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Verkaterte Tortensicht

»Aufstehen, du Saufnase!«

Ich schreckte auf, fiel aus dem Bett und landete mit dem Hintern voran unsanft auf dem Boden.

»Alter, Nora, wie hast du denn geschlafen?« Sebastian zeigte mir dem Finger auf mich und lachte mich aus.

»Hä?« Ich verstand gerade gar nichts. Sebastian? Hier? Wo war ich? Ach ja ...

»Hast du schräg im Bett gelegen?«

»Was weiß ich«, gab ich müde und genervt zurück und hielt mir meinen schmerzenden Schädel.

»Aspirin liegen schon bereit. Genau wie Kaffee und Croissants. Du musst dich nur aufraffen und zu uns in die Küche kommen.«

Ich stöhnte laut und weinerlich. Aufstehen? Laufen? Essen? Noch was vielleicht? Das war echt zu viel verlangt!

»Ich will nicht.«

»Du musst! Wir haben heute noch einiges vor, also werd jetzt gefälligst schnell fit!«

Daraufhin schlug er die Tür hinter sich zu und brüllte irgendetwas in Hirokis Richtung. Der lag wahrscheinlich auch noch im Bett und fragte sich, womit er das wohl verdient hatte. Tja, selbst schuld. Immerhin würde er Sebastian heiraten und sich das somit freiwillig für den Rest seines Lebens antun.

Boar, war ich verkatert. Das passierte sonst beim Koksen nie. Musste wohl am Alkohol liegen. Oder an der Kombination. Scheiße. Ich erhob mich schwerfällig und mit wackligen Knien und griff nach der Wasserflasche neben meinem Bett. Ich trank sie aus und blieb noch ein paar Minuten sitzen, bevor ich mir sicher sein konnte, dass mein Kreislauf weitere Bewegungen zuließ.

Dann suchte ich mir einige Klamotten zusammen, zog mich an und verließ mein Zimmer. Zum Glück war das Bad frei. Ich betrat es und betrachtete mich im Spiegel.

Fuck.

Ich war blass und meine Haare fielen mir strähnig ins Gesicht. Ich sah aus wie Christiane F. in ihren schlimmsten Zeiten. So konnte ich heute garantiert nicht das Haus verlassen. Nicht mal dieses Badezimmer. Ich sprang unter die Dusche, putzte meine Zähne und versuchte, irgendetwas mit meinen Haaren anzustellen. Am Ende beließ ich es bei einem einfachen Pferdeschwanz. Sogar an etwas Make-Up probierte ich mich mehr schlecht als recht. Dann verließ ich den Raum und ging in die Küche, wo Hiroki und Sebastian schon auf mich warteten.

»Kaffeeeee?«, flötete mir Sebastian entgegen und schwang die Kanne hin und her. Dafür, dass es gerade einmal zehn Uhr morgens war, war er einfach viel zu gut gelaunt. Wenn ich mir Hiroki so anschaute, der mit seinem kompletten Gesicht in der Kaffeetasse verschwunden war, stand ich mit dieser Meinung wohl nicht alleine da.

»Ertränk dich nicht«, flüsterte ich Hiro zu und setzte mich neben ihn auf einen freien Stuhl.

»Ich hab‘s versucht, aber die Tasse ist nicht tief genug.«

Sebastian stellte mir ebenfalls einen Kaffee und ein Glas Wasser auf den Tisch und schob mir auffordernd zwei Aspirin zu.

»Werd fit, das ist ein Befehl!«

Ich nickte. Widerworte wurden wie so oft nicht geduldet.

»Was hast du denn mit mir vor?«, fragte ich irgendwann, nachdem der Kaffee und die Kopfschmerztabletten ihre wohltuende Wirkung entfaltet hatten.

»Wir gehen gleich Hochzeitstorten probieren. Ja, du auch, Schatz.« Hiro seufzte und startete dann einen neuen Versuch, sich in seinem Kaffee zu ertränken oder ein Portal in eine andere Dimension zu finden. Dem musste wohl schon eine längere Diskussion vorangegangen sein, bevor ich aufgetaucht war.

Zwei Stunden später betrat ein gut gelaunter und euphorischer Sebastian mit zwei lebenden Leichen eine Konditorei.

»Wir haben einen Termin«, sagte Sebastian zu einer lächelnden Dame, die uns in einem Raum führte, in dem wir vom Chefkonditor bereits persönlich erwartet wurden.

»Hallo, Sebastian Wagner, wir hatten telefoniert.« Sebastian reichte dem Konditor die Hand. »Das ist mein Zukünftiger, Hiroki Kuhn. Und meine Trauzeugin, Nora Krüger.«

Der Konditor, der sich schlichtweg als Jürgen vorstellte, schüttelte allen die Hand und schaute fragend in die Runde.

»Sollen wir anfangen? Kann ich Ihnen vielleicht zuerst einen Kaffee anbieten?«

»Wir erwarten noch jemanden. Zum Kaffee sagen wir nicht nein, aber wir beginnen erst, wenn der letzte Gast eingetroffen ist.«

Der letzte Gast?

Schon wieder flackerte Panik in mir auf. Nicht er. Nicht jetzt, wo ich verkatert und gänzlich unvorbereitet war. Außerdem sah ich scheiße aus. Er sollte mich so nicht sehen. Nicht so dermaßen am Ende.

»Hallo Leute, hier bin ich.«

Eine weibliche Stimme, die mir mehr als bekannt vorkam, hallte durch den Raum. Ich hörte Schritte, die sich uns näherten, und traute mich nicht, mich umzudrehen. Ich zitterte und hatte das starke Bedürfnis zu fliehen. Einfach ganz schnell wegzulaufen.

Ich dachte, ich könnte es. Es war so viel Zeit vergangen ... So verdammt viel Zeit, aber es änderte nichts. Das alles war zu viel für mich.

»Nora?«

Ich drehte meinen Kopf zögerlich nach links und sah direkt in die schockgeweiteten Augen von Bianca. Ich hatte sie vier Jahre lang nicht gesehen. Beim letzten Mal hatte sich Fernanda zwischen uns geschoben. Fernanda, die nun mit Jan zusammen war.

»Oh Gott, Nora!« Bianca fiel mir in die Arme und begann zu schluchzen. Ich stand stocksteif da und schaute Sebastian entsetzt an. Weinte sie? Sie weinte doch nicht etwa wegen mir? Ich begann, langsam panisch zu werden, was unter anderem an meiner kompletten Überforderung lag. Erst nachdem ich die Blicke von Sebastian und Hiro bemerkte, die aufmunternd und freundlich waren, legten sich auch meine Arme um die zierliche Gestalt, deren ganzer Körper vom Weinen bebte. Sie ging einen Schritt zurück, wischte sich noch einige vereinzelte Tränen aus den Augenwinkeln und lachte mich an. Ich hatte ihr Lächeln vermisst. Wir hatten uns vier Jahre nicht gesehen und, Gott ... Diese Frau hatte mir gefehlt. Vor allem in der Anfangszeit.

Nach dem wenig erfreulichen Zusammentreffen zwischen Fernanda und mir hatte ich nicht sofort aufgegeben. Ich hatte versucht, über Sebastian und Bianca an Jan ranzukommen, da dieser es tunlichst vermied, an sein Handy zu gehen oder auf Nachrichten zu antworten. Aber irgendwann sah ich ein, dass es zu spät war. Jan würde mir nicht verzeihen. Es würde nicht alles wieder gut werden. Also ging ich. Ich startete den hoffnungslosen Versuch, neu zu beginnen.

Und doch war ich wieder zurückgekommen.

»Oh Gott, Nora, du bist hier.« Bianca schaute vorwurfsvoll zu ihrem jüngsten Sohn und schlug ihm hart auf den Oberarm. »Du hättest mich ruhig vorwarnen können.«

»Ich wollte dich überraschen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich einen Nervenzusammenbruch bekommen würdest.« Nun lachten wir alle, wenn auch noch etwas verlegen und zurückhaltend. Außer Sebastian, dessen schallendes Organ alle übertönte.

»Mensch Nora, auf der Straße hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht erkannt. So schlank und deine Haare ...«

»Das war auch das Erste, was ich ihr am Bahnhof gesagt habe. Wahnsinn, oder?« Ich rollte mit den Augen. War der Unterschied wirklich so krass? Das war mir gar nicht so aufgefallen. Es war ja keine beabsichtigte Veränderung. Okay, ich hatte tatsächlich weniger gegessen. Hatte ganz einfach keinen großen Appetit mehr gehabt. Und beim Friseur war ich auch schon Ewigkeiten nicht mehr gewesen. Aber für solchen Luxus hatte ich ja auch nie Geld.

Bevor ich etwas entgegnen konnte, kehrte der Konditor mit einem Tablett mit fünf Tassen Kaffee sowie einer Kanne Milch und einer kleinen Zuckerdose zurück.

»Ah, wie ich sehe, sind wir vollzählig. Dann hole ich mal die Torten.«

Daraufhin folgten zwei sehr kalorienreiche Stunden. Jürgen zeigte uns diverse Fotoalben mit kunstvoll verzierten Torten in allen Größen und Formen. Riesige Herzen, kleine Herzen, Blumen, Fußbälle und sogar Katzen. Was sich manche Leute als Hochzeitstorte wünschten, war teilweise schon sehr eigen.

Dazu probierten wir Erdbeertorte, Schokotorte, etwas, das nach Karamell schmeckte, viel zu viel Buttercreme und noch so einiges anderes, sodass ich die süßen Speisen am Ende gar nicht mehr auseinanderhalten konnte. Sebastian diskutierte mit Bianca über die verschiedenen Sorten, Farben und Formen. Hiro nickte ab und an bestätigend. Er hatte die Planung wohl des Hausfriedens wegen hauptsächlich an Sebastian übergeben. Ich grinste in mich hinein. Sebastian hatte den perfekten Partner für sich gefunden. Einen hübschen Kerl, der im richtigen Moment Kontra gab und die restliche Zeit über Sebastians Meinung war.

Vielleicht würde ich ja auch irgendwann wieder einen Partner haben. Jemanden, der zu mir passte. Der meine Macken akzeptierte. Der mir wieder einen Lebenssinn geben konnte. Der mich liebte und den ich lieben konnte. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, denn ich hatte in den letzten Jahren bemerkt, dass ich es nicht mehr konnte. Ich hatte das Lieben verlernt. Ich hatte ganz einfach vergessen, wie es funktionierte und sich anfühlte. Das war schon irgendwie traurig.

Vor der Konditorei verabschiedeten wir uns von Bianca, die in eine andere Richtung musste. Sebastian bedankte sich tausend Mal bei seiner Mutter für den Beistand und betonte dabei auch immer wieder, dass er ohne ihre Hilfe völlig aufgeschmissen gewesen wäre.

»Nora scheint das Essen aufgegeben zu haben und mein Mann ist in sowas auch nicht gerade die beste Beratung, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.« Er zwinkerte seine Mutter verschwörerisch zu, drehte sich dann aber sofort zu Hiro, um ihm einen beschwichtigenden Kuss auf die Wange zu hauchen.

»Ich liebe dich trotzdem«, flüsterte er ihm ganz leise zu. Dennoch konnte ich es hören und wurde rot. Warum eigentlich? Die beiden machten mich verlegen. Ich trat ein paar kleine Steinchen vor mir her und hatte die Hände verschämt in den Hosentaschen vergraben.

»Nora?« Ich schaute auf zu Bianca und lächelte sie an. »Es war so schön, dich wieder zu sehen.«

»Ja«, gab ich kleinlaut zurück. Ich hatte mich auch gefreut, obwohl etwas anderes überwog. Der Schmerz. Bianca war wie eine Mutter für mich gewesen. Eine Konstante in meinem Leben. Eine ganz wichtige Bezugsperson. Ich hatte vor vier Jahren nicht nur Jan verloren, meine große Liebe, sondern auch sie. Bianca kam auf mich zu und nahm mich in die Arme. Ganz fest. Ich genoss es und atmete tief ein. Sie roch immer noch wie früher. Nach Weichspüler, Shampoo und ein wenig nach Zimt-Duftkerzen. Es war so vertraut ... Wie sehr ich ihre Umarmungen in den vergangenen Monaten und Jahren gebraucht hätte.

»Du hast gefehlt. Zum Glück bist du wieder da«, flüsterte sie mir ins Ohr und schaffte es so, dass mein Herz zu rasen begann.

Ich hatte gefehlt? Wem? Ihr? Oder womöglich doch ihm? Nein, bleib bloß weg, Hoffnung! Ich brauche dich nicht! Du machst alles nur noch schlimmer.

Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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