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DIE VERSCHICKUNG 1963

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Die Mutter hatte viel Liebe für Kathi. Denn sie war ein fröhliches Kind. Immer vergnügt, sie juchzte und lachte im Spiel, war kämpferisch und gab niemals auf. Wenn sie fiel, zog sie sich selbstbewusst hoch und wollte keine Hilfe. Dann konnte sie zauberhaft dickköpfig sein. Im Laufgitter beschäftigte sie sich stundenlang allein, warf Bauklötze aus dem Gitter, um sie dann angestrengt mit allen Mitteln wieder hineinzuangeln. Oft sah die Mutter schon damals, dass sie anders war: intelligent, fröhlich und einfach ein richtiger Sonnenschein. Oma und Opa und alle Tanten und Onkel erfreuten sich an dieser kleinen Kathi. Ganz anders ihre Schwester. Britta war fast schwermütig, still, ernst und zurückgezogen. Aber wenn es um die kleine Kathi ging, war sie da, nahm sie in den Arm und es fühlte sich für Britta an, als habe sie eine Puppe, die es zu beschützen galt.

Der Tag, an dem die Koffer gepackt wurden, kam unverhofft. Es hieß, dass sie verschickt werden sollten. Erholung, finanziert vom Staat, was durchaus üblich war, um die Kinder zu päppeln. Die Schwestern waren dünn und blass und husteten öfter.

Am Hamburger Hauptbahnhof standen große Reisebusse. In dem Lärm von Autos, quietschenden Einfahrgeräuschen der Züge und dem Menschengewirr, wimmelte es von Kindern und Erwachsenen. Ein lautes Durcheinander. Kathi hielt sich die Ohren zu. Eine für sie unangenehme Atmosphäre durchdrungen von Lachen, Weinen und Geschrei. Für Britta ging es in einen Zug mit vielen anderen Kindern Richtung Föhr. Die kleine Kathi wurde in einen Bus voller Kinder verfrachtet, der nach Cuxhaven fahren sollte.

Kathi schaute aus dem Fenster, neben sich ein größeres Mädchen, das seinen Eltern zuwinkte. Auch Kathi suchte panisch die Mutter. Als sie sie sah, winkte sie und weinte:

„Mama, Mama! Ich will zu meiner Mama!“ Der Bus entfernte sich langsam, sie sah hinaus und verstand die Welt nicht mehr. Eine Frau mit herrischem und unfreundlichem Gesicht tippte ihr auf die Schulter: „Aber, aber, wer wird denn weinen? Du bist doch schon ein großes Mädchen, sonst hättest du mit dieser Gruppe gar nicht fahren dürfen.“

Die Mutter war stolz darauf gewesen, dass ihre Kleinste mit nun zweieinhalb Jahren bereits komplett sauber war und aufs Töpfchen ging. Sie war die Jüngste in der großen Kindergruppe mit über sechzig Kindern.

Kathi verstand nicht was VERSCHICKUNG bedeutete. Warum musste sie weg, von der geliebten Schwester, von ihrem Zuhause?

Ankunft. Ein großer Raum. Der Speisesaal. Lange Holztische mit kleinen und großen Holzstühlen. Es roch gut dort. Nach Kartoffelbrei und Fischstäbchen.

Kathi hatte großen Hunger und sie liebte Kartoffelbrei. Und Fischstäbchen? Hatte sie nur zweimal bisher gegessen. Ein Traum wurde wahr. Sie saß an einer langen Tafel zwischen all den größeren Kindern.

Da lag nun das Kinderbesteck neben ihrem Teller. Kathi konnte damit noch nicht essen und versuchte mit einer Hand und der Gabel, die Fischstäbchen zu zerkleinern. Tränen blockierten ihren Hals, so dass sie weder essen noch weinen konnte. Eine Fremdheit, Hilflosigkeit und ein tiefer Schmerz, der sich wie eine Säure durch sie hindurch fraß.

Plötzlich packte sie die Frau aus dem Bus am Arm und zerrte Kathi mit den Worten: „Wer nicht essen kann, hat am Tisch nichts verloren“, grob vom Stuhl. Sie brachte Kathi in einen großen Schlafsaal mit vielen Betten. Dort wurde sie in ein Bett gelegt, das Gitter hochgezogen und aufgefordert, Mittagsschlaf zu machen. Es rollten die Tränen über die roten runden Wangen und Kathi schrie und weinte immer wieder nach ihrer Mama.

Die anderen Kinder kamen etwas später und mussten sich ebenso in ihre Betten legen und schlafen. Kathi weinte sich in den Schlaf und hörte und verstand die gemeinen Worte der Erzieherin nicht.

Plötzlich erwachte Kathi durch das Gefühl, dass das Bett und ihre Hose nass waren. Ein Schrecken durchfuhr sie!

Es war anders als vorher zu Hause, wo das manchmal noch passierte, weil sie träumte, sie säße auf dem Töpfchen. Nun lag sie ganz still und rührte sich nicht. Spürte die inzwischen erkaltete Pippi und die nasse Hose. Nach einer für sie endlos langen Zeit wurden alle Kinder geweckt. Als die Erzieherin das Unglück sah, wurde sie richtig böse. Die Mutter hätte ihr versprochen, dass Katharina aufs Töpfchen gehe und dann das! Sie sei ja noch ein Baby und nun gibt es eben wieder Windeln. Die Erzieherin verspottete Kathi und die Kinder lachten. Kathi weinte und schluchzte, dass sie nach Hause wolle, zur Mama.

Die Antwort der Erzieherin traf abgrundtief und brannte sich ein: „Deine Mama und auch niemand anderes will dich, denn du machst ja noch ins Bett und nur Arbeit und Ärger!“

So ganz war Kathi die Bedeutung der Worte nicht klar, aber so viel verstand sie: Dass kein Mensch sie mehr wollte.

Daumen lutschend und mit Windeln saß sie häufig in der Ecke, hatte keine Freude am Spiel, nur dieses unendliche Heimweh. Sie spürte, dass kein anderes Kind sie wollte, und es breitete sich eine trostlose Einsamkeit in ihr aus. Tiefe Trauer durchdrang sie und ohne, dass sie es wollte, trotz aller Anstrengungen, blieb sie dort Bettnässerin. Sie hätte es so gern geändert, aber sie wusste nicht WIE.

Diese Erzieherin hieß Frau Bause, was sie an „Brause“ erinnerte, wo es doch das seltenste und schönste Gefühl auslöste, sich an diesen süßen Geschmack zu erinnern, den sie erst ein einziges Mal in ihrem Leben kosten durfte.

„Ich habe die Nase gestrichen voll von dir“, fluchte Frau Bause, als sie wieder einmal Kathis Windeln wechseln musste. Sie klatsche Kathi die nasse Windel an den Kopf und zerrte sie in den Keller, den sie schon mehrfach angedroht hatte, wenn Kathi weiterhin einnässen sollte.

Frau Bause machte ihr laut und deutlich klar, dass sie nun dort, nur in ihrer Unterwäsche, im dunklen Keller bei Ratten und Mäusen bleiben müsse, bis sie nicht mehr einnässen würde. Sie wird frieren und hungern, die Mäuse an ihr nagen, aber es sei immer noch besser, als nirgendwo zu sein, denn ihre Familie wolle sie ja nicht mehr.

Kathi saß im Dunkeln auf einer ausrangierten Turnbank, lauschte auf jedes Geräusch mit angezogenen Beinen, damit die Mäuse, wenn sie dort wirklich herumliefen, nicht an ihren Füßen nagen konnten. Den Kopf zwischen den Knien flach und leise atmend, hatte sie nur einen stummen, erstickten Schrei in sich, der nicht herauskonnte. Vor Angst, vor Schreck, vor Trauer, vor dem großen stummen Nichts in ihr.

Kathi erinnerte sich daran, dass sie schreiend und frierend nach gefühlter unendlich langer Zeit von einem Mann heraufgeholt wurde. Dieser wusch sie und zog ihr die schwarze, kurze Turnhose und das kurzärmelige gerippte Turnhemd an. Dann nahm er sie an die Hand und führte Kathi in einen großen Raum, wo schon andere Kinder am Boden auf Matten lagen. An der Decke war sogenanntes Rotlicht mit Ozon. Es war warm, es roch fremd, es tat irgendwie gut auf ihrem von Gänsehaut überzogenen Körper. Und es war ein Gefühl, das Chaos in ihr auslöste. Ein Nichtverstehen von widersprüchlicher, gleichzeitiger Grausamkeit und Wärme.

Kathi war lange in dem evangelischen Heim in Cuxhaven. Waren es nur sechs Wochen? Gefühlte zwei Jahre? Alles veränderte sich in ihr. Sie lernte in dieser Phase der Verschickung nichts weiter als: Gefühlschaos. Einsamkeit. Verzweiflung. Hysterie.

Die Verschickung endete. Die ganze Busfahrt über war sie im Ungewissen, in schrecklicher Angst, was nun mit ihr geschehen, wie es weitergehen würde. Sie wusste, dass die anderen Kinder abgeholt werden am Bahnhof. Alle sprachen davon und freuten sich darauf. Kathi kauerte am Fenster und schaute hinaus.

Die Erinnerung an die Ankunft am Busbahnhof blieb ihr unvergesslich: Mama, Papa, Britta standen draußen und winkten ihr zu. Kathi wischte sich über die Augen. Das konnte doch nicht sein!?

Diese zarte Seele konnte das nicht verstehen, nicht verkraften. Es wurde ihr immer und immer wieder eingehämmert von Frau Bause, dass sie keiner will, es kein Zuhause mehr für sie gäbe. Und da standen sie!

Kathi, schrie und klopfte an das Busfenster: „Mama, Papa, Britta!“ Dabei weinte sie und lachte. „Mama! Papa! Britta!“ Es war ein ganz neues, ungekanntes Gefühl. Und als die Mutter sie draußen als erste in die Arme schloss, lernte Kathi das erste Fremdwort: Hysterisch. „Kind, mein Gott, du bist ja vollkommen hysterisch!“

Bittere Erdbeeren

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