Читать книгу Moderne Helden - Katharina Maier - Страница 8
Das Schöne, Wahre, Gute
ОглавлениеMayhelden sind selbstbestimmte, fähige Individuen. Das gilt nicht nur für die großen Heroen Kara Shatterhand, Winnetou und Hadschi Halef Omar, sondern auch für viele weitere Abenteurer in der Großen Reiseerzählung. Und das muss auch so sein. Das Mayversum besteht aus verschiedenen Abenteuerräumen, die den Menschen, die sie bewohnen (Winnetou und Halef) oder bereisen (Kara Shatterhand) vor besondere Herausforderungen stellen. Fertigkeiten, die in der europäischen und ostamerikanischen Zivilisation ihre Relevanz verloren haben, sichern hier Überleben und Respekt: Kampfgeschick und strategisches Denken; der geübte Umgang mit einer Bandbreite von Schuss- und Stichwaffen; hervorragende Reitkünste; Ausdauer und Körperkraft; Beobachtungsgabe; Wissen über Flora und Fauna; und natürlich das lebenswichtige Beschleichen feindlicher und bisweilen auch freundlicher Mitmenschen. Nützlich sind zudem kulinarische Kenntnisse, medizinisches Wissen, grundlegende handwerkliche Fertigkeiten wie etwa Nähen, Bügeln und Hutmacherei (das ist kein Witz), Wissen über geologische, astronomische, physikalische und chemikalische Grundlagen … kurz: Ein Tausendsassa sollte man sein. Doch selbst all das macht noch keinen Helden aus. Es braucht noch ein entscheidendes Element: einen unerschütterlichen moralischen Kompass.
Der May’sche ‚Heldenkodex‘ ist der Grundstein der Großen Reiseerzählung. Jede einzelne Figur wird daran gemessen. Wer diesen Werten nicht entspricht, wird zunächst getadelt und – wenn er oder sie sich als uneinsichtig oder ungelehrig erweist – schließlich explizit abgelehnt bzw. aus der Gruppe der Mayhelden verbannt. Wichtige Aspekte des heroischen Kodex sind: der Erhalt von Leben wann immer möglich; Nächstenliebe und Nachsicht gegenüber den Feinden; Toleranz oder jedenfalls Verständnis Fremden und anderen Kulturen gegenüber; unbedingte Hilfeleistung; Aufrichtigkeit (in Maßen)10; Respekt vor der Schöpfung (Mensch, Tier, Natur); allgemeine Freundlichkeit; Würde und Ehrhaftigkeit. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch an Vollständigkeit, deckt aber doch die grundlegenden moralischen Voraussetzungen ab, die eine Person im Mayversum erfüllen muss, um ein Held oder, allgemeiner gesagt, ein guter Mensch zu sein. Denn alle anständigen Leute vertreten im Grunde diese Werte und Verhaltensmuster, von einigen kulturellen Eigenheiten einmal abgesehen; doch selbst dann erkennen vernünftige Zeitgenossen die Richtigkeit dessen, was man als christlich-humanistisch-heroische Handlungsprinzipien bezeichnen kann, eher früher als später.
Eine May’sche Heldenfigur verfügt allerdings nicht nur über die richtige Einstellung, sondern auch über die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geisteskraft, diesen Werten Geltung zu verleihen. Den Mayheroen geht es darum, die Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Unwissenheit in der Welt zu überwinden. „Warum brauchen wir Helden, die auf diese Art und Weise obsiegen?“, fragt der junge Philosoph Steve Baxi11. Er stellt diese Frage nicht in Bezug auf die May’schen Abenteurer, sondern in Hinblick auf die Avengers, ein Superheldenteam, das in den letzten Jahren die Herzen vieler Menschen erobert hat. Doch das Prinzip bleibt das gleiche: „Wir brauchen sie, weil sie die Menschen inspirieren. […] Deswegen müssen sie das ganze Potenzial der Menschheit zum Guten ausschöpfen.“ Denn, so erklärt Baxi in Anlehnung an Nietzsche, ein solches Heldentum ist nicht nur heroisch, sondern auch kreativ12. Wenn Protagonisten wie diese – wie die Superhelden, die Raumfahrer, die Meisterdetektive, die Hobbits, Waldläufer und Weltläufer – zusammenkommen und die Welt retten, dann können sie uns inspirieren oder uns zumindest an das Gute erinnern. Dazu brauchen wir sie und deswegen erzählen wir uns moderne Mythen über das Heldenhafte in den Menschen von heute.