leicht gerötetes Gesicht, das großes Engagement und Begeisterungsfähigkeit ausstrahlte.

Kathi war immer noch vom Ekelgefühl der Spucke gebannt und ihr saß die Angst vor dem Vorsingen im Nacken. Sie wusste nicht, was auf sie zukam und das machte ihr Angst. Da sie die Kleinste, aber auch die Pfiffigste war, sollte sie beginnen.

Mama, wie immer wunderschön, mit schickem Kleid und moderner Frisur, setzte sich hinten mit Britta auf die Stühle. Kathi stand neben Frau Koller am Klavier. Frau Koller stimmte Töne an, die sie nachsingen sollte. Hohe Töne, tiefe Töne. lange, kurze. Je höher die Töne wurden, desto klarer wurde ihre Stimme, desto fester und doch weicher, melodischer, fließender. In dieser Form und mit diesem Gefühl, hatte Kathi das selbst noch nie erlebt.

Frau Koller ermutigte sie, spielte kleine hohe Melodien und Kathi folgte immer leichter, immer leidenschaftlicher, fröhlicher und inniger. Es gab kein Richtig oder Falsch.

Frau Koller fragte, ob sie denn ein Lied singen könne, aber vor Aufregung fiel Kathi gar nichts ein. Frau Koller stimmte auf dem Klavier: „Wenn ich ein Vöglein wär“ an und fragte, ob sie das nachsingen könne. Und ob. Kathi sang glockenklar und hell, dass selbst Mama vor Rührung zwei Tränen herunter kullerten, Britta den Mund geöffnet hielt und Frau Koller, nachdem der letzte Ton verklungen war, ergriffen der Mutter sagte, dass Kathi hier in jedem Fall richtig sei. Sie würde sich glücklich schätzen, wenn Kathi dabei sein könnte in ihrem Kinderchor der Hauptkirche St. Petri. Kathi hätte ein so gutes, musikalisches Gehör, dass es gar nichts ausmachte, dass sie nicht nach Noten singen könne.

Nun war Britta dran. Sie tat sich etwas schwer, weil sie, perfekt wie sie nun einmal war, nur nach Noten singen wollte und durch die Blockflöte könne sie es ja schon, im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester, die „nur“ immer nach Gehör spielte und sang. Doch Britta sollte auch nach Gehör singen, was für sie weitaus schwieriger war. Die Unterschiedlichkeit der Schwestern wurde wieder einmal hier sehr deutlich. Sie wurden beide im Chor angenommen.

Und nun, vier Wochen später, standen die Schwestern nebeneinander in der Reihe des ersten Soprans und sangen sich warm. In Kathi kehrte Ruhe ein. Dieses Gefühl beim Singen, diese Abwesenheit in der Realität, in anderen Ebenen schweben, die sich watteweich wie Wolken anfühlten, die alles vergessen ließen. Jeder Schmerz, körperlich oder seelisch, jede Angst vor Verlust, Hunger, das tiefe Gefühl der Einsamkeit… weggetragen auf Tonschwingen ins Nichts. Ein Fest. Ein Fest für die Seele. Es war ein inneres Ankommen. Freude in ihr. Pure Freude. Sie betete zum ersten Mal am hellichten Tage in sich selbst hinein, ganz leise und dankte Gott für dieses Gefühl, für diesen Tag. Für dieses Erleben.

Britta ging nur einige Male mit ihrer kleinen Schwester an der Hand in den Chor. Ihre Ängstlichkeit, allein mit der Kleinen U-Bahn zu fahren nahm zu und sie hatte keine große Freude am Chorsingen. Kathi wurde mit ihren sechs Jahren nun wieder die Große, die der älteren Schwester Mut machte. Sie bemerkte, dass Britta während der Halts mit zusammengekniffenen Augen auf die Schilder der Bahnsteige schaute. Wie sich später herausstellte, war sie ziemlich kurzsichtig. Nun waren die Beiden wieder so vereint, wie sie es früher oft als Schwestern waren, wenn die Mutter nicht da war und keinen Keil der Konkurrenz zwischen sie treiben konnte. Kathi merkte sich markante Punkte beim Einfahren des Zuges und die Länge und Spitzen der Buchstaben auf den Schildern. Britta hielt sie bei der Hand. Sie waren ein Team, das sich für kurze Zeit gegenseitig Halt gab.

Schon einige Wochen später durfte Kathi sich allein auf den Weg machen. Es gab jedes Mal am Ende der Stunde eine Fahrscheinausgabe durch Frau Koller für das nächste Mal. Ein gelber, kleiner Zettel mit Tagesstempel des Datums der nächsten Probe. Hiermit durfte man am Stempeltag sogar den ganzen Tag über in ganz Hamburg fahren. Für jede Probe gab es zwanzig Pfennig und für einen Auftritt zwischen 1,20 DM und 1,50 DM Gage. Das war eigen verdientes Geld und Kathi kauft sich stolz dafür Dauerlutscher, Süßigkeiten oder Pommes im Bahnhof nur für sich. Manchmal gab sie etwas davon ihrer Schwester als Preis, bei ihr im Zimmer sitzen zu dürfen.

Kathi fuhr nun ganz allein quer durch die große Hansestadt. Alle Ängste waren dahin und die Freude, endlich singen zu dürfen, unendlich groß. Das Singen begann ihr Leben zu verändern. Kathi wurde selbstbewusster.

Sie wusste schon sehr früh, dass sie unbedingt Sängerin werden wollte. Operettensängerin. Wenn der Papa hinter der Bühne am Hamburger Operettenhaus als Feuerwehrmann Theaterwache hatte, dann durfte sie bei nicht ausverkauftem Haus öfter kostenlos als Zuschauerin mit der Mutter und Britta dabei sein. Viel war Kathi nicht bekannt von den musikalischen Sparten, so war es nur logisch, dass es Operetten sein mussten, im Operettenhaus.

Eines Tages war sie allein zu Hause. Die Mutter schloss stets das Wohnzimmer ab, wenn sie nicht anwesend war und zeigte somit schon früh ihr Misstrauen den Kindern gegenüber. Das Telefon im grünen Telefonmäntelchen stand auf einem kleinen Telefonschrank am Eingang des Durchgangsesszimmers. Da die Kinder keine Dummheiten machen sollten und womöglich telefonieren könnten, gab es nun etwas ganz Neues: Ein modernes Telefonschloss. Die Nr. 112 konnte man im Notfall trotz des Schlosses wählen, das zeigte der Papa den Schwestern.

Die Mutter predigte schon sehr früh den Kindern, dass man nicht den Hörer abnehmen sollte, weil die Post mithöre. Das war sicher als Drohung gemeint, damit sie es nicht wagten, zu telefonieren. Aber nun, so ganz allein… wo sie doch Sängerin werden wollte… Die Post war für Kathi eine Institution, die alles ist - so wie Polizei, Feuerwehr, Behörden, auf jeden Fall etwas Offizielles, eben eine Behörde.

Also atmete Kathi tief ein und aus, sang sich ein wenig ein und nahm den Hörer ab. In das Tut-Tutut hinein, nannte sie brav ihren Namen und ihren Wohnort, sagte klar und deutlich, dass sie Operettensängerin werden möchte und sie hoffe, dass sie entdeckt werde. So sang sie in ihrer schönsten Weise das Lied, das sie oft auf der Schallplatte bei den Eltern gehört hatte: „Du bist die Rose vom Wörthersee.“

Für Kathi folgten Tage der inneren positiven Aufgeregtheit. Immer wieder scharwenzelte sie um die Mutter herum, wenn sie vom Briefkasten kam. Als die Mutter fragte, warum sie da nun ständig mit in das Treppenhaus zum Briefkasten lief, zuckte sie nur mit den Schultern und schmunzelte ein wenig konspirativ. Aber es kam leider kein Brief von der Post, der sie berühmt gemacht hätte. Das war dann erst einmal für sie erledigt. Vorerst.

Weihnachten nahte und Kathi freute sich sehr darauf. Denn dieses Mal sollte es anders werden. Das übliche Weihnachten zu Hause war bisher verbunden mit Gedichten aufsagen, Weihnachtsmännern, die Angst machten und einer Mutter, die in getragener Stimme die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorlas: „Und es begab sich aber zu der Zeit…“

Es war furchtbar langweilig. Das gemeinsame Singen in Ordnung. Am schönsten war es, wenn Kathi ganz allein „Maria durch ein Dornwald ging“ singen durfte. Dann saßen alle still und gerührt da und Kathi fühlte Stolz, Freude und Liebe in sich. Sie musste aber leider trotzdem meist mit Britta zusammen die nicht wirklich geliebte Blockflöte spielen. Dieses Weihnachten war das erste Mal Singen in der Hauptkirche St. Petri. Es wurde im Chor viel geprobt für das berühmte Quempas-Singen.

Heiligabend am Nachmittag. Die Menschen standen Schlange vor der Petrikirche. Die Kirche war überfüllt, Klappstühle wurden dazu gestellt. Und die Chorkinder warteten aufgeregt hinten im Kirchenschiff neben dem Haupteingang im Probenraum. Die Chorkinder kamen auf ein Zeichen von Frau Koller in Zweierreihen von hinten durch den Hauptgang in die Kirche. Mit ihren schönen, bis zu den Füßen reichenden schwarzen Gewändern und den weißen Krägen, einem langen, weißen Holzstab mit Kerzenhalter und einer brennenden Kerze in der äußeren Hand. Sie schritten langsam und andächtig zur feierlichen Eingangsmusik von hinten durch den Mittelgang nach vorn in das Kirchenschiff zum Altar, wo die große prachtvolle Krippe aufgebaut stand. Das langsame Schreiten fiel allen Kindern schwer, das sah man. Aufgeregt und voller innerer Freude wurde der feierliche Gang zu einer echten Herausforderung. Selbst für die routinierteren Kinder.

Kathi nahm währenddessen wahr, wie die älteren Besucher am Rande der Bank sitzend, mit Tränen der Rührung in den Augen flüsterten: „Wie Engelchen!“, und versuchten noch kurz ein leichtes Streicheln am Ärmel. War das schön! Vorn angekommen, teilten sich die Chorkinder in Vierergruppen auf und schritten andächtig auf ihre Plätze. Links und rechts sowie in der Mitte auf der Empore die größeren, vorn an der Krippe im Hauptgang blieb Kathi mit der Gruppe der Kleinsten für den letzten Quempassatz. Dann ertönte von der Empore links: „Den die Hirten lobeten sehre“, rechts: „und die Engel noch viel mehre“, Mitte oben: „Fürcht euch fürbaß nimmer mehre“ dann an der Krippe unten (Kathi sang immer ein wenig lauter…) „euch ist geboren ein König der Ehrn“. Gemeinsam erschallte der Refrain aller Gruppen: „Gottes Sohn ist Mensch geborn.“ Dieses war einmalig und neu in Hamburg. St. Petri wurde zum beliebtesten Weihnachts-Gottesdienst durch dieses Quempassingen. Es kam von der Beliebtheit her sogar noch vor dem großen Weihnachtsfest im Hamburger Wahrzeichen, dem Michel.

Danach gingen alle glückselig nach hinten in den Probenraum, denn jetzt gab es einen Imbiss für die Chorkinder und die Angehörigen. Der Vater hatte Dienst. Die Mutter und Britta waren bei dem Gottesdienst dabei und schauten sich nach Kathi um. Kathi freute sich auf die heiße Wiener Knackwurst, aber nicht auf das ganze Drumherum mit den Anderen, mit Mama und Britta, denn in ihrer Anwesenheit spürte sie wieder die Einsamkeit in der Dreierkonstellation und die angespannte Hab-Acht-Haltung in ihr, was man Kathi zu ihrem Bedauern auch äußerlich ansah. In dem Fall sagten dann irgendwelche Kinder oder Erwachsene zu ihr: „Nun verhalte dich mal ruhig und nicht so hektisch.“ Die tiefe Einsamkeit verstärkte sich dadurch noch. Mit dem Gefühl der Verlassenheit, nicht dazuzugehören, immer schüchtern, verlegen und nervös stand sie dort herum. So unruhig und zappelig. Zumindest empfanden andere es so.

Heute, am Heiligabend, kam Kathi die Intuition zu Hilfe. Sie wuselte sich durch die Menschenmengen zu Frau Koller hindurch und fragte, ob sie denn nicht helfen könne beim Würstchen ausgeben. Frau Koller fand das sehr aufmerksam und freute sich aufrichtig. Kathi bekam ein Geschirrtuch dreieckig um die schmalen Hüften und die Lockenpracht zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sie stand hinter aufgestellten Tischreihen, lächelte charmant und fühlte sich wie eine große Kellnerin. Keine Einsamkeit. Vollends war sie beschäftigt, Würstchen mit einer Zange auf einen Pappteller zu legen, der groß und gebogen auf ihrer kleinen flachen Hand lag. Senfklecks dazu und eine Scheibe Weißbrot. Alle waren hungrig. Alle wollten etwas von ihr. Und sie musste nicht einmal Angst haben, dass es einen Nackenschlag gibt, wenn etwas herunterfiel.

Unter den Tisch hatte sie einen kleinen Hocker geschoben, darauf stellte sie ihren Teller mit Würstchen, bückte sich blitzschnell und biss zwischen Essensausgabe und Lächeln hinein. Sie war sich sicher, dass es keiner bemerkte, schon gar nicht, dass es ein paar Würstchen zu viel waren, bis ihr wirklich übel wurde. Übel, aber glücklich. Das war paradiesisch!

Alle drei fuhren mit der U-Bahn nach Hause. Die Mutter verzichtete das erste Mal und zur Freude der Kinder, auf das Lesen der Weihnachtsgeschichte, da das bereits durch den Pastor in der Petrikirche geschehen war. Ohne angsteinflößenden Weihnachtsmann. Sie durften schon vom bunten Teller naschen, auf den sich die Schwestern seit Tagen freuten. Leider war Kathi immer noch übel. Der Papa kam irgendwann dazu, sie sangen wie immer die Weihnachtslieder, spielten Blockflöte und packten endlich die Geschenke aus. Dabei ging an diesem Heiligabend ein langersehnter Wunsch in Erfüllung: Ein ganzes Stück Käse, ganz für sie allein. Nicht wie sonst, in Scheiben geschnitten, durch die man Zeitung lesen kann, wie der Vater stolz erklärte. Kathi konnte einfach reinbeißen! Wenn ihr doch bloß nicht so schlecht gewesen wäre.

An diesem Heiligabend war die Welt in Ordnung. Glückselig mit einem Glas Glühwein. Den durften die Schwestern, obwohl sie sehr jung waren – verdünnt versteht sich – an Heiligabend trinken. Glückseliger Dusel, einschlafen ohne Einsamkeit, ohne Weinen, ohne Ängste, einfach so. So wie Kathi wie ein Engelchen gesungen hatte, so schlief sie auch ein. Und kein Mensch hätte in diesem Moment glauben können, dass sie draußen auf dem Hof oder im „Schulkindergarten“ ziemlich heftig die Jungs verprügelte.

Bittere Erdbeeren

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