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FÜNFZIG PFENNIG

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Kathi mochte die Schule nicht besonders. Sie durfte mit sechs Jahren nicht eingeschult werden und musste in den Schulkindergarten, weil sie Linkshänderin war und auf rechts umerzogen werden sollte. Sie fühlte sich damit oft anders, am Rande. Eine weitere Verschickung war erfolgt. Dieses Mal mit den Eltern, die sich freiwillig gegen einen Obulus als Betreuer dem Jugendhilfswerk zur Verfügung stellten. Die Mutter war gelernte Kindergärtnerin und der Vater konnte als Turnlehrer von Kinder- und Jugendgruppen im Sportverein und somit mit pädagogischen Erfahrungen aufwarten.

„Dann wird Kathi es nicht so schwer haben, es ist ja kein Vertrauensbruch“, dachte die Mutter. Aber leider konnte sie auch bei der Verschickung nicht aus ihrer Haut. Sie blieb, wie sie war: Besonders streng zu ihrer Tochter. Häufig stellte sie Kathi in die Ecke, wenn die anderen Kinder schlafen mussten oder auch spielten. Britta war bei der Tante untergekommen.

Kathi spürte einen enormen Druck in ihrer Brust. Sie konnte kaum atmen. Ihr Asthma wurde schlimmer und sie fühlte sich verraten. So viele Bestrafungen durch die Mutter vor den anderen Kindern? Das war kaum auszuhalten. Aber sicherlich wollte sie es besonders gut machen. Oder sollte es anderen Kindern eine Warnung sein? Wenn sie schon so schlimm mit der eigenen Tochter war. Was tat der Vater in dieser Zeit? Kathi wusste es nicht. In jedem Fall half er ihr nicht. Sie bekam ihn dort in dem Schullandheim in Wedel kaum zu Gesicht. Und wenn, hielt er sich aus allem heraus, was die Mutter entschied oder tat.

Und nun diese verdammte Schule. Kathi wurde von den Lehrern gemocht, das spürte sie. Obwohl sie sich oft so konträr verhielt. Wenn ihr ein Thema Spaß machte, machte sie mit, meldete sich hin und wieder sogar und es war gut.

Aber wenn sie etwas nicht interessierte, saß sie nur da, träumte aus dem Fenster und wirkte eher teilnahmslos und zurückgezogen. Sobald die Pausenglocke läutete, stürmte sie mit den Jungen nach draußen.

Warum sie so oft in Prügeleien verwickelt war? Sie wusste es nicht. Aber dieser Kick, dieses Adrenalin, was ihr auch zu Hause immer wieder durch die Adern schoss: „Bekomme ich Prügel? Wie fühlt sich Mama heute? Hab ich heute genug zu essen? Wird der Papa wieder in mein Bett kommen? Streiten sie sich wieder? Werden sie mich allein lassen? Wie überstehe ich die Nacht mit den Albträumen?“

Das machte etwas mit ihr. Und wenn sie frech war, jemanden ein Bein stellte, ihn anspuckte oder schubste, dann war da wieder das vertraute Gefühl. Das Gefühl von Hitze und Kälte gleichzeitig, von Angst, die lähmte und mobilisierte, von Aufregung, die nur ihr Ventil im blinden Aktionismus fand. Es waren oft die kleineren Jungen. Mädchen schlug sie nie. Häufig wurde sie auf dem Schulhof eingekesselt von anderen Jungen und manchmal gesellte sich auch ein Mädchen dazu und sie skandierten: „Kathi, Kathi, hautse, hautse, immer auf die Schnauze!“

Und manches Mal wurde ihr schwarz vor Augen, vor Angst, vor Schmerz, vor… ja was eigentlich? Es fühlte sich ähnlich an, wie damals, als Dieters Bruder sie mit der Faust an der Schläfe traf und sie in Ohnmacht fiel. Bei den Schlägereien war es nur kurz davor, aber es fühlte sich ähnlich an.

Im Unterricht machte sie Blödsinn. Mit Krampen aus Papier schießen, eine Wasserpistole einsetzen oder mit dem Stuhl kippeln. Sie hatte inzwischen einen Einzelplatz ganz hinten. Und wenn es ganz arg wurde, flog sie raus. So ein Tag war gerade mal wieder. Sie stand draußen vor der Klassenzimmertür, durfte sich nicht entfernen und langweilte sich. Dieses Gefühl, ausgesperrt zu werden, kannte sie. Es hatte für sie keinen Schrecken mehr. Hier vor der Klassentür passierte ihr nichts und die Stille war irgendwie unerträglich, aber auch gut. Sie versuchte leise in ihrem Kopf und im Herzen zu singen. Das beruhigte sie und tat gut. Der Chor war das, worauf sie sich in der Woche freute. Oder, wenn sie singen konnte und sie niemand hörte. All die Schlager der Langspielplatten von der Mutter. So sang sie innerlich gerade „Heißer Sand“ von Mina. Aber es wollte nicht so trösten wie sonst. Sie schaute sich aus Langeweile alle Jacken an, die an der Garderobe hingen.

Dann griff ihre Hand wie von selbst in die Jackentasche der ersten Jacke. Es war pure Neugierde, was wohl darin sein könnte. Ein vertrautes Gefühl von Aufregung, der Angst, dass es jemand sehen könnte. In diesem Gefühl, diesem wohlvertrauten und doch ebenso schrecklichem Gefühl, verharrte sie und ging systematisch jede Jackentasche durch. In einer Jacke fand sie eine wunderschöne, schillernde Glasmarmel, die nahm sie schnell an sich und steckte sie in ihre selbst gebügelte Lastexhose.

Das spezielle Bügeln hatte der Papa ihr gezeigt. Wenn die Hose nach dem Schleudern noch nass war, wurde sie auf Bügelfalte aufeinandergelegt und unter der Matratze gerade mittig ausgerichtet, dann war sie am Morgen wie durch Zauberhand nur vom Schlafen gebügelt und hatte eine glatte Falte in der Mitte. Sie liebte diese Steghosen, auch wenn sie dieses klamme, feuchte Etwas morgens nicht gern anzog. Manchmal dauerte es bis zur fünften Stunde, bis sie am Körper getrocknet war.

Und nun verschwand die Marmel in der Hosentasche. Damit sie sich nicht abzeichnete, wurde geschwind ein zerknülltes Stofftaschentuch hinzugestopft. In einer blauen Jacke, ihr Herz pochte laut, fühlte sie ein Geldstück. Sie schaute sich nach allen Seiten um. Es war ein Fünfzigpfennigstück! Schnell steckte sie es ein, da läutete auch schon die Pausenglocke und die Kinder stürzten laut grölend aus dem Klassenraum. Keine Zeit, nachzudenken, es zurückzustecken. Das Herz klopfte am Hals ganz deutlich und laut. Sie erinnerte sich trotzig an die Eltern. Wie oft hatten sie immer nur schlecht von ihr gedacht? Wie oft wurde ihr gesagt, dass sie lüge? Wie oft hatte sie zu Unrecht Prügel bezogen? Kathi blieb eine Situation in Erinnerung, die sie nicht mehr losließ.

Es war bestimmt schon ein Jahr her, die Mutter hielt Mittagsschlaf. Auf einem kleinen Tischchen in der Essdiele lagen Mutters gesammelte Fünfzigpfennigstücke für die Waschmaschine im Keller. Sie wusste nicht, wie viele es waren, aber nie, niemals hätte Kathi trotz Hunger und Sehnsucht nach etwas Süßem ein Stück entwendet. Niemals!

Nachdem die Mutter wach war und sie die Münzen durchgeschaut hatte, schrie sie: „Kinder! Beide! Kommt sofort hierher!“

Kathi und Britta standen vor dem Tischchen und Kathi lief es heiß-kalt vor Angst durch den Körper. Britta stand ganz still da, man hörte nicht einen einzigen Atemzug von ihr.

Als wenn sie nicht da sei, so wie meist. Mama schaute beide durchdringend an: „Sagt die Wahrheit, wer von Euch hat ein Fünfzigpfennigstück gestohlen?“

„Ich nicht“, schoss es sofort aus Kathis Mund.

„Ich auch nicht“, antwortete Britta still.

Die Mutter packte Kathi am Oberarm und drückte fest zu. „Sag die Wahrheit, Kathi und gib das Geld zurück, dann passiert dir nichts weiter!“

„Ich war es doch aber nicht, Mama!“, weinte Kathi verzweifelt.

„Du lügst, sag die Wahrheit!“ Und die Mutter drückte weiter zu, die Fingernägel bohrten sich in ihren kleinen Oberarm. „Bis das Blut spritzt!“, schrie die Mutter erregt.

„Mama, bitte nicht, weinte nun Britta.“

Kathi biss die Zähne zusammen, sie wollte ehrlich bleiben, sie wollte es aushalten.

So oft hatte sie auch vor Brittas Augen geübt, Schmerz auszuhalten. Der Vater sagte hin und wieder zu ihr: „Indianerherz kennt kein Schmerz.“

So übte sie mit dem Kopf immer wieder gegen die Wand zu schlagen, dass sie keine Kopfschmerzen bekam, für den Fall, dass die Mutter ihr auf den Hinterkopf schlug oder Backpfeifen gab. Sie haute Arme und Beine gegen die Wände, um keine Schmerzen mehr zu empfinden. Manchmal brach sie sich den ein oder anderen Knochen, Finger oder Fuß und wusste nicht, ob es von den Übungen oder durch die Misshandlungen der Mutter ausgelöst wurde. Die Schmerzen kamen oft später oder gar nicht.

Brittas erschrockenes und die Ausrufe beim Üben spornten sie noch an und Kathi war stolz darauf, so viel ertragen zu können.

Doch jetzt, dieser schreckliche Schmerz im Oberarm, das Blut lief langsam zum Ellenbogen, weiter über den Unterarm herab und tropfte vom Handgelenk auf den Boden, da ertrug sie es nicht länger. Keine Übung darin, diesen Schmerz auszuhalten. Kathi schluchzte: „Ja, Mama, ich war es, ich habe das Geld genommen.“ Sofort lockerte sich der Griff und Kathi atmete tief durch.

Dieses Erlebnis hatte sie nie vergessen. Sie wurde gezwungen zu lügen! Kathi gestand etwas, was sie nie getan hatte. Und Britta steckte ihr später das Geldstück zu, damit sie es zurückgeben konnte.

Das ging Kathi durch Kopf und Herz. Die Mutter war sich doch sowieso sicher, dass sie stiehlt, dachte sie trotzig. Also warum sollte sie es dann nicht auch tun? So, hatte sie einen neuen Zeitvertreib, wenn sie aus dem Klassenzimmer flog: „Jacken kontrollieren“.

Kathi war die absolute Außenseiterin, aber mit bestimmten Aktionen machte sie auf sich aufmerksam. Sie schoss in der Pausenhalle häufig mit dem Turnbeutel die Deckenlampen kaputt. Die Haftpflichtversicherung ihrer Eltern schrieben regelmäßig Mahnungen.

Am Ende des zweiten Schuljahres standen zwei Sätze im Zeugnis, die ihr Schulleben bestimmten: Kathi ist eine Träumerin. Kathi prügelt sich häufig auf dem Schulgelände, anbei die Unfallprotokolle.

Kathi brauchte Steigerungen. Dieses Gefühl der Angst und dass doch alles gut geht. Sie kletterte aufs Schuldach. Sie klaute die Handtasche vom Pult der Lehrerin und schmiss sie ins Gebüsch – ohne etwas zu stehlen, denn sie mochte sie. Sprang aus dem Klassenfenster und brach sich den Fuß.

Das Verarzten, Röntgen, Verbinden ihrer körperlichen Wunden tat so gut. Obwohl sie wusste, dass das nicht richtig war, gestand sie sich dieses Gefühl nicht wirklich ein. Sonst hätte sie es viel mehr genießen können, dieses warme Gefühl, versorgt zu werden.

Aber um ihr Glück, ihre kleine verschüttete von Angst und Verletzung geschundene Seele, die voller Liebe war, kümmerte sich niemand. Und sie wusste nichts davon. Sie lebte einfach irgendwie und dachte, so muss das eben sein. Sie liebte die Mama und den Papa, die Schwester und die Lehrerin, Frau Voigt und Frau Schlichting, Frau Star und die Tauben unterm Sims, die gurrten, um sie damit beruhigten. Sie wollte sie alle beschützen und sie sollten glücklich sein. Dafür tat Kathi alles, was ihr möglich war. Die fünfzig Pfennig aus der Jackentasche, davon kaufte Kathi der Mama eine 5er Packung Milde Sorte, die rauchte sie so gern.

Und wenn sie abends mit diesen heiß-kalt-Gefühlen im Bett lag und ihr Nachtgebet sprach: „Lieber Gott, danke, dass ich lebe. Lass es Papa, Mama, Oma, Opa, Britta und auch den Tauben immer gut gehen“, die Tür leise aufging und vom Papa ein: „Schläfst du schon, Kathi?“, kam, dann musste sie ganz kurz überlegen, ob sie antworten sollte. Denn eine Antwort bedeutete, warme Arme und ihren Papa ganz für sich. Geborgenheit und Liebe spüren. Wenn dann die Dinge passierten, die sie nicht wollte, wusste sie schon, das hatte sie in ihrem jungen Leben schnell begriffen: „Das wollte Papa, das wollten die Männer, das ist das Wichtigste für sie.“ Und wenn das so war, dann musste und wollte sie ihm das geben, denn sie liebte ihn doch!

„Nein ich schlaf noch nicht“. Ganz steif lag sie da, kniff die Augen zu und dachte wieder einmal, wie sie einen Jungen aus dem eingebrochenen See im Winter vor dem Haus rettete, oder durch ein Feuer in ein brennendes Gebäude lief, um ganze Familien zu retten.

Bittere Erdbeeren

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