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TROTZ UND MISSTRAUEN 1967

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„Kathilein, komm doch mal bitte her, ich muss mit dir sprechen.“ Wenn die Mutter in diesem freundlichen Ton sie mit dem Spitznamen ansprach, dann war etwas im Busch. Aber was? Was wollte sie? Kathi ging langsam, zögerlich, wie eine geprügelte Katze auf die Mutter zu. „Komm, setz dich mal auf meinen Schoß.“ Sie strich dabei Kathi über die Wange. „Was ich dir jetzt sage, darf dich nicht erschrecken, ich weiß, dass wir dir etwas versprochen haben. Bisher konnten wir dich bei Oma, Tante Ruth oder Tante Gertrud unterbringen, wenn Papa und ich allein sein wollten, aber nun ist es etwas Anderes.“

Kathi wurde flau im Magen. Die Aufenthalte bei Oma und den Tanten waren fremd, aber schön. Lieb, genug Essen, keine Schläge, kein Papa, der sich abends neben sie legte, obwohl sie seine Arme und den Schutz durchaus vermisste. Auch war sie inzwischen mal wieder im Krankenhaus mit einer Nebenhöhlenentzündung und Bronchitis gewesen.

Zehn Tage. Rotlicht im Gesicht, Inhalieren, schönes Bett, tolle Zimmerkameradinnen, nette Schwestern. Kathi fing an, aus sich herauszukommen, wenn sie sich einigermaßen sicher und gemocht fühlte. Manche fanden sie dann schon etwas frech. Aber so war sie eben. Das war der Übermut, die Freude über dieses doch seltene Glück, sich angenommen zu fühlen.

Und nun saß sie auf Mamas Schoß, die ihre Wange tätschelte und ihr verkündete, dass sie doch wieder verschickt werden müsse. Mit ihrer Bronchitis, was sich zum Asthma auswuchs, sollte sie wieder an die Nordsee. Dieses Mal nach Westerland zur Kur.

„Mama, nein, bitte nein! Du hast es versprochen!“ Für Kathi brach eine Welt zusammen. Die Angst, ihr Zuhause zu verlieren, all das, was sie auf der ersten Verschickung erlebt hatte, war wieder lebendig. Es rauschte in ihrem Kopf, sie schluchzte und der Mama brach es fast das Herz, denn das tat ihr wirklich leid. Aber warum das wirklich sein musste, das war für Kathi nicht zu verstehen.

Es ging alles sehr schnell. Zwei Tage später wurde Kathi in den Zug gesetzt mit einer Betreuerin und einigen anderen Kindern und dann ging es los.

„Ich schlucke meine Tränen runter. Ich zeige nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Kathi dachte vollkommen diffus. Auch verstand sie nicht, warum Britta und sie immer getrennt wurden. Nie konnten sie zusammen irgendwo sein, wo Britta doch ihr ein wenig Vertrautes, ein wenig Halt gab.

Angekommen, kam Kathi in ein Zimmer mit sechs Betten. Sie fühlte sich einsam und wollte einfach nur nach Hause. Heimweh war für sie ein schreckliches und schmerzhaftes Gefühl.

Morgens gab es Suppe. Suppe die nach Vanille oder Schoko schmeckte. Das war sooo lecker und großartig. Das Essen war toll. Auch die dicke Köchin, zu der sie gern durch den Hintereingang von außen ein paar Stufen herunterlief, war mütterlich und nett, gab ihr einfach mal ein paar Naschereien. Sie erinnerte sie an Frau Star, zu der sie schon länger nicht mehr gegangen war.

Es folgten Inhalationen, Turnen, Strandspaziergänge. Eine schöne große alte Villa, fast wie ein Schloss, mit Innenhof in dem es Saft aus Plastikbehältern an den Wänden gab. Oder kaltem Tee. Und ein paar Stufen herunter zum Meer. Kathi hatte nichts auszustehen. Aber in ihr wuchs ein unbändiger Trotz, gegen alles. Gegen die Mutter, den Vater, gegen die Welt. Für sie war es Verrat. Richtiger Verrat!

Sie hatte noch nie etwas verraten. Nicht, woher die Blessuren an ihrem Körper kamen, nicht die Hungerbestrafungen, nicht das stundenlange in der Ecke Stehen, ohne den Kopf zu drehen. Oder dabei in die Hocke gehen zu dürfen, oder auch nur ein Wort zu sprechen.

Verrat. Verrat. Verrat.

Kathi trat ohne Vorwarnung dem einen oder anderen Jungen gegen das Schienbein. Schon war sie in Raufereien verwickelt. Heftigst. Mit Fäusten bearbeitete sie ihr jeweiliges Opfer, bis eine Betreuerin sie auseinanderriss.

„Katharina, was ist denn in dich gefahren?“

Wenn sie das nur wüsste. Nur unbändige Wut und Verzweiflung spürte sie.

Aber sie merkte, dass es ihr guttat. Dampf, der irgendwie raus musste. Sie zog den Stuhl unterm Hintern weg, wenn sich ein Kind hinsetzen wollte, schlug mit dem Suppenlöffel auf den Kopf von irgendwem. Dass das nicht ohne Folgen blieb, hätte sie mit ihren sechs Jahren ahnen können.

Kathi musste zum Direktor des Hauses. Er fragte, was denn in sie gefahren sei und Kathi erwiderte nur immer wieder, dass sie nach Hause möchte.

„Wenn du dich weiterhin so aufführst und dich nicht sofort anständig benimmst, wirst du nach Hause geschickt, und zwar sofort!“ War das die Antwort, die sie hören wollte? Das kam überraschend.

Gut. Das war in Ordnung. Sie ging wortlos zur Tür, drehte sich um und spuckte, so wie sie es bei den Jungs schon häufiger gesehen und auch heimlich beim Weitrotzen geübt hatte, in Richtung des Direktors. War aber nicht weit genug.

Er war fassungslos. Ein so zauberhaftes Mädchen, das sich so verhielt? Was war da bloß schiefgelaufen? Kathi wurde ins Bett geschickt.

Frühstück aß sie wieder richtig gerne. Kathi hatte schon von einer Betreuerin gehört, dass Sachenpacken angesagt wäre, da die Mutter auf dem Weg sei, um sie abzuholen.

Juchhu, das Herz jauchzte in ihr! Kathi war glücklich.

Die Mutter nahm sie ziemlich unwirsch an die Hand, ärgerlich über die weite An- und Rückreise und die damit verbundene Arbeit und Zeitverschwendung. Aber es mischten sich durchaus andere Gefühle darunter. „Habe ich nicht auch ein bisschen Schuld, weil ich das Kind dorthin geschickt habe? Wäre ein Psychiater nicht doch besser gewesen, die Verschickung damals zu verarbeiten?“

Trotzdem musste sie im Zug natürlich schimpfen. „Wie kann das nur sein? Drei Tage hast du es nur ausgehalten? Wir haben dir extra etwas Schönes ausgesucht!“ Kathi schwieg und starrte aus dem Zugfenster.

„Britta ist ja da!“ Verwundert begrüßte sie ihre geliebte große Schwester. Ein Gefühl von Zuhause in ihr, aber auch ein Gefühl, von Nichtverstehenkönnen, warum Britta nicht wegmusste. Immerhin hatte Britta ihre Eltern ganz für sich allein? Sonst mussten sie doch alles teilen. Kathi trug die alten Sachen von Britta auf. Wenn Besuch kam, wurde die Tafel Schokolade geteilt. Aber in Trauer, in Strafe, in Verlassenheit waren sie jede für sich ganz allein.

Papa war mittags gekommen. Es gab Pfannkuchen, Kathis absolutes Lieblingsessen. Kam noch vor Milchreis.

„Was war denn los, Kathi, warum warst du so ungezogen in Westerland?“

Kathi wusste nicht, was sie sagen sollte, denn sie wusste es ja irgendwie selbst nicht.

Diese Frage passte der Mutter überhaupt nicht, ihre Nerven waren wieder sehr angespannt. „Was soll die Frage? Es klingt ja beinah so, als wenn du das für gutheißt, Hans! Sie braucht eine Tracht Prügel, um wieder zur Besinnung zu kommen!“

Bei diesem Satz zuckte Kathi zusammen. Der Vater wollte beschwichtigen, aber die Mutter ließ ihn gar nicht zu Worte kommen. „Mach das du in dein Zimmer kommst, Hans! Zu essen gibt es nichts für dich!“

Der Vater stand wortlos auf. Er sah sehr traurig aus und ging in sein Bastelzimmer, wo er all die Flaggen und Mitbringsel aus seiner Seefahrtzeit hängen hatte, die ihm Trost spendeten und die Sehnsucht nach Meer und Freiheit aufrechterhielten. Kathi blieben die Pfannkuchen im Halse stecken. In einem unbemerkten Moment warf sie ihren Pfannkuchen auf den Schoß ihrer kleinen bunten Flügelschürze. Nahm sich einen neuen vom Teller, der in der Tischmitte mit vielen fertigen Pfannkuchen stand und schlang in sich hinein. Während sie aß, stopfte sie mit einer Hand ganz vorsichtig den Pfannkuchen in die Tasche der Schürze. Das hatte sie schon öfter heimlich mit sehr fettem und ekligem Fleisch vom Eisbein oder Grützwurst getan, denn es musste aufgegessen werden, sonst durfte man nicht aufstehen. Sie hatte es einmal getestet und saß über fünf Stunden vor dem fetten Fleisch. Seitdem tat sie so, als ob sie kaute und spuckte das Fett unbemerkt in die Hand und ließ es dann flink in der Schürzentasche verschwinden.

Eilig trug sie das Geschirr in die Küche. Während Mama und Britta noch diskutierten, wo der Abwasch und wo das trockene Geschirr diesmal stehen sollten, weil alles mal wieder voll stand, schlich Kathi sich zu ihrem Papa. Strahlend stand sie in der Tür, mit Stolz sagte sie: „Papa, ich habe für dich einen Pfannkuchen aufbewahrt!“, nahm den zermatschen Pfannkuchen ganz vorsichtig heraus. Sie bedauerte, dass weder Zimt und Zucker noch Apfelmus dabei waren. Die Enttäuschung war ihr anzusehen, als der Papa sagte, dass es lieb sei von ihr, aber er keinen Hunger hätte. Sie konnte gar nicht verstehen, wieso er keinen Hunger hatte! Traurig und unsicher legte Kathi den Pfannkuchen auf seine Bettcouch und lief schnell zurück in die Küche.

Sie fühlte sich so nah mit ihrem Papa, hatte so viel Mitleid, immer wenn das geschah. Sie beide hatten einen schweren Stand bei der Mutter. Im Vergleich zu Britta, die immer still war und nie Widerworte gab. Britta versteckte sich häufig und hoffte, nicht gesehen zu werden. Aber auch sie bekam hin und wieder Prügel von der Mutter.

Kathi hatte wegen ihres schlechten Benehmens, wie die Eltern es nannten, Stubenarrest. Zum Glück musste sie nicht in der Ecke stehen, sondern nur in ihrem Zimmer ausharren. Sie verstand nicht, warum sie erst ihr Lieblingsgericht bekam und danach Bestrafung.

Samstag. Papa hatte wieder Dienst.

Die Kinder durften in die Badewanne. Britta war schon neun Jahre alt und die Mutter hielt sie für zu groß, um mit der kleinen Schwester zusammen zu baden. Erst durfte Britta baden, dann stieg sie heraus, alles dampfte und Kathi legte sich in die Wanne und ließ viel warmes Wasser nachlaufen. So herrlich war das, in diesem lauwarmen, schon etwas schmutzigem Wasser, frisches heißes nachlaufen zu lassen. Eine halbe Badebrausetablette, die Britta ihr übriggelassen hatte, die soo gut nach Fichtennadeln duftete, löste sich langsam an ihren Füßen ganz kribbelig auf. Das war schön. Reinigung, Wärme. Kathi genoss es sehr. Wenn das Wasser immer heißer wurde, bekam sie davon eine Gänsehaut. Sie spürte sich. Sie fühlte sich lebendig.

„Kathi, bist du so weit, dass wir Haare waschen können?“, rief die Mutter aus der Essdiele. Der Zauber war vorbei. Nun kam wieder das grobe Haarewaschen, wo die Augen so schrecklich brannten. Die Mutter baute sich vor der Wanne auf und Kathi tauchte rückwärts mit den Haaren unter, um die Haare nass zu machen. Dann schnell den Waschlappen vor die Augen gedrückt, so hatte sie es mal im Friseursalon Meier gesehen, wo Mama zur Kaltwelle ging. Da bekam sie immer einen weißen Waschlappen beim Haarewaschen auf die Augen. Kathi war stolz, sich das gemerkt zu haben, denn so war das Brennen in den Augen erträglicher.

Die Mutter massierte den Kopf und es ziepte in dem langen lockigen Haar. „Aua! Es brennt, es brennt so in den Augen!“, Kathi wollte schnell Wasser für die Augen nachlaufen lassen.

Aber die Mutter kochte innerlich. Wieder lief alles aus dem Ruder und dieses störrische Kind machte nie, was es machen sollte. So packte sie nicht nur die Wut, sondern auch den Nacken der kleinen Kathi und drückte sie mit dem Kopf unter Wasser und schimpfte dabei unentwegt.

Kathi kämpfte. Kathi packte nackte Angst. Drückte sich hoch, zappelte mit den Armen, prustete. Doch der eiserne Griff der Mutter ließ kein Entkommen zu. Da besann sie sich in all der Panik auf ihre Technik, die sie immer wieder mit Britta geübt hatte: „Wer kann länger unter Wasser die Luft anhalten?“ Kathi ließ bewusst und plötzlich los, so wie sie es zigmal geübt hatte. Sie hielt still die Luft an, das Gekeife der Mutter drang wie dumpf wie durch Watte zu ihr durch. Im Kopf rauschte es, ihre Arme wurden locker, keine Gegenwehr mehr. So verharrte sie sekundenlang.

„Kathi! Kathi! Was ist?“ Die Mutter riss schnell ihr Kind hoch. „Oh Gott, was habe ich getan, oh Gott, was habe ich gemacht?“ Sie war außer sich, während Kathi schlapp halb in ihren Armen, halb über dem Wannenrand hing. Instinktiv blieb sie in der Haltung, schnappte aber nun kräftig nach Luft.

Der Papa war zum Dienst, kein Beschützer da. Mama rief nach Britta. Britta kam aufgeregt herangeeilt, sah erfasste die Situation.

„Hilf doch mal, Kathi aus der Wanne zu ziehen!“, bat die Mutter sichtlich verstört. Mit vereinten Kräften holten sie sie raus. Kathi hustete und war rot angelaufen im Gesicht. Es war eine wirkliche Leistung gewesen, so lange die Luft anzuhalten, aber sie hätte es sogar für länger, wenn nicht sogar für immer getan.

Bittere Erdbeeren

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