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HUNGRIG 1966

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„Mama, Mama!“, aufgeregt klingelte Katharina Sturm, „ich habe dir Erdbeeren mitgebracht, die magst du doch so gern!“

Die Mutter war sichtlich gerührt. Sie wusste, dass ihre Tochter alles, auch ihr letztes Hemd für sie geben würde.

Katharina strahlte. Das Leuchten ihrer blauen Augen, das Lächeln und dieses unbändige Glück, wenn sie Freude bereiten konnte, rührte die Mutter immer wieder sehr. Mit ihren fünf Jahren verstand Katharina es, mit viel Charme und Liebe im Herzen, Menschen zu erfreuen. Sie spielte selten mit anderen Kindern oder mit Puppen. Sie war anders.

Katharina bot zum Beispiel alten Damen an, deren Tasche nach Hause tragen zu dürfen. Das Schönste, was dann meist folgte, war, dort im Wohnzimmer noch sitzen zu dürfen, einen Keks oder Kakao zu bekommen und die Stille zu genießen. Die ruhige Atmosphäre, die Vornehmheit und Freundlichkeit dieser älteren Nachbarinnen waren Balsam für ihre kleine, zarte Seele.

Inzwischen hatte sie drei dieser Damen für sich gewonnen: Frau Star, Frau Voigt und Frau Schlichting. Sie baten Kathi, wie sie von einigen liebevoll genannt wurde, sehr gern hinein. Wie oft hatte sich Kathi schon mit etwas schlechtem Gewissen, aber von Herzen gewünscht, eine Mama zu haben, die ähnlich war. So still und ruhig und freundlich. Nicht wie ihre Mutter tatsächlich meistens war: Laut keifend, strafend, überfordert, ungerecht und unberechenbar.

Doch mit diesem Schälchen Erdbeeren von Frau Voigt konnte sie die Mama für einen Moment freundlich stimmen. So freundlich, dass Mama sie auch Kathi nannte und auf den Schoß nahm. Dieses Gefühl, dass sie es aus Dankbarkeit und Liebe tat, spürte Kathi sehr genau und genoss den Moment.

Frau Voigt wusste nicht, dass Kathi Süßes über alles liebte und oft hungrig war. Kathi und ihre Schwester wurden so erzogen, dass sie bei Besuchen trotz reichlichen Angebotes nur ein Stück Kuchen, nur einen Bonbon oder ein Stück Zucker nehmen durften. Egal wie hungrig sie waren oder wie viel auf dem Tisch stand.

Das war für die Kinder jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung. Wenn sie dieses leere Bauchgefühl nicht mehr aushielt, ging Kathi mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Britta in Drogerien, um nach sogenannten „Proben“ zu betteln. Es war Glücksache, ob es etwas gab. Mal war es etwas Babynahrungspulver in einer Dose, mal zwei Bonbons in kleinen Tütchen.

Der Hunger quälte sie manchmal so sehr, dass sie, vorsichtig und unbemerkt, ausgekaute, ausgespuckte und ausgetretene Kaugummis vor dem Krämerladen Wischer mit den kleinen Fingern mühsam vom Pflaster pulten. Zu Hause wurden diese flachen, sandigen, harten Stücke, mit fremden Zahnabdrücken, in Kleinstarbeit unter fließendem Wasserhahn abgewaschen und der Sand so gut es ging entfernt. Sie tunkten das Kaugummi in Zucker und kauten darauf so lange herum, bis es sich weich anfühlte. Nur der Sand zwischen den Zähnen knirschte entsetzlich. Dieses Knirschgefühl hielt lange an. Nach dem Zähneputzen und tief im Gedächtnis. Die Schwestern versprachen sich, dass es ihr ewiges Geheimnis bleiben sollte, denn sie schämten sich.

Britta versuchte, das Wenige, was ihr allein gehörte, zu Hause zu horten wie große Schätze: Dauerlutscher, Schokoladengeschenke von Besuchern, Abendbrotschnitten, anderes Essbares. Selbst wenn es in ihrem kleinen Schrank Schimmel ansetzte.

Kathi hingegen stopfte alles in sich hinein. Das trockene Babypulver staubte aus ihrem Mund, denn schon vor der Drogerie musste es ohne Wasser gierig einverleibt werden. Das Gefühl im Magen war wie ein Schrei, ein Krampf. Dass sich Hunger so anfühlte, lernten die Schwestern früh.

Was wussten die Nachbarn? Für die ganze Familie war es das Wichtigste, dass nach außen hin eine Vorzeigefamilie in den sechs Räumen der Sozialwohnung der „Neuen Heimat“ lebte. Kathi machte sich darüber wenig Gedanken, was sicherlich mit ihrem Alter zusammenhing. Sie selbst hatte das Gefühl, dass es in Ordnung ist, was geschah. Eine Normalität, die in jedem Alltag, jeder Familie stattfand. Alles, was schlecht, schmerzhaft oder beschämend war, blieb in der Parterrewohnung ihrer Familie in Wandsbek-Gartenstadt.

Und nun diese köstlich süßen Erdbeeren. Kathi war versucht eine zu naschen, aber sie wollte ihre Mama einfach nur glücklich machen, denn die liebte Erdbeeren so sehr. Es war eine kleine Geste der Beschwichtigung, um für einen kurzen Moment etwas Flüchtiges, aber Berechenbares in dem Gesicht ihrer Mama zu sehen – ein Lächeln.

Kathi wusste nicht, warum nie Geld da war, warum es wenig zu essen gab, alles eingeteilt wurde. An Feiertagen gab es mittags Brathähnchen mit Kartoffeln und Bratensoße! So lecker! Kathi und ihre Schwester bekamen je einen Flügel des Hähnchens. Es war köstlich, aber kaum Fleisch dran. Und es war immer zu wenig.

Und wie liebten sie das Sonntagsfrühstück, wenn die Eltern ein Ei aßen! Akkurat wurden die Eier kurzerhand von der Mutter und dem Vater mit dem Messer aufgeschnitten. Für die Kinder gab es das Köpfchen. Es war Glücksache oder Wohlwollen und eine Freude für die Schwestern, wenn etwas Gelb für die beiden dabei war.

Der Vater, der früher einmal zur See fuhr, arbeitete von früh bis spät – als Tapezierer, half beim Dachdecken, schneiderte und abends lenkte er als Schiffsführer eine Barkasse im Hamburger Hafen. Kathi erinnerte sich genau, wie ihr geliebter Papa sie damals manchmal zu den Nachtfahrten mitnahm. Die Mutter putzte in der Zwischenzeit riesige Büroräume der Reedereien an den Landungsbrücken.

Arbeiter wurden an den Landungsbrücken von Kathis Vater mit der Barkasse vom Hafen und zu den Werften, Löschplätzen oder Stauereien gebracht. Müde, finster und erschöpft dreinblickende Tagelöhner, die ihr Bestes gaben.

Kathi war nicht älter als drei Jahre, ein blondgelocktes, zumeist fröhliches Kind, was dann vom Vater in eine warme Decke gehüllt auf eine Passagierbank gelegt wurde. Das Schaukeln des Wassers konnte sie als vertrautes, wiegendes Einschlafritual genießen. Aber erst einmal hielt sie die Augen geschlossen und tat, während sie auf etwas unbeschreiblich Schönes wartete, als schliefe sie.

Denn wenn die Leute auf die Barkasse traten und sie sahen, spürte sie die ganz federleichte Freude der müden Arbeiter nah über sich. Leise flüsterten sie, wie süß und wie hübsch sie doch sei. In diesen kostbaren Momenten wurde es ganz warm in ihrem hungrigen Bauch, wie eine sanfte Welle gingen diese Worte durch sie hindurch. Der ganz spezielle Geruch der Elbe, nach Fisch und Tank und dunkler Tiefe, blieb zeitlebens in ihrer Erinnerung verknüpft mit den liebevollen Worten der Arbeiter.

Es war nur eine gefühlt kurze Zeit auf der Barkasse. Aber eine Erinnerung, an der sie sich in Zeiten, in denen sie Trost brauchte, wärmen konnte.

Danach ging ihr Papa zur Feuerwehr. An den Heiligabenden stieg der Weihnachtsmann vor der Wache in Wandsbek von einer Drehleiter. Er wurde mit „Ah“ und „Oh“ begrüßt. Es war beiden Schwestern ein Graus, wenn sie dann im großen Saal saßen, warteten, bis auch ihr Name aufgerufen wurde. Diese unangenehme Spannung war nichts für sie. Dann mussten Kathi und Britta nacheinander nach vorne gehen und ein Gedicht aufsagen. Einen Knicks machen; dafür gab es eine bunte Weihnachtstüte mit Nüssen, Apfelsinen und einem Puzzle.

Kathi spürte neben dem Hunger oft eine tiefe Einsamkeit in sich. Eine Verlustangst, dass man sie nicht mag, dass man sie gar verhungern lässt, wurde tief geprägt, als sie zweijährig auf eine Verschickung musste. Getrennt von den Eltern und ihrer geliebten Schwester.

Diese Verschickung wurde zu einem Albtraum, von dem sie sich nicht mehr erholen sollte.

Bittere Erdbeeren

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