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Misstrauen

Natürlich hatte ich die Nacht bei Jan verbracht. Wir waren immerhin schon über zwei Jahre zusammen und er hatte ein geräumiges, eigenes Zimmer mit einem breiten, gemütlichen Bett. Auch seine Familie hatte sich mittlerweile an meine Anwesenheit gewöhnt. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ich hier blieb. Ich war immer herzlich willkommen, pflegte Bianca, Jans Mama, stets zu sagen. Sie betrachteten mich alle als Teil der Familie.

Jan weckte mich, und noch bevor ich ihn sah, roch ich Duschgel und sein Aftershave.

»Nora, Süße, ich hau ab.« Ich öffnete müde die Lider und schaute mich verwirrt um. »Es ist sieben Uhr, du musst auch aufstehen. Ich habe Kaffee gekocht.«

Nun stellten sich so langsam meine Augen scharf und ich blickte in die leuchtend grün-braunen Augen meines Freundes. Ich streckte meine Arme nach ihm aus und zog ihn zu mir hinunter.

»Geh noch nicht!«, murmelte ich verschlafen. Jan streichelte mir über die Wange und lächelte mich an.

»Ich muss leider. Am Wochenende schlafen wir gemeinsam aus, okay?« Dann zwinkerte er mir anzüglich zu. »Heute Abend 18 Uhr, ja?«

»Klar«, gähnte ich und streckte mich genüsslich dabei.

Einen Augenblick später stand ich schließlich auf und trottete ins Bad. Dann hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich bemühte mich, leise zu sein. Bianca schlief garantiert noch. An ihrem Geburtstag hatte sie sich freigenommen und würde wohl später den Rest des Tages damit verbringen, das Abendessen vorzubereiten. Ich grinste. Bianca war klasse. Ich mochte sie sehr. Überhaupt liebte ich Jans komplette Familie.

Um niemanden im Haus zu wecken, wusch ich mich schnell und leise, putzte mir die Zähne und zog mich an. Da ich öfter bei Jan übernachtete, hatte ich mittlerweile zwei Schubladen in seinem Kleiderschrank, die ich mit Kleidung und Kosmetikartikeln gefüllt hatte. Fast schon so wie bei einem Ehepaar. Dieser Gedanke ließ mein Lächeln noch breiter werden. Ich liebte diesen Kerl einfach. Ich konnte mein Glück meistens nicht fassen. Vielleicht auch, weil ich lange auf dieses Glück hatte warten müssen.

Der Schultag war langweilig wie eh und je. Und ich machte die Ankündigung von gestern tatsächlich wahr. Ich schwänzte zum ersten Mal. Zwar nur die letzten beiden Stunden Sport, aber trotzdem war es das Aufregendste des ganzen Tages. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher. Auf meinem Weg nach Hause, zu illegal früher Stunde, war ich total hibbelig und mit Adrenalin vollgepumpt. Jan würde mich garantiert auslachen, wenn ich ihm das erzählte. Er hatte ab der 9. Klasse immer mal wieder blaugemacht und heimlich hinter dem Schulgebäude geraucht, wie er mir einmal vor kurzer Zeit stolz berichtet hatte. Böser Bube.

Ich schloss die Tür zu meiner kleinen Einzimmerwohnung auf und warf meine Tasche, ohne sie weiter zu beachten, in die Ecke. Hier sah es ziemlich wüst aus. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich bis zum gemeinsamen Abendessen bei Bianca noch ganze fünf Stunden Zeit hatte.

Zwar kam Torsten, mein Sozialarbeiter, nie unangemeldet vorbei und in den letzten Monaten eh nur noch sporadisch, aber ich musste mein Glück nicht unnötig herausfordern.

Ich krempelte die Ärmel hoch und begann, Kleider vom Boden aufzusammeln. Ich warf alles in die Waschmaschine im Badezimmer und spülte danach das dreckige Geschirr. Ich trocknete die Teller, Tassen und zwei Töpfe ab und räumte alles in den dafür vorgesehenen Schrank. Um das Ganze noch perfekt zu machen, schnappte ich mir den Staubsauger und saugte meine übersichtlichen 35 Quadratmeter sorgfältig durch.

So. Fertig.

Jetzt konnte ich mich um mich kümmern. Ich sprang unter die Dusche und gönnte mir eine duftende Haarkur, da ich heute hübsch aussehen wollte. Meine braunen, kinnlangen Haare sollten glänzen. Während die Kur auf meinem Kopf einwirkte, rasierte ich meine Beine und in weiser Voraussicht auch noch gleich den Rest meines Körpers. Vielleicht würde ich auch heute die Nacht wieder mit Jan verbringen. Frisch geduscht cremte ich mich mit einer blumigen Lotion ein und legte etwas Wimperntusche auf. Einige weitere Minuten später stand ich mit Jeans und einer Bluse bekleidet vor dem Spiegel. Fertig. Ich gefiel mir. Ich sah zwar ziemlich brav aus, aber das war ja auf dem Geburtstag der zukünftigen Schwiegermutter auch nicht verkehrt. Als sich das Wort Schwiegermutter in meinem Kopf formte, musste ich schon wieder grinsen. Es war einfach immer noch ein berauschend schönes Gefühl für mich. Dazuzugehören. Ich hatte ja nie eine eigene Familie gehabt.

Ich nahm das Buch, das ich für Bianca gekauft hatte, zur Hand. Einen Thriller vom dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen, dessen Bücher schon lange zu meinen liebsten gehörten. Ich verpackte es in hellblaues Geschenkpapier, auf dem viele bunte Geburtstagstorten abgebildet waren. Zwar etwas kindisch, aber den Kontrast zum blutrünstigen Thriller darin fand ich lustig. Dann schnappte ich mir noch die Orchidee, die ich zusätzlich besorgt hatte, und machte mich auf den Weg zu Biancas Geburtstagsfeier.

Knapp 25 Minuten später klingelte ich an der Eingangstür, die prompt von einem aufgeregten Sebastian geöffnet wurde. Sofort riss er mich in seine Arme.

»Nora, ey, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«

»Höchstens zwei Wochen«, gab ich etwas verlegen zurück.

»Viel zu lange, sag ich doch!« Ich liebte Sebastian. Er war Jans Bruder und mein bester Freund. Und irgendwie vielleicht sogar so etwas wie mein Bruder. Bruder im Herzen oder so. Und er mochte mich mindestens so sehr wie ich ihn. Er vertraute mir, und wenn es ihm schlecht ging, meldete er sich immer zuerst bei mir.

So war ich auch die Erste, der er beichtete, homosexuell zu sein. Er hatte wirklich mit sich gerungen und schreckliche Angst vor meiner Reaktion gehabt. Das hatte mich schon fast wütend gemacht. Als hätte ich ihm jemals nicht beigestanden. Mit mir an seiner Seite hatte er es dann auch Jan erzählt. Dieser war anfangs etwas überrascht, hatte den sichtlich eingeschüchterten Sebastian dann aber aufmunternd in die Arme genommen. Nichts würde seine Meinung über ihn ändern, hatte er ihm zugesichert. Obwohl Sebastian mit unserer Reaktion zufrieden sein konnte, hatte er sich bis heute noch nicht überwinden können, sich vor seiner Mutter zu outen. Ich war mir sicher, dass Bianca es gut aufnehmen würde, und wahrscheinlich ahnte sie es sowieso schon. Eine Mutter hatte da doch so etwas wie einen sechsten Sinn. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur noch ein wenig mehr Zeit. Es war ja seine Sache.

Sebastian grinste wie ein Honigkuchenpferd, nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer hinein.

Dort saßen bereits zwei Freundinnen von Bianca, die ich schon zuvor irgendwann gesehen hatte. Bianca selbst saß zwischen ihnen und vor einem großen Kuchen, auf dem fünf Kerzen brannten. Als sie mich erblickte, stand sie auf, lächelte und lief mir entgegen.

»Alles Gute zum Geburtstag, Bianca.« Ich schlang meine Arme um sie und sie erwiderte meine Umarmung. Genießerisch zog ich den Duft ihres Parfüms ein.

»Danke, Schätzchen.« Ich löste mich von ihr und überreichte ihr die Orchidee und das kleine Päckchen.

»Von Jan und mir. Wo ist er eigentlich?« Ich schaute mich im Raum um, sah ihn aber nicht.

»Der müsste auch gleich kommen. Überstunden, du kennst das ja.« Ich rollte mit den Augen. Typisch.

In dem Moment hörte ich den Schlüssel in der Tür und ein abgehetzter Jan stürmte in die Wohnung.

»Sorry, da bin ich.« Er lief direkt zu Bianca und umarmte sie. »Alles, alles Liebe und Gute!«

»Ich habe ihr unser Geschenk gerade gegeben«, sagte ich und gab ihm einen Begrüßungskuss.

»Na, dann kann die Party ja beginnen!«

Während Jan mit Sebastian den Tisch deckte und das von Bianca gekochte Abendessen herrichtete, packte das Geburtstagskind Geschenke aus.

»Danke für das Buch. Ein Thriller, uuuh!« Sie hob entsetzt die Hände und zwinkerte mir dann zu. »Auf eure Buchtipps kann ich mich immer verlassen. Der Roman, den ihr mir zu Weihnachten geschenkt habt, war mehr als genial. Ich habe ihn allen meinen Freundinnen weiterempfohlen. Vielen Dank.« Sie umarmte mich noch einmal und warf Jan einen Kuss zu. Dieser hatte aber gerade einen großen Topf voll Nudeln in der Hand und rief ihr daher nur ein kurzes »Gern geschehen!« zu.

Ein wohliges Schmatzen und Klappern von Besteck erfüllte den Raum. Wir unterhielten uns und die Stimmung war sehr ausgelassen und familiär. Ich genoss es, hier zu sein. Das hier waren Erfahrungen, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machte. Gemeinsame Geburtstagsfeiern waren mir, bevor ich Jan kennengelernt hatte, völlig fremd gewesen. Die verschiedenen Stationen in Pflegefamilien sah ich nicht als Familie an. Mehr als kurze Aufenthalte in wechselnden Herbergen. Na ja, das Glück war eben nie ganz auf meiner Seite gewesen. Bis jetzt.

Als meine Mutter starb, war ich gerade mal acht Jahre alt. Aber schon davor war es alles andere als einfach bei uns zu Hause. Durch ihre Drogensucht war ich immer schon herumgereicht worden. Mal war ich bei Freunden der Familie untergebracht, mal bei Nachbarn. Auch an einen kurzen Aufenthalt im Heim konnte ich mich dunkel erinnern.

Nach ihrem Tod war ich in vier verschiedenen Pflegefamilien, bevor mir endlich erlaubt wurde, alleine zu leben. Ich hatte das ständige Hin und Her einfach satt. Zum Glück war mein Amtsvormund damit einverstanden gewesen. Er hielt mich für zuverlässig und vernünftig. Womit er natürlich auch recht hatte. Einerseits war ich froh, endlich alleine zu leben. Mein Zimmer nicht mehr teilen zu müssen und mein eigenes Reich für mich zu haben. Andererseits genoss ich es auch, hier bei Jans Familie sein zu dürfen. Das machte mich glücklich.

Plötzlich hörte ich ein Vibrieren und fasste automatisch an meine Hosentasche. Das war wie bei diesem pawlowschen Hund. In Sachen Handynutzung waren wir doch alle schon konditioniert ohne Ende. Allerdings war es nicht mein Handy, das brummende Laute von sich gab. Jan erhob sich mit vollem Mund von seinem Stuhl und murmelte: »Bin gleich wieder da ...«

Ich hörte noch ein »Was ist, Fernanda? Wir sind gerade beim Essen«, dann schloss er die Tür hinter sich und es wurde ruhig.

Wir schauten ihm hinterher und widmeten uns dann wieder unseren Tellern.

»Das stört dich nicht?« Bianca schob sich eine Nudel in den Mund und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Dass er immerzu arbeitet? Na ja, man gewöhnt sich daran«, gab ich etwas genervt zurück und zuckte mit den Achseln.

»Ich meinte eher, dass er in einen anderen Raum geht, um mit einer Frau zu telefonieren ...«

Ich hielt kurz in meiner Bewegung inne. Klar fand ich das nicht toll, aber allzu sehr hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. War das ein Fehler?

»Eigentlich nicht. Ist ja eh nur geschäftlich.« Das hoffte ich zumindest. Bei ihm war ja, seit er in der Agentur arbeitete, immer alles geschäftlich.

»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.«

Was war denn das für ein doofer Kommentar? Da blieb mir doch fast das Essen im Halse stecken. Ich wusste, dass ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen hatte. Aber sie konnte das doch nicht mit meinem Jan vergleichen. Jan hatte das ganze Drama doch hautnah miterlebt. Fremdgehen war seitdem für ihn das absolute Tabu. Ein rotes Tuch. Ein No-Go. Er konnte nicht mal Filme ertragen, in denen fremdgegangen wurde. Nicht selten war das der Moment, in dem er die Fernbedienung ergriff, um kopfschüttelnd und wutschnaubend umzuschalten. Beim Film Eiskalte Engel hatte er zwischendurch fast einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sex and the City mochte er schon gar nicht mehr mit mir schauen. Er ärgerte sich einfach jedes Mal viel zu sehr, wenn Carrie und ihre Freundinnen wieder einmal betrogen wurden oder selbst fremdgingen. Nein. Jan war nicht so wie sein Vater. Nie und nimmer.

Ich schüttelte den Kopf und lächelte Bianca an. Sie meinte es nicht so. Vielmehr spürte ich, dass sie immer noch verletzt war und die Trennung bis heute nicht ganz verkraftet hatte. Aber wer konnte ihr das übel nehmen? Die große Liebe zu verlieren, ist immer tragisch.

Wie schlimm, konnte ich nur erahnen.

»Ich vertraue Jan«, gab ich selbstsicher zurück.

Sie nickte.

Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband

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