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Schule ist durch

»Sag mal, was machen wir eigentlich noch hier?«

Müde schaute ich meine Sitznachbarin Lina an und zuckte nur resignierend mit den Schultern. Es erforderte schon eine Menge Selbstbeherrschung, die Lider nicht einfach zu schließen. Jedes Zwinkern dauerte jetzt schon länger als normal. Wenn es nicht bald klingelte, würde ich dem Drang nachgeben müssen.

In den nächsten Wochen standen unsere Abiturarbeiten an. Die meisten Lehrer sahen es daher wohl nicht ein, den Unterricht noch auf irgendeine Art und Weise interessant zu gestalten. Oder, wie im Falle unseres Mathelehrers Herrn Jonas, überhaupt zu unterrichten. Der saß nämlich entspannt auf seinem Stuhl, hatte die Füße auf dem Pult geparkt, und las seit geschlagenen 20 Minuten die Lokalausgabe der hiesigen Zeitung. Stillarbeit nannte er das. Leider hatte er vergessen, uns die dazugehörige Aufgabe zu geben. Daher begnügten sich die meisten damit, ihren Facebookstatus zu checken, den Highscore eines Handyspielchens zu knacken oder sich einfach mit dem Tischnachbarn zu unterhalten. Lina kramte nun sogar ein Buch aus ihrem Rucksack. Nicht etwa ein Mathebuch. Nein. Ich schaute auf das Cover. Verstummt von Karin Slaughter.

»Ist das dein Ernst?«, flüsterte ich ihr hinter vorgehaltener Hand zu. »Meinst du nicht, das wird er merken?« Ich zeigte auf Herrn Jonas, der gerade geräuschvoll umblätterte und einige Mitschüler durch das laute Rascheln aufschrecken ließ. Die waren dann wohl wieder wach.

»Nora, das ist dem scheißegal!«, zischte Lina genervt. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ich legte den Kopf wieder auf meine verschränkten Arme und schloss die Augen. Was soll‘s. Nun beneidete ich Lina um ihren Thriller. Sie hatte dadurch wenigstens ein wenig Beschäftigung.

Die Sache hier war eindeutig durch.

Schule war durch.

Ich konnte es noch gar nicht so recht glauben. Nach knapp 13 Jahren sollte alles vorbei sein. Einfach so? Eigentlich ging mir das, wenn ich ehrlich sein sollte, etwas zu schnell. Ich wusste doch noch gar nicht, was ich danach machen wollte. Was die Zukunft bringen mochte? Einen richtigen Plan hatte ich nicht.

Plötzlich traf mich etwas am Hinterkopf. Ich schaute hinter mich und sah einen zerknüllten Papierklumpen auf dem Boden. Ich hob ihn auf, legte ihn vor mich auf den Tisch und faltete ihn auseinander. Dann fuhr ich den kleinen viereckigen Zettel mit den Fingern glatt und las die paar Zeilen.

»Abi-Party-Komitee - bist du dabei?« stand in krakeliger Schrift mit Bleistift darauf geschrieben. Ich drehte mich um und sah in die hoffnungsvollen Augen von Pablo, der zwei Reihen hinter mir saß und die Hände wie zum Gebet aneinandergelegt hatte. Er formte ein tonloses »Bitte« mit seinen Lippen.

»Meinetwegen«, schrieb ich auf die Rückseite des Zettels, faltete ihn zu einem Flieger und warf ihn zurück. Er las den Brief und gab mir dann einen Daumen nach oben. Jeden Tag eine gute Tat. Das war wohl meine für heute.

Als es endlich klingelte, erhob ich mich und ließ dabei jeden Wirbel meiner Wirbelsäule knacken. Nur noch wenige Tage, dann wäre das hier alles vorbei. Würde ich es vermissen? Das sagt man doch immer. Nach der Schule würde alles schwieriger werden. Nie mehr wäre das Leben so einfach wie in diesem Alter, deshalb solle man die Schulzeit ja auch genießen. Ich für meinen Teil konnte sagen, dass es mir tatsächlich momentan gut ging. Alles war geregelt und ich war zufrieden. Das war in der Vergangenheit auch schon anders gewesen. Vielleicht konnte ich sogar zum ersten Mal in meinem Leben wirklich behaupten, glücklich zu sein.

Pablo kam zu mir nach vorne gerannt und boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter.

»Cool, dass du mitmachst!«

»Soll ja auch gut werden«, grinste ich ihn frech an. Er lächelte zurück.

»Wir treffen uns übermorgen nach der dritten Stunde. Die meisten haben die Vierte und Fünfte eh frei und die anderen meinten, dass es nicht auffällt, wenn sie im Unterricht fehlen.« Ich schielte zu Herrn Jonas, der die Zeitung zusammenfaltete und in seine Aktentasche stopfte.

»Dem würde es garantiert nicht auffallen. Vielleicht schwänze ich vorm Abi noch ein paar Mal. Habe ich immerhin noch nie gemacht.«

»Klar. Warum nicht? Was soll schon passieren? Sag Bescheid, dann gehen wir stattdessen einfach ‘nen Kaffee trinken.« Er grinste und boxte mir wieder gegen die Schulter. Exakt die gleiche Stelle. Das war echt eine scheiß Angewohnheit von ihm. Ich würde bestimmt einen blauen Fleck bekommen.

»Dann sehen wir uns ja spätestens beim Abi-Party-Treffen.«

»Genau.«

Ich winkte ihm noch mal zum Abschied zu und verließ den Klassensaal und das Schulgebäude. Um mich herum tummelten sich rauchende Oberstufenschüler, ein knutschendes Pärchen, eine laut und hysterisch lachende Gruppe von Mädchen und einige wartende Eltern. Aber auch auf mich wurde ausnahmsweise mal gewartet. Etwas weiter hinten stand ein kleiner, alter, knallroter VW Golf und an der Fahrertür lehnte Jan.

Mein Jan.

Er sah mich und hob grüßend die rechte Hand. Bei seinem Anblick konnte ich einen Seufzer nicht unterdrücken. Verdammt, sah der heute wieder gut aus. Kriminell gut. Sein volles, braunes Haar war wild gestylt und er trug eine blaue Jeans sowie passend dazu einen dunkelblauen Hoodie. Er war also nach der Arbeit noch mal zu Hause gewesen. Meist ging er in Hemd und Sakko ins Büro. Aber der lässige Jan gefiel mir um einiges besser. Ich rannte die wenigen Meter zu ihm und fiel ihm um den Hals.

»Du siehst gut aus«, nuschelte ich in sein Haar.

»Danke, du auch. Immer.« Ich grinste und dann küssten wir uns.

»Nehmt euch ein Zimmer!« Einige meiner Klassenkameraden verließen soeben das Gebäude und pfiffen und johlten uns zu. Ich lief sofort rot an.

»Sind doch alle nur neidisch«, flüsterte mir Jan mit dunkler, verführerischer Stimme ins Ohr. Ich erschauderte. »Sollen sie ruhig sehen, wie glücklich wir sind.«

»Charmeur!«, gab ich etwas beschämt zurück und kniff ihm in die Wange. Er lachte daraufhin schallend.

»Ist doch wahr!«

Wir fuhren zu Jan nach Hause. Er wohnte mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder Sebastian zusammen. Der Vater der beiden war irgendwann abgehauen. Jan hatte mir nie viel darüber erzählt. Das war wohl ein Abschnitt seines Lebens, an den er nicht allzu gerne zurückdachte. Angeblich gab es damals ein großes Drama und es entbrannte ein hässlicher Rosenkrieg. Meines Wissens war das Ergebnis ein Nervenzusammenbruch seiner Mutter und eine blonde, dralle Mittzwanzigerin, mit der sein Vater in eine andere Stadt gezogen war. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr zu ihm. Jan ließ es sich selten anmerken, wie sehr ihn die Ablehnung seines Vaters verletzt hatte. Sebastian war da sensibler und konnte es, im Gegensatz zu Jan, nicht verbergen. Gerade in der Anfangszeit hatte er sehr unter der Trennung gelitten. Sie waren ja beide gerade so Teenageralter gewesen. Da hatte man eigentlich genug Probleme mit sich selbst und konnte auf so ein Drama gut und gerne verzichten. Momentan war das Thema Vater ein rotes Tuch. Es wurde totgeschwiegen. Ich hielt mich natürlich an diese stumm getroffene Abmachung.

Jan öffnete die Eingangstür. Alles war still und dunkel.

»Wohl keiner da.«

Er schaltete das Licht an und ich folgte ihm in die Küche. Dort setzte ich mich erst mal an den Esstisch und atmete tief durch.

»Müde?«, fragte er.

»Es geht. Ein wenig.«

»War es so anstrengend heute? Stressige Lehrer?« Jan schaute in den Kühlschrank und beförderte nacheinander Paprika, Tomaten und noch einige andere Zutaten auf die Küchentheke.

»Nö, das ist ja gerade das Problem. Langweilig ohne Ende. Und bei dir so? Hattest du früher Feierabend?«

»Ja, ausnahmsweise. Dafür stehen morgen wieder Überstunden an.«

Ich verdrehte die Augen. Jan machte so gut wie immer Überstunden. Und am Wochenende musste er auch oft ran. Ziemlich ungerecht. Aber was sollte man tun? Jan war nun mal einige Jahre älter als ich und arbeitete dementsprechend schon in einem richtigen Job.

Nach dem Abi hatte er Englisch und Marketing studiert. Und nun machte er eine Ausbildung in einer PR-Agentur. Er rackerte sich ab und hoffte so, im nächsten Jahr übernommen zu werden. Es gab noch zwei andere Azubis und nur einer von ihnen würde nach der Lehre weiter in der Agentur beschäftigt werden. Die Langeweile, über die ich mich beschwerte, würde er gerne haben.

Ich verstand voll und ganz, warum er sich so abmühte und in seine Arbeit reinhängte, sich Tag für Tag von seiner besten Seite zeigte. Aber manchmal war es zu viel. Manchmal vermisste ich ihn einfach.

Jan riss mich aus meinen Überlegungen, indem er ein Schneidebrett und diverse Gemüsesorten vor mir abstellte.

»Du schnippelst.« Er zwinkerte mir zu und ging dann an den Herd, um Wasser aufzusetzen. Ich würfelte Karotten, Zwiebeln, Zucchini, Paprika und Tomaten und brachte alles zu ihm hinüber. Er warf das Sammelsurium an buntem Gemüse in eine große Pfanne. Ich schaute ihm dabei zu, wie er alles würzte und, nachdem das Gemüse etwas angebraten war, noch reichlich Reis dazugab. Gekonnt schwenkte er die Pfanne und streute anschließend noch eine Menge Curry darüber. Es duftete unglaublich lecker. Ich stelle mich hinter ihn und umfasste seinen Bauch. Ich spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, und musste lachen.

»Hast du gerade den Bauch eingezogen?« Schon ziemlich lustig. Immerhin waren wir jetzt schon eine Weile zusammen, ganze zwei Jahre, und ich kannte jeden Zentimeter seines Körpers in- und auswendig.

»Nein, nein«, winkte er verlegen ab. Er drehte sich zu mir um, umarmte mich lachend und küsste mich innig. Und wie er küssen konnte! Darin war er unschlagbar.

Ich liebte ihn so sehr.

»Sag mal, hast du eigentlich das Geschenk für Mum besorgen können?«, fragte er, nachdem er die Lippen von meinen gelöst hatte.

»Dass du in so einem Moment an deine Mutter denkst …«, gab ich zurück und zog einen beleidigten Schmollmund.

»Ist mir nur gerade so eingefallen. Hast du?«

»Ja, einen Krimi und ein Pflänzchen. Ich packe zu Hause noch alles schön ein und bringe es dann mit.«

»Abendessen gibt’s morgen um 18 Uhr. Okay? Soll ich dich abholen?«

»Nein, schon okay. Du musst doch wahrscheinlich eh länger arbeiten. Ich komme einfach mit dem Bus.«

»Okay«, flüsterte er und küsste mich noch mal keusch, fast schon schüchtern, auf die Lippen. »Und jetzt lass uns essen!«

Das wurde aber auch Zeit. Ich hatte einen Mordshunger.

Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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