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DIE LÜGE

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Kathi fühlte sich nach wie vor einsam. Da Britta nun ihr eigenes Zimmer hatte, klopfte sie oft an deren Tür und bettelte um Einlass. „Bitte, Britta, nur ein paar Minuten, ich sitze auch ganz still!“

Für die Bezahlung mit ein bis zwei Dauerlutschern, die sich Kathi für ihre Schwester aufhob, durfte sie dort sitzen, lauschte ganz leise dem Buntstift, der über das Papier malte. Britta konzentrierte sich akribisch auf die Hausaufgaben, denn sie ging bereits zur Schule. In die 2. Klasse. Und die vierjährige Kathi langweilte sich so allein. Dass sie noch nicht lesen konnte, ärgerte sie. Am liebsten wäre ihr gewesen, wenn Britta ihr ein Märchen vorliest. Brüderchen und Schwesterchen. Das war ihr liebstes. Sie musste dann immer weinen. Kathi erlebte es als ihre Geschichte mit Britta. Ebenso wie Hänsel und Gretel. Wobei die Mutter und die Hexe für sie ein und dieselbe Person waren. Einfach nur still zu sitzen war für sie extrem schwer. Kathi war immer auf Hab-Acht, ständig im Adrenalinstress. Wenn eines nicht ging, dann war es das Stillsein, Innehalten, Ruhe bewahren.

Also fing sie an zu erzählen und zu fragen, wie denn die Schule gewesen sei. „Ruhe!“

„Bitte Britta, lies mir ein Märchen vor!“

Britta war total genervt. Es reichte ihr. Sie schrie laut: „Raus hier, ich muss Schularbeiten machen, geh endlich!“

Es war die Zeit nach dem Mittagessen. Die Zeit, in der die Mutter schlief. Sie schlief jeden Mittag zwei bis drei Stunden, schloss sich dabei ein und wollte niemals, wirklich niemals gestört werden. Wenn sie am Spätnachmittag erwachte, war die Mutter schlecht gelaunt, nörgelig oder traurig. Besser war, man ließ sie dann in Ruhe. Sie brauchte erst einmal ihren Kaffee und einen Keks, um den sie die Kinder glühend beneideten.

In diese Situation hinein schrie Britta, dass Kathi verschwinden solle. Kathi hatte furchtbare Angst, dass die Mutter wach werden würde, denn sie wusste, was dann passierte. Umso unbegreiflicher war es für sie, dass Britta genau das riskierte. Es kam für sie einem Verrat gleich. Also versuchte Kathi ihrer großen Schwester den Mund zuzuhalten. Schon begann eine Rauferei, wie so oft. Sie zogen sich gegenseitig an den Haaren, bissen und kratzten sich. Wenn Kathi Angst hatte zu verlieren, und das war meist der Fall, schrie sie: „Aua, mein Auge, aua, das tut soo weh, warum hast du das gemacht, Britta?“

Es überkam Britta die Panik. So richtige Angst vor der Mutter. Sie war schließlich die Ältere und hatte dafür zu sorgen, dass alles ruhig bleibt, während die Mutter schlief. Die Angst, die Mutter könnte denken, dass sie Kathi geschlagen hatte, stand nun im Raum und das wäre sehr folgenreich für sie geworden.

Also nahm Britta ihre kleine Schwester schnell in den Arm: „Psst, bitte sei leise, bitte, du darfst hier auch weiter sitzen und mir zuschauen, bitte!“

Oft gelang dieser kleine Trick und Kathi war glücklich. Sofort tat nichts mehr weh und sie saß ganz brav und glücklich auf dem Sofabett der großen Schwester und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Es ging meist so auf. Doch leider nicht an diesem Tag. Sie hörten die Mutter bereits mit lautem Türenschlagen heraneilen. „Was ist hier los? Britta, habt Ihr Euch wieder gestritten? Meinen kostbaren Mittagsschlaf gestört?“

Kathi fasste sich ganz schnell an das Auge und jammerte wieder: „Aua, aua.“

Britta bekam links und rechts Backpfeifen, einen Hinterkopfschlag und wurde durchgeschüttelt. Sie schrie wie am Spieß: „Ich war das gar nicht, ich habe nichts getan!“

Die Mutter packte den Arm der kleinen Kathi, quetschte und kniff ihn wieder in der speziellen Form, die unerträglich war. Sie zerrte Kathi aus dem Zimmer, um Kathi in die Ecke zu stellen. Die Ecke war zwischen ihrem und Brittas Zimmer. Kathis Blick musste auf den Boden in der Ecke gerichtet sein. Die Hände auf dem Rücken gefaltet. Sie durfte sich nicht räuspern und nicht bewegen. Britta war es verboten, Kathi auch nur anzusehen oder gar anzusprechen.

Die Mutter ging wieder schlafen und Kathi musste dort zwei Stunden stehend ausharren. Dabei wurden die Beine so schwer und müde und sie hätte sich gern ein wenig hingehockt. Einfach nur mal kurz in die Knie gehen. Aber die Angst, dass die Mutter genau in dem Augenblick die Tür aufriss und es sah, war zu groß. Die Einrisse in dem kleinen Oberarm brannten noch zu sehr.

Eine neue Süßigkeit kam auf den Markt, die sogenannte Schleckmuschel. Sie kostete einen Groschen, war herzförmig und aus Plastik. Innen war ein harter Bontsche, wie man in Hamburg sagt, hineingegossen. Das Wort Bonbon kannte man im Norden damals nicht. Man konnte nach Herzenslust daran lecken und der Bontsche darin wurde nur wenig kleiner. Oder Kathi legte sie einfach irgendwo hin und schleckte sie nach dem Essen weiter. Das war toll. Sie freute sich unbändig, weil man so lange etwas davon hatte.

Kathi hatte so eine Leckmuschel von Frau Voigt geschenkt bekommen.

Nun schleckte Kathi also stolz und intensiv an der Muschel. Das harte Innere löste sich dabei aus der Plastikmuschel. Sie schob das Stück im Mund hin und her. Eigentlich war es viel zu groß. Und da war es auch schon geschehen. Der Bontsche rutschte in den Rachen, saß dort fest und eh sie es sich versah, war er verschluckt. War sie schon wieder zu gierig? Das Stück rutschte nicht tief hinunter und blieb in ihrem Schlund stecken. Sie bekam keine Luft mehr, rannte zu Britta ins Zimmer, zeigte immer wieder auf ihren Hals und bekam Panik, da die Luftröhre zugedrückt wurde. Es tat furchtbar weh und drückte. Kathi deutete per Gestik an, indem sie die Schleckbewegung nachmachte, dass es die Muschel war, die da nun im Halse steckte. Konnte aber nicht sprechen und nicht richtig atmen.

Sofort lief Britta zur Mutter, die den Vater anrief. Dieser kam eiligst mitten aus dem Dienst und fuhr mit Kathi ins Jüthornkrankenhaus. Dort wurde die Situation durch den Vater geschildert und Kathi wurde stehend durchleuchtet. Dafür stand sie nur in Unterwäsche bekleidet vor einer Kiste. Auf der anderen Seite schaute der Arzt durch. Das war schon sehr aufregend. Langsam wurde der Druck und das schwere Luftholen etwas besser, da der riesige Bontsche sich allmählich auflöste und kleiner wurde. Und dann hieß es, sie müsse zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.

Sie dürfe auch nicht auf Toilette, sondern wenn sie „groß“ musste, sollte sie auf einen metallenen, kalten Topf mit Stiel, in eine Bettpfanne machen und der Stuhl würde durchgesiebt werden. Wenn die Muschel dann den normalen Weg nach draußen gefunden hatte, dürfe sie auch nach Hause.

Kathi ging es stündlich besser. Der Vater war gefahren, um ein paar Sachen für das Krankenhaus zu bringen.

Kathi kam in ein Vierbettzimmer auf die Kinderstation. Die anderen Mädchen waren nett zu ihr, sagten gleich „Hallo“. Als sie morgens das Frühstück sah: Brötchen, Honig, Marmelade, lachte ihr Herz und ihr Bauch! Es war wieder so paradiesisch! Kathi begann langsam zu verstehen, dass alle dachten, sie hätte das Äußere, die große Plastikmuschel verschluckt. Sie wusste nicht einmal, wo sie sie gelassen hatte, aber das war nun egal. Es war ihr zu peinlich, dieses Missverständnis im Krankenhaus aufzuklären. Sie wäre im Erdboden versunken.

Ihr ging es besser, sie bekam wieder Luft und es war für sie fast unbegreiflich, dass dieser schreckliche Druck in Hals und Brust sich tatsächlich ganz von selbst gab und verschwunden war. Kathi blieb drei Tage im Krankenhaus, die sie genoss. Die Abführmittel brachten außer Bauchkneifen keinen Erfolg, denn es war da natürlich kein einziges Plastikstückchen der Muschel im Stuhl.

Als die Eltern sie abholten, schauten sie Kathi nur böse, vorwurfsvoll und ungläubig an und sprachen zunächst kein Wort mit ihr.

Kathi schämte sich entsetzlich. Drei Tage lang hatten die Eltern Sorge um sie, drei Tage Krankenhaus, während alle sich um sie gekümmert hatten. Und sie konnte vor Scham und Furcht nicht die Wahrheit, nicht das Missverständnis erklären.

Als sie zu Hause versuchte darüber zu sprechen, dass sie doch nie die Plastikmuschel gemeint hatte, wurde ihr nicht geglaubt. Es schien für die Eltern den Anschein zu haben, dass sie gern im Krankenhaus war und es deshalb von ihr erfunden wurde. Der Vater, der immer gern mit Sprichwörtern aufwartete, sagte nun: „Merke dir das für alle Zeiten: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“

Wie lange dieser Spruch Kathi gedanklich und schmerzlich begleiten würde, das war für sie damals noch nicht vorstellbar. Denn dieser Satz traf besonders auf den Vater zu.

Bittere Erdbeeren

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