Читать книгу Bittere Erdbeeren - Katharina Gato - Страница 9
AUẞENWELT
ОглавлениеDie Mutter stand an der Wohnungstür. Sie erwartete Gäste. Das kam eher selten vor, nur zu besonderen Anlässen. Heute war ihr Geburtstag. Herausgeputzt und betörend schön war sie. Die Schwestern liebten sie dann besonders. Schauten verstohlen auf diese attraktive Frau, von der viele sagten, dass sie eine Mischung aus Elizabeth Taylor und Sophia Loren sei. Die Kinder kannten beide nicht.
Sie hatte ein neues Kleid an mit großen bunten Blumen darauf. Ganz eng in der Taille und glockig weit um Hüften und Beine. Es sah so hübsch aus! Ihre strahlend grünen Augen zu den schwarzen Haaren, war umwerfend. Der Papa, ebenfalls groß und schlank, hatte zwar „Geheimratsecken“, wie die Mama zu sagen pflegte, aber ebenfalls schwarze Haare und blaue Augen. Es war ein Paar, was einfach sehr schön anzusehen war. Dann die blond gelockte Kathi mit ihren strahlend dunkelblauen Augen, Britta, ebenso blauäugig, nur mit sehr dunklem, langem Haar. Es war die perfekte Vorzeigefamilie.
Kathi stand etwas hinter Mutters Rockzipfel, atmete den Duft von Fenjala ein. In diesem Cremeölbad badetet die Mutter zu nicht alltäglichen Gelegenheiten. Sie schaute bewundernd zur Mama auf und sagte ihr, wie schön sie sei und wie herrlich sie dufte. Das stimmte die Mama besonders glücklich. Freundlich sagte sie: „Kinder, geht jetzt mal in Eure Zimmer und wartet dort.“
An der Tür läutete es und nacheinander traten die Gäste ein.
Tanten und Onkel, die sogenannten Nenntanten und Nennonkels, die Freunde der Eltern. Schön war es immer, weil sie Schokolade mitbrachten. Eine Tafel, die sich die Schwestern teilen mussten. Kathi und Britta träumten davon, einmal je eine Tafel ganz für sich allein zu haben.
Cousinen und Cousins und die Kinder der Freunde kamen. Oma und Opa brachten Rittersport für die Schwestern – jede eine Schokolade für sie allein mit! Die war zwar kleiner und quadratisch, die Sorte Trauben-Nuss, mit den Rosinen darin mochten sie nicht wirklich. Aber wichtig war, dass sie süß schmeckte, das war genug zum Freuen.
Ein großes Hallo und Durcheinander herrschte auf dem Flur.
Kathi und Britta durften nacheinander alle Erwachsenen mit Knicks begrüßen. Die Tanten drückten ihre feuchten Münder auf deren kleine, sich widerstrebenden Schnuten. Kathi wischte mit dem Handrücken ungeniert den Mund ab, weil sie sich ekelte. Normalerweise fing sie sich deshalb eine Ohrfeige von der Mutter ein, aber wenn Gäste da waren, hatte sie Glück! Das wusste und erleichterte sie. Alle gingen in das Wohnzimmer, wo ein großer Tisch für die Erwachsenen und ein kleiner, so genannter „Katzentisch“ mit Kinderstühlchen und Hockern drumherum aufgebaut waren.
Die Mutter kommandierte charmant, aber sehr bestimmt, wie jedes Mal, die Kinder ins Badezimmer zum Händewaschen. So musste, wie bei einer Polonaise, das hintere Kind dem vorderen auf die Schultern fassen und warten, bis nacheinander alle die Hände gewaschen hatten. Die Kinder bekamen „Kalte Schnauze“, Kathis Lieblingskuchen, aus Schoko und Leibniz-Keksen. Die Erwachsenen aßen Torte und Windbeutel.
Alles war friedlich und in Ordnung. In den Kinderzimmern wurde weitergespielt. Höhle bauen. Unter Stühlen und Tischen machte das besonders viel Spaß. Oder Versteckspielen. Auch wenn man die laute Stimme der Mutter oft durchdringend und am häufigsten hörte, waren die Schwestern sehr stolz auf ihre Mutter und wussten, sie hatten nichts zu befürchten. Das waren die Momente, in denen sich eine kleine Entspannung, Erleichterung und eine warme Welle der Freude in Kathi ausbreiten konnte.
In der engen Nachbarschaft jedoch war es häufig anders. Wenn jemand tuschelte, die Mutter komisch anschaute oder es gar wagte zu kritisieren, zum Beispiel, dass die Waschküche nicht sauber hinterlassen wurde. Da konnte sie ganz anders werden. Dann schämte Kathi sich. „Gucken Sie nicht so! Was gibt es da zu tuscheln?“ Lautstark schleuderte die Mutter die Worte wie Giftpfeile den Nachbarn zu. Kathi wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Die Nachbarn, Radlowskis direkt über ihnen im ersten Stock, wohnten noch nicht lange dort und hatten sich beschwert über zu lautes Lachen der Mutter. Kathi ahnte nichts Gutes… Ach, was würde sie darum geben, bei einer ihrer alten Damen zu sein, Frau Voigt oder Frau Schlichting. Oder die gemütliche füllige Frau Star. Einfach still dasitzen und einen Keks essen. Kathi versuchte sich dorthin zu träumen.
Sie war gerade eingeschlafen, das stand die Mutter plötzlich mitten in der Nacht vor ihrem Bett und weckte sie lautstark: „Kommt Kinder, Ihr dürft laut sein, macht Krach!“
Voller Rachegefühl und Wut, sang sie laut: „Lalalalala“ und klopfte mit dem Besenstiel an die Zimmerdecke.
Britta wollte in ihr Bett zurück, aber da kam sogleich: „Sei nicht mimosenhaft, schau deine kleine Schwester an, die macht toll mit!“
Und so war es. Kathi fand es super! Einmal wach, kann man ja mal so richtig Remmidemmi machen. Sie sang lauthals mit und kreischte wie die Mutter. Aber es klang anders. Sie kreischte die Scham, ihre Verzweiflung und ihre Trauer laut hinaus. Das tat einfach gut.
Am nächsten Tag ging sie, zum ersten Mal ohne ersichtlichen Grund zu Frau Voigt. Diese war erstaunt. Sagte aber nichts und ließ sie einfach hinein. „Möchtest du einen Kakao?“
Oh, was tat das gut! Diese stille und vornehme Frau war nun die zuvor erträumte Wohltat für sie. Ganz still saß Kathi am Tisch, trank ihren Kakao und biss in den runden De Beukelaer mit Schokolade zwischen den zwei Kekshälften. So oft wünschte Kathi sich, dass die Mutter wie Frau Voigt sei, damit sie immer stolz sein konnte. Dabei lästerte die Mutter gemein über Frau Voigt, wenn sie sie zum Geburtstag eingeladen hatte, wie steif und vornehm sie doch sei. Kathi verstand es nicht, dass die Mama mal so schön und verführerisch sein konnte, dass alle sie anhimmelten. Dann bekam sie alles, was sie wollte. Und plötzlich, warum auch immer, war sie hysterisch, warf Teller gegen den Papa, knallte Türen oder den Telefonhörer auf, schrie herum und zeigte sich komplett überfordern. Es war schwer, sich darauf einzustellen, es zu begreifen.
„Kinder, ich habe zur Versöhnung unsere Nachbarin Frau Radlowski und ihre Söhne zum Kaffee eingeladen. Macht Euch schön!“
Die Schwestern mussten ihre Sonntagskleider anziehen und die Frau, die die Mutter wegen der Kritik so abgrundtief hasste, die sie in der Nacht zuvor terrorisiert und die Kinder mit eingebunden hatte, sollte nun mit ihnen Kaffee trinken. Das fühlte sich für Kathi nicht richtig an. Dieses oft paradoxe Verhalten der Mutter.
Es klingelte und der erwachsene Sohn Jens stand vor der Tür. „Meine Mutter kommt gleich nach, mein Bruder kommt nicht.“, sagte er nur ziemlich kühl. Kathi bat ihn in das Wohnzimmer, die Mutter brühte den Kaffee in der Küche auf. Nun saß sie da mit ihm allein in ihrem hübschen weißen Kleidchen mit grünen Stachelbeeren darauf. „Du bist ja süß.“, schmunzelte er. Sie hatte ihn vorher noch nie gesehen, vielleicht einmal von Weitem. „Komm doch mal auf meinen Schoß!“
Kathi tat es. Sehr schnell hatte Jens seine Hand in ihrem Höschen und fummelte an ihr herum.
„Was soll das? Ich will das nicht“, ging durch ihren Kopf. Herzklopfen vor Angst, dass Mama gleich reinkommen würde. Sie wusste nicht einmal, ob sie darüber froh sein sollte oder Angst haben musste. Nun, Kathi wusste vom Vater, wenn er bei ihr im Bett an ihr herumspielte, wie er das nannte, dass es niemals ein Mensch wissen durfte, auch nicht die Mama. So hatte sie jetzt einfach nur Angst. Die Mama kam mit der Kaffeekanne herein und blitzschnell zog Jens die Hand aus Kathis Hose.
„Warum sitzt meine Tochter auf Ihrem Schoß? Wo ist Ihre Mutter?“ Er setzte Kathi runter und sagte, dass die Mutter gleich kommen werde. Ein verkrampftes Kaffeetrinken, was die Wogen einfach nicht glätten wollte, folgte. Die Mutter ritt immer wieder auf ihrem Recht herum, laut sein zu können, wann sie wollte, und Frau Radlowski drang mit ihrem Wunsch nach dem Einhalten von Ruhezeiten nicht durch. Als sie gegangen waren, erzählte Kathi der Mutter, dass Jens in Ihre Hose gefasst hätte. Daraufhin trieb eine Zornesröte in das Gesicht der Mutter. Sie lief sofort die Treppen hinauf und klingelte Sturm. Kathi und Britta standen an der offenen Wohnungstür und lauschten in das Treppenhaus.
„Ihr Sohn ist ein Schwein! Nie wieder setzen Sie oder auch nur einer ihrer Söhne einen Fuß in unsere Tür! Wenn er sich noch einmal an meiner Tochter vergreift, dann sorge ich dafür, dass sie hier rausfliegen!“, schrie die Mutter lauthals, so dass das ganze Haus es mitbekam.
Britta flüsterte: „Das ist unsere Löwenmami.“
Kathi verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber sie fühlte sich stark und für den Moment geschützt. Im Herzen klang es nach: „Mama glaubt mir und scheint mich doch lieb zu haben.“
Ein besonderer Tag. Papa kam mit einem Kollegen und brachte eine Musiktruhe nach Hause. Mit Radio und dem magischen Auge. In der Truhe selbst konnte man mehrere Single Schallplatten hintereinander stapeln, die von ganz allein spielten!
Stundenlang saß Kathi davor und besah sich die Technik. Jede Platte, die anspielte, berührte sie in der Seele. Kathi hatte viel vom Papa bei den abendlichen Sperrmüllgängen gelernt, indem er mit ihr Radios, Fernseher und alles Mögliche nach Hause in seinen Bastelkeller schleppte, reparierte, probierte und schaute. Kathi war normalerweise ein hibbeliges Kind, aber in den Momenten konnte sie stundenlang ganz still etwas betrachten. Der Papa erklärte, wie es einmal funktioniert hat und wie es wieder funktionieren könnte, man muss nur lange genug schauen. Und als kleine Vierjährige fing sie bereits an, durch Zuschauen alles zu lernen, was für sie wichtig erschien. Hier entwickelte Kathi eine Engelsgeduld.
Die Mutter kannte sich mit keiner Technik aus und Kathi hatte diese Plattenkiste flugs durchschaut, deshalb durfte sie die Platten auflegen und das Gerät bedienen. Die Musik, die sie wirklich berührte, sang sie nach. In Verbindung mit der Musik, lernte Kathi blitzschnell die Texte. Eigentlich berührte sie alles, ob es Margot Eskens, Katharina Valente, Peter Kraus oder Nana Mouskouri waren. Sie sang und tanzte dazu, fühlte sich in einer anderen Welt, in der die Seele, die sich immer so hart anfühlte, ganz weich wurde, weich und leicht, wie eine Feder. Zum ersten Mal beglückte sie etwas wirklich und durchdringend: „Musik“.
Musik mit all ihren unterschiedlichen Schwingungen und Botschaften. Die Musik schaffte unsichtbare Mauern um sie herum, die sie schützten. Eine Welt mit dem Gefühl von Sicherheit, Wärme und Freude.
Kathi ging schon länger zum Ballett, war fast täglich im Turnverein, denn der Papa war ehrenamtlicher Aushilfstrainer. Hier mussten Britta und Kathi die Vorzeigemädchen spielen. Flickflack vom Kasten, Geräteturnen, Bodenturnen. Kathi fiel auf, dass der Papa die anderen Mädchen häufig mit diesem komischen Blick anschaute und wenn er Hilfestellung beim Überschlag oder vom Kasten gab, versuchte er sie zwischen den Beinen zu berühren. Das war ihr sehr unangenehm und sie konnte es gar nicht deuten. Warum machte er das? Selbst bei den Cousinen beobachtete sie seine gierigen und lüsternen Blicke. Die Angst, dass er ertappt würde, schien für sie unerträglich zu sein.
Auch beim Training trug Kathi einen Turnanzug mit Ärmeln bis zum Ellenbogen, damit wirklich niemand die durch die Mutter hinzugefügten Blessuren sehen konnte. Niemand! Der Schutz der Familie war ihr extrem wichtig und das einzige, was zählte. Sie wollte doch, dass alle glücklich sind!
Durch ihre Turnbegabung und dass die Eltern durch die Musiktruhe entdeckt hatten, wie schön ihre Tochter singen konnte, wurde Kathi dann ein wenig zum Vorzeigeäffchen. So fühlte sie sich zumindest. Egal ob Kollegen vom Papa, Freunde der Eltern oder Verwandtschaft, nun hieß es immer: „Kathi mach mal Handstand! Kathi sing doch nochmal etwas von Nana Mouskouri!“
Und sie tat es. Fühlte sich unter Druck, aber der Applaus und die Komplimente taten ihr gut. Und wenn sie sang, war sie woanders. Sie war einfach da. Ganz im Lied, getragen von der Melodie, gab sie ihre glockenklare Stimme zum Besten. Es war ein Sein und Fühlen im Hier und Jetzt, keine Schläge, keine Schreie, keine Ertränkungsgefühle, keine Wut, keine Übergriffe durch den Vater. Einfach nur Musik und ein Herz, das in diesem einen Moment bis hinauf zu den Sternen weit geöffnet war.
Nach Außen, da war diese vierköpfige Familie mit dem wunderschönen Elternpaar, entzückenden begabten Kindern, die Flöte spielten, sangen, turnten, Ballett tanzten, einfach nett. Und jedes einzelne Familienmitglied arbeitete an diesem Außenbild auf seine eigene Weise. Niemand durfte hinter die Kulissen schauen. Darin sah Kathi ihre Aufgabe, auch wenn Alpträume sie plagten. Es waren meist wiederkehrende Albträume, Einbrecher, die ihr Zuhause nahmen und die Mutter, den Papa sowie die Schwester töteten. Nur sie blieb unter dem Bett unentdeckt und wusste, dass sie verhungern und sterben musste. Und überall Blut. Dann wurde sie von ihrem eigenen Schluchzen geweckt.
Manchmal ergänzte sich der Traum, indem ein Mann kam, sie unter dem Bett hervorholte und sagte: „Vertraue mir, du bist in Sicherheit“, steckte seine Hand in ihre Hose und flüsterte: „Wenn du ganz still bist, passiert dir nichts.“ Der Mann sah mal aus wie der Jens von oben, mal wie der Organist der Kirche, der sie auch in der Realität häufig auf den Schoß nahm und besabberte und befingerte und mal sah er aus wie der Papa. Wie ihr geliebter Papa. Der sie vor der oft brutalen Mama beschützen wollte. Kathi hatte doch nur ihn! Der Preis war hoch. Aber das wusste Kathi damals nicht. Sie war ein Kind von fünf Jahren und all das war ihre Normalität. Nichts weiter.