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8 - Leonyds Tochter
ОглавлениеEinhundert Jahre nachdem die Rettungskapseln auf der Oberfläche von Aquitan gelandet waren, erinnerten nur noch der monumental wirkende, allen äußeren Einflüssen trotzende Dom und der unlösbar in seinem Fundament verankerte Globus daran, dass die Yden von einem anderen, hoch zivilisierten Planeten stammten. Maschinen gab es nicht. Stattdessen wurde alles per Hand oder mithilfe primitiver Hilfsvorrichtungen gemacht. Allein ein paar friedliche Grasfresser waren mittlerweile gezähmt und dazu gebracht worden, schwere Lasten oder Reiter von einem Ort zum nächsten zu transportieren. Als Gegenleistung wurden sie vor den Raubtieren beschützt.
Entsprechend Ryes Anweisungen bestand das einzige aus Stein erbaute Gebäude aus mehreren Räumen, deren Wände so dick waren, dass der jeweilige Eingangsbereich wie ein Tunnel anmutete. Die Klause, also das Zentrum des Bauwerkes, das keine Fenster, sondern nur eine gut gesicherte Tür besaß, brauchte keine externe Lichtquelle, denn die Neulinge, die sich mittlerweile im Globus tummelten, glichen während ihrer Wach- und Lernphase strahlenden Sternen, sodass der Raum dann meist taghell war. Die rund um die Klause angeordneten Bibliotheken, die je nach Fachrichtung mehr oder weniger umfangreich mit Schriftrollen und handgeschriebenen Büchern bestückt waren, wiesen jeweils drei große Lichtschächte auf, die man mit dickem und zudem bruchsicheren Glas versehen hatte. Allein ein Raum war den Magistra vorbehalten, denn sie verrichteten ihre Dienste meist zu zweit und über mehrere Wochen hinweg, um hinterher eine längere Erholungspause einzulegen.
Das Yden-Volk, welches ehedem in verschiedenen Siedlungen nahe dem Dyonaten-Sitz gelebt hatte, verteilten sich mittlerweile auf hunderte Dörfer, die in einer mehr oder weniger großen Entfernung verteilt waren. Diese Ortschaften wiesen in der Regel nur wenige Behausungen auf und befanden sich meist an besonders geschützten Orten, damit sie nicht von den riesigen Geschöpfen Aquitans niedergetrampelt wurden. Sie ließen jedoch allesamt die zum Himmel strebende Pracht städtischer Straßenzüge vermissen, die auf Eotan sofort ins Auge gefallen war. Zum einen sah man überhaupt keinen Sinn darin, größer zu bauen, als unbedingt nötig, weil man ohnehin die meiste Zeit im Freien verbrachte. Und zum anderen hätte man für die Wohntürme nicht nur entsprechend viel Baumaterial, sondern auch technische Hilfsmittel haben müssen, um die oberen Etagen schnell und relativ mühelos erreichen zu können. Ihre Wohnhäuser bestanden daher aus Steinfundamenten und Holz.
Allein der u-förmig angelegte Dyonaten-Sitz, den man unweit des Doms errichtet hatte, war größer als alle anderen Wohnstätten, weil er verschiedene Funktionsbereiche umfasste. Zum einen war da im rechten Flügel der Versammlungssaal, in dem sich Leonyd regelmäßig mit den Sippenanführern zusammensetzte, um über wichtige Entscheidungen zu beraten. Darüber hinaus standen dort mehrere Schlafräume für Besucher zur Verfügung, die sich nach einer langen Anreise erst einmal erholen mussten. Im mittleren Gebäudeteil, der wesentlich kleiner war, wohnte Leonyd mit seiner Gefährtin. Und im linken Flügel befand sich Kalyntes Gesundheitszentrum. Allerdings wurden dort nicht nur Kranke oder Verletzte versorgt, sondern auch Informationen über neue Heilpflanzen und sonstige medizinische Erkenntnisse gesammelt.
Auch die Ernährung der Yden war mittlerweile eine andere, denn an großflächigen Ackerbau war trotz ursprünglich anderer Überzeugung nicht zu denken, weil sich eine Umzäunung von Feldern weder hilfreich noch wirklich sinnvoll erwiesen hatte. Und die wenigen Pflanzen, die ausreichend Eiweiß produzierten, um den täglichen Bedarf eines ausgewachsenen Yden-Mannes zu decken, reichten bei Weitem nicht aus, um das gesamte Volk zu versorgen. Da man ihren Bestand jedoch trotz aller Bemühungen weder erhöhen, noch ihre Ertragsqualität verbessern konnte, hatte man sich nach anderen Quellen umgesehen und war auf der Suche nach anderen Eiweißlieferanten am Ende in der Tierwelt fündig geworden. Nun, es lag nicht jedem, Würmer einzusammeln, oder ein Messer zur Hand zu nehmen und ein grasfressendes Geschöpf zu töten, nur damit der eigene Magen gefüllt und das Hirn so mit den notwendigen Proteinen versorgt wurde. Daher hatten sich einige Yden bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. Und so besaß jede Siedlung eine Jägergruppe, die nach streng festgelegten Gesetzen bestimmten Tieren nachstellte, um den Eiweißbedarf der Gemeinschaft zu decken. Nach der erfolgreichen Jagd wurde das Fleisch dann in kleine Stücke zerteilt, bevor man es in die Siedlung brachte. Dadurch wurde verhindert, dass Widerwillen oder gar Ekel aufkam, denn es gab nach wie vor Yden, die weder den Anblick erlegter Beute noch den Gedanken ertragen konnten, den toten Körper eines Lebewesens verspeisen zu müssen, damit die eigene Existenz gesichert wurde.
Das Klima hatte sich wieder normalisiert. Wo der Boden es zuließ und das Areal geschützt war, baute man stärkehaltige Wurzeln an, weil diese unterirdisch heranreiften und somit einigermaßen sicher vor hungrigen Räubern waren. Allein die Natur sorgte dafür, dass stets irgendeine Fruchtform heranreifte, sodass es immer etwas Essbares zu sammeln gab und daher nur selten Eintönigkeit auf den Tischen herrschte.
Man hatte sich einhellig dagegen entschieden, mehr Metalle zu fördern, als für den täglichen Gebrauch benötigt wurde, auch wenn Aquitan eine Fülle davon zu bieten hatte. Diese Arbeit erforderte nämlich viel Zeit und Anstrengung, die man lieber in andere Aktivitäten investieren wollte. Es wurden jedoch immer öfter auch Stimmen laut, die sich dafür aussprachen, die alten Vorsätze zu lockern, damit das tägliche Leben ein bisschen erleichtert würde. Leonyd hingegen dachte gar nicht daran, irgendetwas zu ändern, denn er sah absolut keine Notwendigkeit dafür.
*
„Komisch.“ Kalynte betrachtete mit gerunzelten Brauen den Waldrand, weil sie meinte, da seien merkwürdige Schatten zu sehen.
Leonyd indes sah, wie seine Gefährtin die Hand hob, um sich die Augen zu beschatten, und fand, dass sie im Licht der untergehenden Sonne Aquitans noch schöner aussah, als je zuvor. Amany, die Erste Magistra, war drei Wochen zuvor gekommen, um ihnen zu sagen, dass ihre Tochter demnächst aus dem Globus entlassen werden konnte, erinnerte er sich. Also hatten sie sich zurückgezogen, um dafür zu sorgen, dass Kalynte schwanger wurde. Und das war eine höchst seltsame Erfahrung gewesen, denn der Vorgang, der in der Tierwelt so leicht und selbstverständlich aussah, hatte sich bei ihnen recht schwierig gestaltet. Sein neues Körperteil wollte nämlich nicht reagieren. Und Kalyntes neue Körperöffnung wollte sich auch nicht öffnen. Also waren sie sich lange Zeit einfach nur gegenübergestanden, bis sie damit begonnen hatten, liebevolle Zärtlichkeiten auszutauschen. Daraufhin war dann die gewünschte Reaktion eingetreten, sodass es am Ende auch zu einer Vereinigung gekommen war. Nun, angenehm war diese nicht gewesen, denn sie war mit Schmerzen einhergegangen, sodass er sich beinahe wieder zurückgezogen hätte. Aber dann war die Qual vergangen, und ein Gefühl tiefer Verbundenheit hatte ihn überrollt. Wie lange der Akt gedauert hatte, wusste er nicht mehr. Ihm schien es jedoch als wäre eine ganze Ewigkeit vergangen, bis sich der Knoten in seinen Eingeweiden endlich löste und sein neues Körperteil seinen Samen freigab. Am Ende war er mit seiner Gefährtin völlig ausgelaugt zu Boden gesunken und hatte einen ganzen Tag lang geschlafen. Am vergangenen Tag war dann endlich offenbar geworden, dass sie alles richtig gemacht hatten, denn Kalynte hatte den Herzschlag des Keimlings vernommen und war daraufhin buchstäblich aufgeblüht. Und jetzt strahlte sie so viel Glück und Lebensfreude aus, dass es eine Wonne war, sie anzusehen. Seine Tochter war nach Byanes Sohn Byram der zweite Neuling, der auf Aquitan gezeugt wurde, und trug den Namen Jystarun. Sie war bereits eine eigenständige Persönlichkeit, würde aber nach der Verschmelzung mit ihrem Körper noch ein paar Jahre der Fürsorge vonseiten ihrer Eltern brauchen. Es würde alles ein bisschen anders sein, als bei den Männern und Frauen, die er auf Eotan erweckt hatte. Dennoch freute er sich auf das, was kommen sollte, auch wenn er nicht einschätzen konnte, was oder wie es sein würde.
„Ich würde zu gerne wissen, wo Xeyo jetzt ist und was er ganz alleine macht.“ Kalynte wandte dem Waldrand den Rücken zu und zupfte dann ein paar wuchernde Gräser heraus, die sich zwischen den Heidelbeersträuchern breit gemacht hatten. Die jetzt noch grünen Beeren, die so groß werden konnten, wie ein Yden-Auge, waren wegen ihres hohen Zucker- und Vitamingehalts begehrt. Sie mussten jedoch noch reifen und so rot wie Blut werden, denn erst dann konnten man sie ernten und weiter verarbeiten. „Es muss doch furchtbar für ihn sein, so einsam zu leben.“
Leonyd konnte zwar nicht nachvollziehen, wieso seine Gefährtin ausgerechnet jetzt auf seinen Erwecker zu sprechen kam, wusste aber, dass ihr das Wohlergehen jedes Geschöpfes wichtig war – und sei es noch so klein und unbedeutend. Doch ihn selbst interessierte es nicht, wo Xeyo momentan weilte, denn er verspürte insgeheim immer noch einen leisen Groll gegen seinen Erwecker, weil sich dieser einfach davongemacht hatte, obwohl sein Nachfolger gerade in der schwierigen Anfangsphase den einen oder anderen Ratschlag gebraucht hätte.
„Denk nicht an ihn“, empfahl er nun sanft. „Es macht dich nur traurig. Denk lieber darüber nach, wie du die Schlafkammer unserer Tochter gestalten willst.“
„Das hat doch noch Zeit.“ Kalynte überließ sich für einen kurzen Moment der liebevollen Wärme in den Armen ihres Gefährten. „Du weißt doch was Byane gesehen hat. Die neuen Individuen … Nein, das klingt nicht richtig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde sie ‚Kinder‘ nennen. Ja, das hört sich schon besser an.“ Sie lachte fröhlich auf. „Genau! Die Kinder werden anfangs noch klein und nicht fähig sein, sich alleine zu versorgen. Also werden sie noch eine ganze Weile die Wärme ihrer Mutter brauchen, damit sie wachsen und gedeihen können. Darum werde ich Jystaruns Kammer erst dann einrichten, wenn ich genau weiß, dass sie auf meine ständige Gegenwart verzichten kann.“ Damit schob sie ihn von sich, um weiter ihre Gartenarbeit verrichten zu können.
Leonyd hingegen ging, um den Goldschmied aufzusuchen, der ihm einen Armreif anfertigen sollte. Seine Gefährtin trug zwar selten Schmuck, weil er sie bei ihrer Arbeit behinderte. Aber sie freute sich trotzdem immer über ein neues Stück, allein weil jedes einzelne ein einzigartiges Kunstwerk aus verschiedenen Edelmetallen und seltenen Edelsteinen war.
Kalynte zupfte und grub, bis sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm und sich daraufhin wie elektrisiert aufstellte. Normalerweise kündigte sich der Feind durch ein lautes Brüllen und stampfende Schritte an, die den Boden erbeben ließen. Doch diesmal hatte er sich nahezu lautlos angeschlichen, sodass sie ihn nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Und so wurde sie vollkommen unvorbereitet erfasst und augenblicklich emporgerissen. Die spitzen Zähne spürend, die sich in ihre Hüfte bohrten und dabei ihre Knochen zermalmten, verharrte sie für einen Moment in einer Schock-Starre. Doch dann begann sie zu schreien. Sie schlug und trat um sich, soweit sie dies noch vermochte, konnte sich jedoch nicht selbst befreien. Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie gegen den Tyrannosaurus gekämpft oder was ihn dazu veranlasst hatte, sie während seiner Rückkehr zum Wald fallen zu lassen. Dennoch war sie dankbar für den glücklichen Zufall, dass sie ausgerechnet in einem mannshohen Farn-Feld landete, welches nahe einer Lichtung wuchs. Ungeachtet der Schmerzen, die schier unerträglich schienen, robbte sie sogleich weiter in das Dickicht hinein und entkam so nur um Haaresbreite dem riesigen Raubtier, das erneut nach ihr schnappen wollte. Sie wusste, der große Fleischfresser besaß nicht nur einen ausgeprägten Geruchssinn, sondern auch ein ausgezeichnetes Gehör. Sie wusste auch, dass sein Sehvermögen nicht besonders gut war. Also mühte sie sich, so leise zu sein, wie es eben ging, während sie sich vorsichtig weiterschob und dann unvermutete in eine Erdvertiefung rutschte. Den Atem anhaltend, hörte sie die Bestie über sich vor Wut brüllen, vernahm gleichzeitig aber auch Stimmen von Männern, die sich näherten und dabei bewusst viel Lärm machten, um die Aufmerksamkeit des Schars auf sich zu lenken. Als dann deutlich wurde, dass sich der hungrige Fleischfresser tatsächlich ablenken ließ, atmete sie auf, nur um im nächsten Moment ohnmächtig zu werden.
Der Überfall auf Kalynte sorgte nicht nur für viel Aufregung und Sorge in der Siedlung. Die Tatsache, dass das Raubtier imstande gewesen war, unbemerkt so nahe an seine Beute heranzukommen, zeugte von einer gewissen Intelligenz, der man in Zukunft mit besonderen Vorkehrungen begegnen musste. Und so wurden wiederum unzählige Bäume gefällt, um hohen Palisadenzäune zu errichten, welche die Siedlungen samt den dazugehörigen Gärten schützen sollten. Zusätzlich wurden Aufpasser damit beauftragt, den Waldrand und die Steppe zwischen den ersten Baumreihen und dem Schutzwall zu beobachten und Alarm zu schlagen, sobald sich eine Gefahr für die Bewohner näherte.
Es wäre für die Yden ein Leichtes gewesen, alle Raubtiere auszurotten, die ihnen gefährlich werden konnten. Doch Leonyd wollte dies nicht zulassen.
„Aquitan ist ihre Heimat, die ihnen von Rye gegeben wurde, damit sie hier leben und ihren Nachwuchs zur Welt bringen können. Mit welchem Recht sollten wir sie töten?“
„Er hat deine Gefährtin fast aufgefressen“, rief ihm Yngvar in Erinnerung. „Willst du etwa in Kauf nehmen, dass so etwas noch mal passiert?“
„Das wird es nicht“, erwiderte Leonyd beherrscht. „Der Tyrannosaurus ist seinem Hunger gefolgt und hat die Gelegenheit ergriffen, die sich ihm bot. Also werden wir Augen und Ohren offenhalten, bis die Schutzzäune stehen.“ Seinen sichtlich verstimmten Gesprächspartner aus seinem Blick entlassend, wandte er sich an die übrigen Männer, die der gleichen Meinung waren wie ihr Rädelsführer: „In euren Augen ist ein Tyrannosaurus nichts als eine blutrünstige Bestie. Aber Kalynte und ich sehen in ihm ein Geschöpf, welches sein Leben einer Schöpfungskraft verdankt, die auch für unsere Existenz verantwortlich ist. Wer von euch glaubt, das Recht zu haben, den Blauen Garten allein nach seinen eigenen Vorstellungen umgestalten zu dürfen, wird sich vor Rye rechtfertigen müssen.“
Auf diese Rede erfolgten verschiedene Reaktionen. Der Großteil der aufgebrachten Männer sah ein, dass sie im Unrecht waren und ging, um sich ihren täglichen Pflichten zu widmen. Ein anderer Teil ging ebenfalls, war jedoch nicht wirklich zufrieden mit der Entscheidung des Dyonaten. Allein Yngvar wollte weiter diskutieren, kam jedoch nicht dazu, weil Leonyd ihn einfach stehen ließ, um zu seiner Gefährtin zu gehen.
„Wie geht es dir?“, wollte er wissen, sobald er ihr Krankenlager erreichte.
„Die Knochen heilen und die Schmerzen lassen nach“, antwortete sie. „Aber das Wichtigste ist, dass der Kleinen nichts passiert ist.“ Die Hände schützend über ihren Leib gelegt, lächelte sie zu ihrem Gefährten hinauf.
Unterdessen stürmte Yngvar wutentbrannt durch die Siedlung, um zunächst einmal sein eigenes Haus aufzusuchen. Dort hielt es ihn jedoch nicht lange, weil da niemand war, mit dem er hätte sprechen können. Also nahm er einen Speer und ein scharfes Messer zur Hand und lief zum Wald, wo er seinen Zorn an einem jungen Wolf ausließ, der nicht schnell genug flüchten konnte.
*
Kalynte freute sich auf ihre Niederkunft, denn sie konnte es kaum noch erwarten, ihre Tochter in den Armen halten zu dürfen. Die erfahrene Heilerin meinte, sie sei gut vorbereitet auf das, was sie erwartete, denn sie kannte den Geburtsvorgang der Lebend-Gebärenden aus der Tierwelt. Als jedoch die Zeit verstrich, ohne dass ihr Leib Anstalten gemacht hätte, den Kindeskörper ausstoßen zu wollen, begann sie sich Sorgen zu machen. Also konsultierte sie eine Heilkundige aus dem Nachbarort, um sich untersuchen zu lassen. Da diese aber keine Abnormität feststellen konnte und darum genauso ratlos war, wie sie selbst, kehrte sie wieder nach Hause zurück.
„Rye hat bestimmt, dass der gesamte Fortpflanzungsvorgang unserer Spezies anders sein soll, als wir es gewohnt sind. Aber er hat mir nicht verraten, wie lange oder wie genau es bei uns vonstattengehen wird.“ Byane war gekommen, um sich nach dem Befinden der Dyonata zu erkundigen. Außerdem wollte sie sich über die Fortschritte ihrer Schwangerschaft mit ihr austauschen. „Wir müssen offenbar noch Geduld haben. Vielleicht müssen Jystaruns und Byrams Körper erst eine gewisse Reife erreichen, bevor sie als lebensfähige Yden-Kinder geboren werden können. Immerhin müssen sie die Verschmelzung mit ihrem Bewusstsein verkraften, was vermutlich eine gewisse Stärke erfordert.“
„Ich hoffe, das ist der einzige Grund“, erwiderte Kalynte, die ihre Besorgnis nach wie vor nicht ablegen konnte.
„Wie lange trägst du es jetzt?“, wollte Byane wissen.
„Vierzehn Wochen“, antwortete Kalynte bereitwillig. „Und wie du siehst, ist sie schon ziemlich groß. Wenn es noch länger dauert, fürchte ich, dass sie nicht mehr genug Platz bei mir finden und dadurch Schaden erleiden wird.“
„Hm.“ Byanes Mitte war nicht ganz so rund, wie die ihrer Gastgeberin. Dennoch fühlte sie sich genauso unsicher, wie Kalynte. „Wir müssen einfach abwarten.“ Ihre Worte sollten nicht nur die Dyonata beruhigen. „Rye hat gesagt, wir müssten Opfer bringen und es würde schwieriger werden, als wir es uns vorstellen können. Aber er hat nichts davon gesagt, dass mit der Geburt eine Gefahr für Mutter oder Kind verbunden ist. Vertraue einfach darauf, dass alles gut werden wird.“
Kalynte nickte bloß, zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnend, dass sie weitere Wochen damit verbringen würde, mit ständig wachsender Angst darauf zu warten, dass ihr zusehends dicker werdender Bauch eines Tages einfach aufplatzen würde. Sie litt in dieser Zeit keine Schmerzen. Allein das Strampeln der Ungeborenen brachte hin und wieder eine leichte Übelkeit mit sich.
Am Ende ihres fünften Schwangerschaftsmonates wachte Kalynte schließlich mitten in der Nacht auf und meinte, eine unsichtbare Macht habe sie gepackt und wolle sie in zwei Teile zerreißen. Mit jeder neuen Wehe, die nun in regelmäßigen Abständen ihren Bauch zucken und ihre neue Leibesöffnung weiter aufgehen ließ, wurde auch ihre Übelkeit größer. Nichtsdestotrotz biss sie die Zähne aufeinander und presste den Kinderkörper aus sich heraus, stets darauf achtend, ausreichend Atem zu schöpfen, damit sie bei Bewusstsein blieb.
Leonyd indes erlebte zum ersten Mal eine ungemein blutige und ziemlich unappetitlich anmutende Geburt. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Hilfe zu holen, um nicht länger tatenlos zusehen zu müssen, wie sich seine Gefährtin quälte, und der Angst, Kalynte allein zu lassen, harrte er an ihrer Seite aus, verzweifelt darauf hoffend, dass es bald überstanden war. Als er dann endlich seine Tochter in Händen hielt, wurde seine Angst nur noch größer.
„Was ist denn?“ Die Arme verlangend ausgestreckt, um das Neugeborene entgegenzunehmen, zuckte Kalynte im nächsten Moment erschrocken zusammen, denn das bleiche Etwas, das Leonyd ihr reichte, glich mehr einer leblosen Puppe als einem lebendigen Wesen. „Sie atmet und ihre Augen sind offen, aber sie sieht mich nicht!“ Es war nicht richtig, kreiste es in ihrem Kopf. Die Kleine hätte strampeln und irgendwelche Laute von sich geben müssen, so wie es auch die Jungtiere taten, sobald sie sich aus den Bäuchen ihrer Mütter oder den schützenden Eierschalen gezwängt hatten. Warum machte Jystarun nichts dergleichen? „Tu doch was!“ Ihr um Hilfe heischender Blick flog zu ihrem Gefährten hin, der immer noch wie erstarrt dastand und nicht fähig schien, irgendetwas zu sagen.
„Ich … Amany weiß bestimmt, was zu tun ist“, brachte er schließlich hervor und warf sich auch schon herum, um den Raum zu verlassen.
Unterdessen drückte Kalynte den winzigen Kinderkörper an sich, um ihn zu wärmen. Dabei weinte sie bittere Tränen, weil sie nun davon ausging, dass der Überfall des Schars und ihre darauffolgende Erholungsphase trotz aller anderslautender Versicherungen doch dazu geführt hatten, dass auch ihre Tochter verletzt worden und darum geschädigt zur Welt gekommen war.
Es dauerte nicht lange, da stürmte Amany in den Raum, gefolgt von einem aufgeregten Leonyd, der in diesem Augenblick so schuldbewusst wirkte als hätte er ein Verbrechen begangen.
„Warum bist du nicht gleich in den Dom gekommen?“, schimpfte die Erste Magistra, wobei sie auch schon den Kindeskörper an sich nahm, der zwar mittlerweile in warme Tücher eingewickelt war, der aber trotzdem keine Regung zeigte. „Hast du etwa vergessen, dass die Verschmelzung nur in der Klause stattfinden kann?“ Das Bündel sorgsam festhaltend, wandte sie sich an Leonyd: „Sorg dafür, dass deine Gefährtin einen kräftigenden Trank bekommt. Sobald alles getan ist, was getan werden muss, werde ich euch eure Tochter bringen.“ Damit ging sie, um ihre Pflicht zu erfüllen.
Die Extraktion von Jystaruns Bewusstsein erfolgte innerhalb weniger Sekunden. Amany legte bloß beide Hände über den Globus, um anschließend ihre gesamte Konzentration darauf zu richten, dass nur ein einziger Neuling herausgelassen wurde. Auch die Verschmelzung von Geist und Körper war kein besonderes spektakulärer Akt. Der hell leuchtende Lebensfunke schwebte bloß für einen kurzen Moment über der Stirn des regungslosen Kindes, das Amany neben dem Globus abgelegt hatte. Dann sank er schnell tiefer und tauchte sogleich in den Kopf des winzigen Yden-Mädchens ein.
Für ein oder zwei Atemzüge geschah nichts weiter, sodass die Erste Magistra schon fürchtete, die Verschmelzung hätte nicht geklappt. Doch dann bäumte sich das Neugeborene wie unter einem Stromschlag auf. Gleichzeitig wurde ein heftiges Atemholen hörbar, dem sogleich ein hoher Schrei folgte.
„Du hast mir nicht gesagt, dass ich ein Gefängnis mit einem anderen tauschen werde!“
Amany hörte nicht nur die Anklage in ihrem Verstand widerhallen. Sie spürte auch die Frustration, die Jystarun in diesem Moment empfand. Daher beeilte sie sich, das nun komplettierte Yden-Kind zu beruhigen: „Dein Körper wird sicher schnell wachsen, sodass du schon bald auf eigenen Beinen stehen und selbst entscheiden kannst, wohin du gehen willst. Aber bis es so weit ist, sollen deine Eltern die Chance haben, dich selbst ein wenig umsorgen und dabei verwöhnen zu dürfen.“ Während sie sprach, nahm sie das Neugeborene auf und trug es hinaus.
„Warum sind sie nicht gekommen, um mich zu empfangen?“, wollte die Kleine wissen.
„Weil wir alle nicht gewusst haben, wann genau dein Körper reif genug sein wird, um dich aufzunehmen“, erwiderte Amany, die vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um nicht zu stolpern. „Und da du die Erste bist, die auf diese Weise ins Leben gerufen wurde, war deine Mutter so aufgeregt, dass sie nicht so reagierte, wie sie es eigentlich sollte. Aber sei gewiss, dass deine Eltern dich jetzt schon über alles lieben und kaum erwarten können, dich in den Armen zu halten.“
Die Erste Magistra hatte das Heim des Dyonaten-Paares erreicht und ging nun hinein, um die Kleine zu übergeben. Für eine kurze Weile dem glücklichen Trio zuschauend, das sich jetzt ausgiebig musterte und dabei kennenlernte, beschloss sie am Ende, dass sie nicht länger stören, sondern dafür sorgen wollte, dass für die nächste Gebärende ein Raum im Dom bereitstand, damit es nicht noch einmal zu solch einer erschreckenden Szene kam.