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Enttäuschung

Endlich Wochenende. Wie hieß noch mal das Gegenteil von Burnout? Boreout. Davon hatte ich tatsächlich mal gelesen und konnte es jetzt voll und ganz nachvollziehen. Aber nun würde ich selbst etwas gegen die Langeweile in der Schule tun. Ich musste dringend für das Abitur lernen. Dringendst sogar!

Zwar hatte ich mir schon einiges eingeprägt und Dinge wie den Zitronensäurezyklus für Biologie waren mir eh in Fleisch und Blut übergegangen, aber kurz vor der ersten Abi-Klausur am Dienstag musste ich vor allem einiges in mein Kurzzeitgedächtnis pressen. Da kam es mir fast gelegen, dass sich Jan das ganze Wochenende geschäftlich irgendwo bei Hamburg rumtrieb. Er hatte sich vorhin kurz gemeldet, musste dann aber schnell zu einem Termin mit seiner Kollegin. Dieser Fernanda. Ob ich eifersüchtig war? Ein wenig vielleicht. Aber nur aus dem Grund, weil sie momentan mehr Zeit mit Jan verbringen durfte als ich. Und das war schlicht und einfach unfair.

Aber egal. Es gab jetzt Wichtigeres, zum Beispiel die Corioliskraft und die Passatwinde.

Gut drei Stunden quälte ich mich durch meine Erdkundeaufzeichnungen, bevor ich resignierend meinen Ordner und den Atlas zuschlug und mich gähnend nach hinten durchstreckte. Mein Nacken knackte laut. Verdammt. Ich war komplett verspannt und todmüde. Der Blick auf die Uhr über meinem Bett war überraschend. Erst kurz nach zehn. Eigentlich viel zu früh, um an einem Samstag schon schlafen zu gehen. Andererseits … Wer hatte diese Regel denn bitte aufgestellt?

Nach einer schnellen Katzenwäsche kuschelte ich mich in meine weiche Lieblingsdecke und schaltete den Fernseher ein. Ich blieb bei irgendeiner Comedysendung hängen, die mich langsam, aber sicher in den Schlaf lullte.

Plötzlich schreckte ich auf, als das Handy neben meinem Kopfkissen wild zu vibrieren begann. Meine müden Augen brannten und so blinzelte ich verwirrt in das flackernde Licht des Fernsehapparats. Wie lange hatte ich geschlafen? Minuten? Stunden? Ich griff nach dem brummenden Teil neben mir und erblickte Jans Gesicht, das mir entgegenlächelte. Ein Selfie, das er von sich selbst geschossen hatte, als ich mein Handy kurz ohne Aufsicht bei ihm hatte liegen lassen. Ehe ich mich versah, zierte sein Gesicht meinen Bildschirmschoner, es war mein Hintergrundbild und es grinste mir bei jedem seiner Anrufe entgegen. Zu süß!

»Hey Jan.«

»Süße, hab ich dich geweckt?«

»Fast, hab nur gedöst, glaub ich.«

»Alles okay bei dir?« Er hörte sich besorgt und mindestens so müde an wie ich.

»Ich vermisse dich, aber ansonsten ist alles okay.«

»Es wird besser, glaub mir!«

»Mmmh«, gab ich wenig zuversichtlich zurück.

»Wirklich. Momentan läuft es blöd, aber es kommt auch alles auf einmal. Ich betreue vier Projekte. Alle gleichzeitig. Aber das geht vorbei. Dann wird alles einfacher.«

»Okay.«

»Sei nicht traurig.«

»Okay.«

»Du hörst dich aber traurig an.« Er hatte eben seine Nora-Antennen. Er kannte mich zu lange und viel zu gut. Ich konnte nichts vor ihm verbergen.

»Ich bin nur müde, Jan.«

Es war kurz ruhig in der Leitung. Ich lauschte seinen Atemzügen und wünschte mir, er wäre hier und würde sich an mich schmiegen und seine muskulösen Arme um mich legen. Mir einen Kuss auf die Schulter hauchen, auf den Hals, hinter mein Ohr … Wenn ich die Augen schloss, konnte ich es mir vorstellen. Fast schon spüren.

»Jan?«

»Ja?«

»Wann sehen wir uns?«

»Morgen Abend, okay? Ich komme zu dir.«

»Ich freue mich«, flüsterte ich sehnsuchtsvoll.

»Ich mich auch, Nora, ich liebe dich.« Seine Stimme war weich und warm. Wie meine Lieblingsdecke umhüllte sie mich.

»Ich liebe dich auch.«

Den Sonntag hatte ich damit verbracht, mir noch etwas Genetik in den Kopf zu prügeln. Nun fühlte ich mich, als wäre ich in eine Schlägerei verwickelt worden. Matschig und fertig mit den Nerven. Genetik war schrecklich und ich versuchte, so viel wie möglich stupide auswendig zu lernen. Kurz nach 17 Uhr ließ ich Biologie für heute Biologie sein und entschloss mich, zu kochen. Jans Lieblingsessen. Das hatte ich mir vorgenommen. Ich wollte, dass der heutige Abend perfekt wurde. Also schaltete ich in der Küche das Radio an und begann, Schnitzel zu panieren und anzubraten. Dabei tanzte ich zwischen Herd, Kühlschrank und Esstisch hin und her und summte die Lieder mit, die der Radiosender so spielte. Viele Popsongs aus den Charts. Ich erkannte einen Song von Sia und einen von Maroon 5. Neben den Schnitzeln briet ich in einer anderen Pfanne Speck, Zwiebeln und Bratkartoffeln an. Okay, Schnitzel mit Bratkartoffeln war ein simples und bescheidenes Gericht, aber Jan liebte es. Also war es gut und selbst ich konnte es ohne viele hausfrauliche Talente zubereiten.

Die Nachrichten im Radio berichteten von irgendwelchen Wahlen in Sachsen, einem Lokführerstreik, dem Tod eines berühmten Schauspielers, den ich jedoch nicht kannte, und von weiteren Unruhen in Syrien. Der anschließende Wetterbericht versprach Sonnenschein. Schade eigentlich. Ich würde die nächsten Tage in meiner Wohnung mit Lernen verbringen müssen. Das fiel allerdings um einiges leichter, wenn das Wetter weniger einladend war und man das Haus eh nicht verlassen wollte.

Gerade als ich eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank holte und zwei Weingläser auf den Tisch stellte, hörte ich den Schlüssel in der Tür. Den Schlüssel zu meiner Wohnung hatte ich Jan letztes Weihnachten geschenkt. Und es erfüllte mein Herz jedes Mal mit so viel Glückseligkeit, wenn er meine Wohnung betrat, ganz so, als wäre er hier zu Hause. Und das wollte ich sein. Ich wollte sein Zuhause sein. So wie er meines war.

Jan kam lässig in die Küche gelaufen und strahlte mich an.

»Schnitzel!«

»Eigentlich Nora, aber du darfst mich auch gerne Schnitzel nennen.« Er lachte und umarmte mich.

»Ich habe dich vermisst.«

»Jetzt bist du ja hier. Es gibt dein Lieblingsessen und ich hab einen Film ausgeliehen. Heute machen wir uns einen schönen Abend, ja?«

Er küsste mich zur Bestätigung und hob mich auf die Arbeitsfläche der Küche. Schnell wurden seine Küsse ungestümer und seine Berührungen mutiger. Seine Hände hatten die Gabe, mich innerhalb von Sekunden schier um den Verstand zu bringen.

»Hey «, protestierte ich atemlos und wenig überzeugend. »Das Essen wird kalt.«

»Was ist, wenn ich erst das Dessert möchte«, raunte er mir ins Ohr und küsste danach eine feine Linie von meinem Ohrläppchen beginnend meinen Hals hinab.

»Nix da. Ich koche doch hier nicht stundenlang und dann wird alles kalt.« Ich zog ihn leicht an den Haaren von mir weg und küsste ihn noch einmal abschließend auf die Lippen.

»Jetzt wird erst mal gegessen. Dann hast du auch genügend Energie für die Nacht.« Ich zog anzüglich eine Augenbraue in die Höhe und Jan verstand. Seine Augen leuchteten und sein Gesicht zierte ein unanständiges Grinsen.

Ich goss uns beiden Wein ein. Jan aß mit viel Hunger und lobte meine Kochkunst ungemein. Auch mir schmeckte es sehr und ich schwor mir, öfter für Jan zu kochen. Meistens war er es, der die gemeinsamen Abendessen zubereitete. Er konnte das auch einfach besser, musste ich neidlos zugeben. Aber eigentlich machte es mir Spaß, ihm eine Freude zu bereiten und ein wenig unter die Arme zu greifen. Er hatte ja wirklich genug Stress.

Plötzlich klopfte sich Jan hektisch mit der Faust auf die Brust und räusperte sich. Der Grund blieb mir erst verborgen. Doch dann kramte er sein Handy aus der Hosentasche und schaute genervt auf das Display.

»Verdammt! Ich muss da kurz dran gehen.«

Ich nickte. Er gab mir noch einen schnellen Kuss auf die Wange und verschwand dann mit Handy und einem bedrückten Gesichtsausdruck ins Schlafzimmer. Mich ließ er am Esstisch zurück. Ich starrte auf seinen Teller, der noch zur Hälfte gefüllt war. Jetzt würde sein Essen kalt werden. Er hätte doch weiter essen können. Warum musste er denn gleich den Raum wechseln? Ich würde ihn bei seinem Telefonat schon nicht stören. Oder ging es gar nicht darum?

Verheimlichte er mir etwas?

Als er zurückkam, wirkte er gestresst und fuhr sich gehetzt mit den Fingern durchs Haar. Einige Strähnen fielen ihm daraufhin chaotisch in die Stirn.

»Nora, ich muss noch mal kurz weg.«

Ich schaute ihn mit großen Augen an und sagte nichts.

»Es ist ... ach ...« Er stöhnte und holte bereits seine Jacke aus dem Flur. »Meine Arbeitskollegin. Sie muss morgen zu einem wichtigen Termin und braucht noch ein paar Unterlagen. Sie findet sie nicht und ich habe sie, glaube ich, noch bei mir im Büro. Aber dafür habe nur ich den Schlüssel. Deshalb ...«

Er brach ab, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Keine Ahnung, wie ich ihn anschaute, aber garantiert nicht begeistert. Ich war enttäuscht, genervt und traurig. Ich war wirklich sehr traurig. Aber auch Jan sah nicht wirklich glücklich aus.

»Nora, ich ...«

»Ist schon okay. Spar‘s dir! Ist doch eh immer das Gleiche ...«

Für heute hatte ich genug.

Der Abend war gelaufen.

Ich wollte nichts mehr hören.

Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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