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Vier Versuche über Helden
ОглавлениеHelden, das ist so eine Sache. Heutzutage verwenden wir eigentlich eher neutralere Begriffe, um die handelnden Figuren einer Geschichte zu beschreiben. ‚Protagonist‘ zum Beispiel oder ‚Hauptfigur‘, ‚das Zentrum der Handlung‘ oder ‚Agens‘. Alles eben, wenn es nur nicht ‚Held‘ ist. Aber es fällt mir schwer, die Gestalten, die das große Abenteueruniversum von Karl May bevölkern, mit einem anderen Wort zu bezeichnen. Keines der eben genannten scheint mir wirklich zutreffend. Denn Karl May schrieb nun einmal Heldengeschichten, spannende Erzählungen über tapfere, unschlagbare Heroen, die voller Tatendrang in die Welt hinaus- und dort gegen das Böse ins Feld ziehen. Eine altmodische Vorstellung, könnte man sagen, und genau das will Darth Vader, der Inbegriff aller modernen Bösewichte, unseren Helden am Lagerfeuer auch weismachen. Nur hat er sich dazu die Falschen ausgesucht. Denn Sherlock Holmes, der Superdetektiv, Mr. Spock, der ultra-logische Vulkanier, der ausgefuchste Batman, der unerschütterliche Hobbit namens Samweis Gamdschi und nicht zuletzt der scharfsinnige Old Shatterhand lassen sich nicht so leicht hinters Licht führen. Würden sie in unserer „primären Welt“ leben, statt in frei erfundenen „sekundären Welten“1, dann wüssten sie die Spuren bestimmt zu deuten. Es sind schließlich ziemlich breite Fährten, die selbst einem Greenhorn nur schwer entgehen könnten: Fantastische oder futuristische Romane wie Harry Potter, Die Tribute von Panem und Ein Lied von Eis und Feuer (die Buchvorlage für die bahnbrechende TV-Serie Game of Thrones)2 stürmen die Bestsellerlisten. Fantasy-, Science-Fiction und Superheldenfilme wiederum teilen sich die Kino-Blockbuster untereinander auf, während Fernsehserien aus eben jenen Genres ein weltweites Publikum mitreißen3. Das mag nicht jeder begrüßenswert finden, aber es zeigt doch eines: dass die Menschen ein schier unstillbares Bedürfnis nach großartigen, ikonischen Helden haben, die unerschrocken für das Gute einstehen.
Sherlock Holmes, Weltraumsagas wie Star Trek und Krieg der Sterne, Tolkiens Herr der Ringe und die zahlreichen Superhelden, die sich in letzter Zeit auf den Kinoleinwänden die Klinke in die Hand geben, haben allesamt schon einige Jahre auf dem Buckel. Nicht ganz so viele wie die Kreationen Karl Mays vielleicht, aber in manchen Fällen schon beinahe. Trotzdem inspirieren und begeistern sie die Menschen nach wie vor. Fans tragen die Storys weiter, verkleiden sich als ihre Lieblingsfiguren und lernen erfundene Sprachen, gehen zu Conventions (Fan-Messen), denken sich eigene Geschichten aus, und wenn sie erwachsen und/oder erfolgreich geworden sind, kreieren manche von ihnen aus dem alten Stoff sogar neue sekundäre Welten.
Wie die Menschen sich einst immer wieder Geschichten über den Trojanischen Krieg, die Ritter der Tafelrunde, das Schicksal der Nibelungen und andere Mythen und Sagen erzählten, so verbreiten und wiederholen wir heute die Geschichte dieser modernen Helden. Manchmal schöpfen wir sie sogar nach oder interpretieren sie neu. Auf alle Fälle genießen wir sie wieder und wieder, und eine Generation gibt sie an die nächste weiter. Und warum? Vermutlich, weil sie uns helfen, uns wichtige Dinge über uns selbst und über unsere Welt zu erzählen. Ganz bestimmte Dinge, die andere Geschichten, die keine ‚altmodischen‘ Helden haben, uns nicht genauso begreifbar machen.
Immerfort werden diese neuen Mythen wieder- und weitererzählt, neugedacht und uminterpretiert. Im Zentrum stehen unverwechselbare Protagonisten mit einem unerschütterlichen Moralkodex, außergewöhnlichen Fähigkeiten, jeder Menge Humor und einem oft ziemlich schrägen Outfit. Karl Mays große und kleine Helden und Heldinnen fügen sich mühelos in die Reihe dieser modernen Heroen ein.
Diese Beobachtung stand am Anfang von Moderne Helden. Sie führte zu vier Vergleichen, die der Modernität der Mayhelden nachspüren. Jeder dieser Vergleiche ist in sich abgeschlossen und kann für sich gelesen werden. Doch auch zusammen ergeben die vier Teile dieses Buches ein rundes Bild. So befasst sich das erste Kapitel mit der Frage, ob Karl May nicht eigentlich Superheldengeschichten geschrieben hat, und nimmt die derzeit beliebtesten Comic- und Filmfiguren aus diesem Genre unter die Lupe. Die Gemeinsamkeit zwischen Mayheroen und ‚Metahumans‘4 sind mannigfaltig. Und wenn man all diese „Superhelden am Lagerfeuer“ versammelt, zeigt sich, was Superman und Winnetou, Captain America und Old Shatterhand, Tony Stark und Tante Droll uns heute noch so alles zu sagen haben.
Der zweite Teil, „Eine unerwartete Reise“, wagt einen Vergleich zwischen Mays großer Reiseerzählung und J. R. R. Tolkiens gewaltigem Fantasy-Epos Der Herr der Ringe. Denn das Mayversum – wie ich die große Abenteuerwelt Karl Mays nenne, in der so manche wundersame, wenn nicht gar märchenhafte Begebenheit passiert – ist genauso ein fantastisches Reich wie Tolkiens imaginärer Kosmos von Mittelerde. Doch das steht nicht im Zentrum der „Unerwarteten Reise“. Vielmehr treten bei diesem Ausflug ins Fantastische zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den Heldenfiguren zutage, denen diese beiden Giganten der Vorstellungskraft Leben eingehaucht haben. Sie alle verbindet eine Liebe zur Schöpfung und eine zeitlose Sehnsucht.
Der dritte Teil, „Old Shatterhand trifft Sherlock Holmes“, widmet sich trotz seines augenzwinkernden Titels in erster Linie der Jetztzeit. Arthur Conan Doyles berühmter Meisterdetektiv und Mays Weltläufer sind zwar durchaus zwei Helden vom gleichen Schlag; im Mittelpunkt des Kapitels stehen aber die zahlreichen Adaptionen, die die Abenteuer des Ermittlers aus der Baker Street allein in den letzten Jahren erfahren haben. Sie sind Anlass, die Lust am Neuerzählen zu ergründen, dem Phänomen der ‚Bromance‘5 nachzugehen und die Frage nach der Modernisierbarkeit der May’schen Heroen zu stellen. Denn wenn Sherlock Holmes und Dr. Watson schon immer ihrer Zeit voraus waren, wie eine der erfolgreichsten Neuerzählungen behauptet6, könnte dann das Gleiche nicht auch für Mayhelden wie Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar gelten?
Das Buch schließt mit dem Vergleich zwischen Karl Mays Romanen und der galaktischen Reiseerzählung Star Trek, die in gewisser Weise stellvertretend für die großen Science-Fiction-Sagas der letzten 50 Jahre steht. So lange fliegt das Raumschiff Enterprise nämlich schon in die unendlichen Weiten des Weltraums hinaus, um dort Abenteuer zu finden, „neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen“ – und eine Botschaft des Friedens und der Toleranz zu verbreiten.
Die Star-Trek-Helden sind Träger einer utopischen Philosophie, die mit der Ideologie der May’schen Heroen fast deckungsgleich ist. Beide Geschichten erzählen auf die Unendlichkeit hin und haben uns Wichtiges für die Zukunft mitzugeben. Doch bevor wir in all diese fantastischen Welten eintauchen, gilt es noch einer Frage nachzugehen: Was ist eigentlich ein Held? Und genauer gefragt: Was ist ein Mayheld?