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DIE MUTTER

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Die Mutter verstand ihre Kinder nicht mehr. Britta erzählte wenig von ihrer Verschickung. Sie war wie gewohnt still und in sich gekehrt. Irgendwie fand sie keinen wirklichen Zugang zu dieser Tochter, sie verstand sie einfach nicht. Und Kathi war bisher ein so fröhliches Kind gewesen, ein Sonnenschein. Und nun, nach der Verschickung? Sie hatte eine verängstigte, panische, bettnässende und daumenlutschende Tochter zurückbekommen, die sie nicht mehr kannte.

Manchmal dachte sie darüber nach, dass es besser wäre, einen Psychiater mit ihr aufzusuchen, denn auch die Albträume in der Nacht waren wirklich schlimm für die Kleine. Und sie selbst bekam schließlich dadurch auch nicht genug Schlaf.

Aber was sollten die Leute denken? Ein Psychiater? Ihre Tochter ist doch nicht verrückt!

Ihr lag sehr viel an der Außenwirkung für sich und ihre Familie. Dem Vater oft noch mehr. Er nahm es übergenau mit allem. Wenn die Kinder am Tisch nicht ganz gerade saßen, schlug er sie auf den Rücken oder in den Nacken. Das Zucken der Kinder bei Tisch und die Abwehrhaltung ihrer Arme fand sie häufig bedrückend. Auch, dass die Kinder ständig bei anderen Leuten einen Knicks zur Begrüßung machen mussten, möglichst nicht einen einfachen, sondern mit einem Bein zurück und das Knie fast am Boden. So wie man es bei Hofe tut. Sie glaubte, dass es den Kindern, besonders Kathi, peinlich war.

Und nun? Wie konnte sie Kathi helfen? Ach, aber vielleicht wird das auch schon wieder. Öfter mal in den Arm nehmen. Sie wird sich schon einleben. Es ist schließlich ihre Familie.

Kathi und Britta hatten ein gemeinsames Zimmer. An jeder Wand stand ein Bett. Wenn die Eltern „Gute Nacht“ gesagt hatten und das Licht löschten, kam Kathi ganz schnell zu Britta ins Bett und schlüpfte unter ihre Decke. Immer und immer wieder musste Britta sich die Geschichten von Frau Bause anhören. Immer wieder: „Keller, Ratten, Mäuse, frieren, Mund zuhalten.“ Anfänglich nahm Britta ihre kleine Schwester in den Arm und versuchte sie zu trösten, aber es drang nicht zu Kathi durch und ihre Erzählung klang wie eine Schallplatte, die einen Sprung hatte.

Dann kam der Tag, an dem Britta endlich ihr eigenes Zimmer bekam und sie allen klar machte, dass sie es nicht mehr hören könne.

Kathi weinte sich nachts nun allein in den Schlaf. Erwachte von ihren eigenen Schreien aus den Albträumen, aber es war niemand da. Sehr früh entdeckte sie per Zufall, wie sie meinte, ihre kindliche Sexualität. So tröstete sich die fast Dreijährige mit spielerisch kindlichen Gefühlen und deren Befriedigung. Ein einsames Gefühl, dass die Tränen versiegen ließ und sie in einen traurigen Schlaf einlullte.

Kathi musste täglich Mittagsschlaf halten, Britta brauchte das mit ihren fünf Jahren nicht mehr. An einem Mittag, Britta war spielen, hörte Kathi in ihrem Bettchen, wie die Haustüre zuschlug. Nur dieses Zuschlagen reichte aus, um in ihr eine entsetzliche Verlustangst freizusetzen. Sie rannte verzweifelt durch die Wohnung, es war niemand da! Sie lief panisch auf den Balkon. Im Pyjama mit dem Teddy im Arm schrie sie den ganzen Hof zusammen. „Hilfe, ich bin allein! Ich muss verhungern! Alle haben mich verlassen!“ Tränenüberströmt und schluchzend rief sie es immer und immer wieder.

Eine Nachbarin von gegenüber war ziemlich erschrocken und lief um den Häuserblock, klingelte laut und heftig an der Haustüre unten. Das hörte Kathis Mutter im Keller in der Waschküche und eilte mit schnellen Schritten, zwei Stufen auf einmal nehmend, sofort zu Kathi hinauf. Sie versuchte Kathi vergeblich zu beruhigen. Da wurde es ihr wieder bewusst: Ihre Tochter war nicht mehr dieselbe und auch sie selbst war darüber verzweifelt und erschüttert.

Die Mutter war sehr fromm, jeden Sonntag mussten die Kinder in den Kindergottesdienst und danach in der Küche die Handlung der Predigt wiedergeben. Das war ein schweres Unterfangen. Wenn sie spürte, dass Kathi nicht aufgepasst hatte, musste Kathi nachsitzen. Sie las ihr dann das Kapitel aus der Erwachsenenbibel vor.

Wenn Kathi jedoch eine Geschichte spannend fand, dann gab sie es voller Freude mit eigenen Worten wieder. David und Goliath! Faszinierend. Kain und Abel – oh! Ja, das waren Geschichten! Spannend und etwas Angst machend. Kathi merkte sich alles, wenn sie nur wollte.

Jeden Abend kontrollierte die Mutter stets die Kinder, ob sie sich ordentlich gewaschen hatten und die Zähne geputzt waren. Eines Abends entdeckte die Mutter um Kathis Mund herum ein wenig Schmutz, den Kathi selbst nicht sehen konnte, weil der Spiegel über dem Waschbecken viel zu hoch hing. Auch auf Zehenspitzen auf dem kleinen Schemelchen war es ihr unmöglich. Die Mutter fragte, ob sie ihr Gesicht schon gewaschen habe. Das bejahte Kathi.

Wie aus heiterem Himmel schrie die Mutter sie an, dass sie lüge und dass sie ihr zeigen würde, wie „Gesicht waschen“ ginge. Mit diesen Worten füllte sie das Waschbecken bis zum Rand mit lauwarmem Wasser. Kathi musste wieder auf ihren Hocker steigen und die Mutter wusch und schrubbte mit dem Waschlappen durch ihr zartes Gesichtchen. Es tat weh, brannte und sie flehte: „Mama, hör auf, es tut so weh!“ Daraufhin wurde die Mutter erst recht wütend und drückte Kathis Kopf unter Wasser. Kathi spürte diese eiserne Hand im Nacken, diese Kraft, die sie nach unten drückte und kam nicht dagegen an. Schluckte Wasser, als sie schreien wollte, gluckste, gurgelte und konnte nicht atmen. Keine Luft, keine Luft, keine Luft. Keine Gedanken, nur Panik war in ihr. Dann ließ Kathi nach. Kämpfte nicht mehr dagegen an, obwohl sie nicht anders konnte als zu versuchen, nach Luft zu schnappen. Die Stirn stieß heftig innen an den Beckenrand. Da löste sich die eiserne Hand.

„Oh Gott, was habe ich getan?“, rief die Mutter erschrocken aus. Kathis Gesicht war rot-blau, ihre Augen starr und panisch. Schnell fügte die Mutter hinzu: „Du hast nun hoffentlich verstanden was „Waschen“ heißt und wehe es kommt noch einmal vor!“

Zitternd lag Kathi im Bett. Als sie endlich schlief, kamen die Träume wieder, vom Verhungern und nun auch noch vom Ertrinken.

Der nächste Morgen, die Mutter kam jeden Morgen mit ihrem Wachmachritual: Die Tür wurde laut aufgerissen, „Guten Morgen“ gebrüllt, das grelle Deckenlicht angeschaltet. Wenn Kathi es wagte, sich umzudrehen, um weiterzuschlafen, lief die Mutter ins Badezimmer, kam mit einem nassen, kalten Waschlappen zurück, der Kathi dann in das verschlafene Gesicht geklatscht wurde. Die Mutter hasste es, wenn die Kinder nicht das taten, was sie wollte und wie sie es sich vorstellte.

Britta schlief vorsichtshalber nur leicht, sie wollte schon wach sein, wenn die Mutter eintrat. So sagte Britta leise und brav: “Guten Morgen, Mama.“ In ihrer Stimme lag jeden Morgen spürbare Angst.

An jenem Morgen, nach diesem ersten Schockerlebnis, unter der Hand der Mutter ertrinken zu können, wollte Kathi nur noch eines: schlafen. Einfach weiterschlafen und nie mehr aufstehen müssen. Sie wusste nicht, was Totsein bedeutete. Aber so ähnlich stellte sie es sich vor. Schlafen, für immer und ohne Albträume und Schmerzen.

Jeden Samstag war Badetag. Darauf freuten sich die Kinder die ganze Woche. Da durften Kathi und Britta zusammen in die Badewanne. Sie spielten dann häufig mit den Waschlappen „Tatütata, die Feuerwehr ist da“ und fuhren damit quer durch die Oberfläche des Wassers. Oder sie bekamen ein altes, hartes Brötchen, das sie innen aushöhlten und als Boot herumfahren ließen, um dann gierig das klitschnasse Brötchen, das sich nun größer anfühlte, auszusaugen und zu verschlingen.

Doch an diesem Abend wünschte sich Kathi etwas Anderes. Sie wollte „Unter Wasser bleiben“ üben. Britta musste zählen und darauf achten, dass Kathi wieder auftauchte, während sie ihr Gesicht unter Wasser hielt, ohne zu atmen. Und das so leise wie möglich.

Es wurde ihre neue Übung. Jeden Samstag zählte Britta die Zeit, die Kathi schaffte, unter Wasser zu bleiben. Sie waren schon bei siebenundsechzig angekommen und Kathi war froh darum. Warum sie das tat, das wusste sie in ihren kindlichen Gedanken noch nicht. Sie folgte wie so oft einfach ihrer Intuition.

Bittere Erdbeeren

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