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3 - Zu viele

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Da die Yden nicht dem Zyklus allen Lebens unterlagen, wurden es immer mehr, die sich die für ihre körperliche Regeneration erforderlichen Ressourcen Eotans teilen mussten. Daher wurde es bald notwendig, gezielt dafür zu sorgen, dass die reifen Fruchtstände von Wildpflanzen für die Zeit ihrer Ruhephase in entsprechender Menge und sicher vor Umwelteinflüssen oder Ungeziefer eingelagert wurden. Es mussten auch Felder angelegt werden, die man mit eigens dafür entwickelten Kulturpflanzen versehen konnte. Außerdem züchtete man Büsche und Bäume, die weit mehr Nüsse und Früchte trugen, als ihre wilden Verwandten. Trotzdem kam es immer häufiger zu Streitereien, die immer erbitterter wurden, je enger man zusammenrücken musste. Zudem vertrieben sich viele ihre Langeweile durch allerlei alberne Späße auf Kosten anderer, was wiederum für Ärger sorgte.

Mittlerweile im Besitz vieler verschiedener Waffen, die man ehedem allein für die Verteidigung gegen die aggressiven Geschöpfe Eotans genutzt hatte, richtete man diese nun auch gegen seinen Streitgegner oder den Nachbarn, der angeblich mehr für sich beanspruchte, als ihm zustand.

Zu Beginn des ersten Krieges, der mehrere Jahre dauerte, nutzten die Yden ihre Fluggleiter noch ausschließlich als Transportmittel für Nahrung und Waffennachschub.

Bei Ausbruch des zweiten Krieges, der zwar kürzer aber ungemein brutal verlief, schossen bereits unbemannte Transporter durch die Luft, deren Ladeflächen mit unzähligen Brandbomben beladen waren, die sowohl die Häuser als auch die Felder des Gegners zerstörten. Diesmal wurden auch automatische Waffen verwendet, die ihr Ziel aus großer Entfernung anvisieren und dann so übel zurichten konnten, dass eine Regeneration mehrere Wochen dauerte.

Im dritten Krieg verstreuten die Flugzeuge schließlich Bomben über dem Gebiet des jeweiligen Kampfgegners, die gefüllt waren mit hochgiftigen Chemikalien, Gasen und Abfällen aus den Atomkraftwerken, was dazu führte, dass nicht nur die Wälder und Felder verseucht wurden, sondern auch die Luft und die Flüsse. Danach dauerte es kein Jahr, bis von der ehedem üppig blühenden Natur Eotans kaum noch etwas übrig war. Entsprechend groß war die Not, die das Volk der Yden schwächte. Dennoch kämpften sie weiter gegeneinander, weil keiner eingestehen wollte, dass er möglicherweise im Unrecht war.

In dieser Zeit wurde erkennbar, dass es durchaus Unterschiede zwischen den Individuen gab. Standen sich nämlich Yden aus der gleichen Generation gegenüber, um sich zu bekämpfen, konnte einer dem anderen keinerlei nennenswerten Schaden zugefügt, da sie sich ja ebenbürtig waren. Bei anderen Konstellationen wurden die Körper der später erweckten Kämpfer teilweise so geschädigt, dass sie sich nicht mehr aus eigener Kraft erholen konnten und daher von Heilern behandelt werden mussten, die spezielle Wiederherstellungsverfahren beherrschten. Aber auch da gab es Fälle, wo selbst die magische Kraft der Heiler nicht half, sodass die Verletzten unwiderruflich körperlich beeinträchtigt blieben. Dieses Phänomen deckte auch auf, dass es in der Tat eine Rangordnung gab, die allein durch den Zeitpunkt der Erweckung eines jeden Yden bestimmt wurde. Ja, schon Angehörige der ersten Generation nach Xeyo, also seine direkten Nachkommen, schienen nicht mehr so mächtig und unverwundbar, wie ihr Erzeuger. Es war daher möglich, einen gezielt ausgewählten Krieger nachhaltig außer Gefecht zu setzen und so die gegnerische Partei für einen längeren Zeitraum zu dezimieren.

Als ein Yde zufällig dahinterkam, dass er den Körper seines Widersachers anhand einer schnell durchgeführten Enthauptung außerstande setzten konnte, sich zu regenerieren, wurden immer mehr Yden Opfer von heimtückischen Überfällen. Dabei war es nicht länger von Bedeutung, welchen Rang die jeweiligen Rivalen hatten. Und so waren es bald Tausende, die auf den Schlachtfeldern liegen blieben und den Boden mit ihrem Blut tränkten. Die bei ihrem Tod gewaltsam freigesetzten Lebensfunken schossen einer nach dem anderen halt- und ziellos in die unendlichen Weiten des Weltraumes davon, um sich in der Finsternis zu verlieren.

Die Vernichtung so vieler Leben zwang Rye schließlich dazu, nach einer Lösung zu suchen, denn er wollte nicht hinnehmen, dass sich seine Schöpfung selbst auslöschte. Es ging dabei ja nicht nur um die Tatsache, dass seine gespendete Lebensenergie unwiederbringlich verloren ging. Die Yden legten auch den Roten Garten in Schutt und Asche, was er keineswegs akzeptieren oder gar weiter mit ansehen wollte, denn am Ende würde er wieder von Neuem anfangen müssen.

Obwohl ihm bewusst war, dass seine Strafe auch Unschuldige und Friedliebende treffen würde, nahm Rye den Yden zunächst alle Waffen und Maschinen. Danach bedeckte er ganz Eotan mit einer Wolke aus reinigender Energie, die jede Strahlung neutralisierte. Anschließend ließ er es regnen, bis alles Gift fortgespült und in den tieferen Bodenregionen versickert war, wo es keinen Schaden mehr anrichten konnte. Am Ende nahm er ihnen auch die Fähigkeit, neue Individuen zu erschaffen, um so sicherzustellen, dass sich ihre Population nicht mehr vergrößerte.

*

Vyane brauchte eine geraume Weile, bis ihr klar wurde, dass die Entwicklung der Yden allmählich zum Stillstand gekommen war, denn sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, ihren Gefährten zu unterstützen, der sich nach wie vor darum bemühte, den hart erkämpften Frieden und die mehr oder weniger erzwungene Einigkeit im Volk zu erhalten. Da sie das aber nicht einfach so hinnehmen wollte, flehte sie ihren Schöpfer an: „Bitte, Rye, wir brauchen neue Individuen!“

„Ihr seid genug“, erwiderte der Gebun im unnachgiebigen Tonfall.

„Aber wenn keine neuen Individuen dazukommen, wird das Volk bald in Starre fallen und nur noch vor sich hinvegetieren“, begehrte sie auf. „Wir brauchen frische Impulse, damit unser Geist nicht in gleichbleibender Eintönigkeit ertrinkt!“

Da hatte sie nicht ganz Unrecht, gestand sich Rye ein. Dennoch wollte er nicht zulassen, dass sich die Yden erneut unkontrolliert vermehrten und dann wieder aufeinander losgingen, nur weil Eotan ihnen zu eng wurde.

„Wenn der Rote Garten wieder so ist, wie er einmal war, reden wir noch einmal darüber“, wich er aus.

„Ist das ein Versprechen?“, wollte Vyane wissen.

„Ja.“ Man konnte über vieles reden, stellte der Gebun für sich fest. Aber das hieß noch lange nicht, dass man auch Forderungen erfüllte, die absolut indiskutabel waren.

Rye hätte wissen müssen, dass Vyane nicht nachgeben würde, denn er kannte sie ja lange genug. Aber er vertraute darauf, dass sie diesmal seine Entscheidung akzeptieren und hernach etwas anderes ersinnen würde, um zu verhindern, dass das Yden-Volk in geistige und somit unproduktive Trägheit verfiel. Entsprechend gereizt reagierte er, als man ihn erneut darum bat, dem Volk neue Individuen zu erlauben.

„Nicht auf Eotan!“

„Dann werden wir uns aufteilen und einen weiteren Lebensraum suchen.“ Vyane wusste, die eigene Unnachgiebigkeit konnte furchtbare Folgen für sie haben. Nichtsdestotrotz stand sie mit hocherhobenem Haupt da, die Augen auf die Sonne richtend, in dessen Zentrum sie ihren Schöpfer wähnte. „Bienen teilen sich auch auf und machen sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause, wenn das alte zu eng geworden ist.“

„Du weißt nicht, was du redest“, wies Rye sie im gereizten Tonfall zurecht.

„Doch, das weiß ich“, beharrte Vyane. „Meine Schenktochter Alyana hat die Sterne studiert, bevor du alle Gerätschaften vernichtet hast, die sie dazu brauchte. Und sie sagt, da ist ein Planet, der vielleicht infrage kommen könnte.“

„So? Sagt sie das?“ Rye hatte Mühe, weiter ruhig zu bleiben.

„Sie hat ihn Aquitan genannt, weil er so blau ist, wie unser Ozean“, umging Vyane eine direkte Antwort. „Ihren Berechnungen nach muss er doppelt so groß sein, wie Eotan. Außerdem ist sie überzeugt, da, wo Wasser ist, ist auch Leben möglich.“

Rye hätte nun bestätigen können, dass die erfahrene Astronomin recht hatte, denn niemand wusste über den Blauen Garten besser Bescheid, als er selbst. Allerdings sah er gar nicht ein, warum er dies tun sollte. Die Yden waren seine Schöpfung, die gefälligst dort zu bleiben hatte, wo er sie haben wollte. Dass diese Einstellung im Hinblick auf die schwierige Situation des Yden-Volkes nicht nur kindisch, sondern auch unvernünftig war, wollte er in diesem Augenblick nicht wahrhaben.

„Selbst wenn das alles stimmen sollte – wie wollt ihr dorthin kommen?“ Er wäre zwar in der Lage gewesen, alle Yden innerhalb kürzester Zeit auf jeden x-beliebigen Planeten in seinem Sonnensystem zu bringen, zog diese Option jedoch gar nicht erst in Betracht, weil er jegliche Kooperation in dieser Sache von vorneherein ausschloss.

„Wayonis und Sodyan werden bestimmt eine Lösung finden“, antwortete Vyane unterdessen.

Daraufhin beendete der Gebun das mentale Zwiegespräch, ohne eine Erwiderung formuliert zu haben.

*

Zutiefst verärgert, weil man seine Haltung einfach nicht akzeptieren wollte, kümmerte sich Rye lange Zeit nicht mehr um seine Ersatzgefährten. Doch dann begann er die Gespräche mit dem ersten Yden-Paar zu vermissen, sodass er schließlich nachsah, was sie so trieben.

Dass mittlerweile wieder Frieden im Volk herrschte, auch wenn dieser allein durch Xeyos Einfluss und sein strenges Regiment aufrechterhalten wurde, freute ihn. Als er jedoch gewahr wurde, dass Leonyd, Wayonis und Sodyan eine ganze Reihe von Plänen gemacht hatten, die mittlerweile so weit fortgeschritten waren, dass es nur noch darum ging, genügend Material für die Raumschiffe herbeizuschaffen, vergaß er seine frohe Laune.

„Ihr wollt also Eotan wirklich verlassen?“, sprach er Vyane an.

Die Dyonata hatte bereits registriert, dass ihr Schöpfer präsent war. Allein darum zuckte sie ausnahmsweise nicht vor Schreck zusammen als seine Stimme in ihrem Bewusstsein widerhallte. Zudem hatte sie gelernt, dass sie ihn nicht wirklich fürchten musste, und reagierte daher relativ gelassen auf seine angriffslustig klingende Frage.

„Du hast uns dein Ohr und dein Auge lange verweigert“, stellte sie fest, statt die übliche Begrüßung zu gebrauchen, die sonst immer ihren tiefen Respekt deutlich gemacht hatte. „Nun, es ist wahr. Ein Teil des Volkes wird aufbrechen, sobald die Schiffe fertig sind.“

„Ein Teil des Volkes?“ Rye ärgerte sich zwar immer noch über das eigenmächtige Verhalten der Yden, fühlte jetzt aber auch Neugierde in sich wachsen. „Also wollt ihr euch tatsächlich aufteilen?“

„Ja, wir haben mittlerweile zwei Parteien hier“, erläuterte Vyane. „Die einstigen Kriegsgegner haben sich leider so weit voneinander entfernt, dass eine Aussöhnung nicht mehr möglich ist. Darum haben wir alle Städte und sonstigen Siedlungen besucht und jeden einzelnen Yden nach seiner Meinung gefragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass über die Hälfte auf Eotan bleiben will. Aber die anderen haben dafür gestimmt, nach Aquitan aufzubrechen, auch wenn das bedeutet, dass sie dort vielleicht nie ankommen werden. Und jetzt sind wir dabei, Schiffe zu bauen, die imstande sind, mitsamt unseren Leuten durch den Weltraum zu fliegen.“

„Ihr wollt also hunderte Individuen in enge Blechdosen stopfen und auf eine ungewisse Reise schicken, deren Dauer ihr gar nicht einschätzen könnt.“ Ryes Tonfall hätte nicht abfälliger klingen können. „Wenn sie nicht erfrieren, werden sie verhungern und verdursten.“

„Nein, das werden sie nicht“, erwiderte Vyane ruhig. „Sie werden nämlich schlafen. Wayonis hat Kryostase-Kapseln entwickelt, in welchen die einzelnen Individuen so lange bleiben werden, bis Aquitan erreicht ist. Es ist daher nicht notwendig, große Mengen an Vorräten mitzunehmen, denn es werden auf jedem Schiff nur ein paar von uns wach bleiben. Die jeweilige Schiffscrew wird in besonders geschützten Bereichen untergebracht werden und sich um alles kümmern. Allein die Frage der Energieversorgung ist noch nicht geklärt. Aber auch dieses Problem werden wir lösen, denn es sind ziemlich viele kluge Köpfe unter uns.“

Die Idee, alle erforderlichen Elemente außerhalb jeglicher Reichweite für die Yden zu bringen und ihnen somit die Grundlage für die Verwirklichung ihres Planes zu entziehen, verwarf Rye sofort wieder. Er war definitiv nicht dumm! Im Grunde hätte er über kurz oder lang selbst dafür sorgen müssen, dass die Situation für das Volk besser wurde. Also durfte er sie nicht behindern. Nein, er musste sie sogar unterstützen, gestand er sich ein. Allerdings wollte er nur dann eingreifen, wenn es absolut notwendig wurde, weil er gespannt darauf war, wie sie die scheinbar unmögliche Aufgabe lösen würden.

„Wirst du eine von denen sein, die auf die Reise gehen?“, wollte er wissen.

„Nein“, gestand Vyane. „Xeyo und die, die aufbrechen wollen, erwarten zwar von mir, dass ich mich anschließe, scheinen meine Unterstützung aber nicht wirklich zu brauchen, denn sie haben ganz klare Vorstellungen davon, wie sie ihr Dasein auf Aquitan gestalten wollen. Vielmehr glaube ich, dass die Zurückbleibenden jemanden brauchen, der sie leitet. Außerdem …“ Sie zögerte kurz, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Gefühle beschreiben sollte. „Xeyo war mir stets ein guter und treuer Gefährte“, fuhr sie schließlich fort. „Aber mein Herz hat sich schon lange für einen anderen entschieden.“

Rye war durchaus in der Lage, verschiedene Gefühle zu empfinden. Freude, Trauer und Ärger waren ihm daher bekannt. Auch wohlwollenden Besitzerstolz kannte er, denn diesen empfand er beim Anblick eines jeden seiner Geschöpfe. Doch Liebe zu einem gleichartigen Wesen war etwas, was er nicht begreifen konnte, weil er sie selbst noch nie erlebt hatte.

„Du willst deinen Gefährten aufgeben, nur weil dir ein anderer besser gefällt?“, fragte er.

„Das hat nichts mit Gefallen zu tun“, verteidigte sich Vyane. „Ich habe Xeyo immer gerngehabt. Aber für Lyander würde ich mein Leben hergeben.“

„Welchen Sinn hätte das?“, wunderte sich Rye.

„Gar keinen“, gab sie zu. „Aber so ist es nun einmal.“ Sobald Lyander sie in seine Arme schloss und seine Stirn gegen ihre legte, wollte sie nirgends anders sein. Und wenn er mit seinen Fingern ihr Haar und ihren Wangen streichelte, oder die roten Zeichen auf ihrer Haut nachmalte, dann war das einfach wundervoll. Sie verging fast, wenn er seine Finger mit ihren verflocht und gleichzeitig in ihre Augen sah. Dann wurde sie von einem so schönen Wärmegefühl erfasst, dass es unmöglich war, noch einen vernünftigen Gedanken zustande zu bringen. Sie hätte tatsächlich alles getan, wenn er es verlangt hätte. Aber er wollte gar nichts. Er wollte bloß in ihrer Nähe sein.

„Also gut.“ Auch wenn er furchtbar gerne das Thema Liebe weiter erörtert hätte, um besser verstehen zu können, bezwang Rye seine Neugierde. Stattdessen ließ er sie wissen, dass die Yden von nun an tun und lassen könnten, was auch immer ihnen gefiel, solange sie die Höchsten Macht und deren Werk achteten.

„Du hast uns neue Individuen versprochen“, rief Vyane ihm in Erinnerung.

„Nein, das habe ich nicht“, stellte Rye richtig. „Ich habe gesagt, wir können darüber reden, sobald der Rote Garten wieder so ist, wie er einmal war. Aber das ist er nicht. Und er wird es auch nie wieder sein, weil viele Tiere und Pflanzen durch euch unwiederbringlich verloren gegangen sind.“

Vyane fühlte jäh Ärger in sich entstehen und wollte erwidern, dass er sie bewusst getäuscht habe, indem er ihre Hoffnung zu neuer Größe wachsen ließ. Allerdings wagte sie es am Ende dann doch nicht, ihrer wütenden Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Stattdessen verabschiedete sie sich in aller Form, um hernach ihre ursprüngliche Arbeit wieder aufzunehmen. Wie und wann sie ihrem Gefährten ihren Entschluss mitteilen sollte, wusste sie noch nicht. Aber sie durfte nicht mehr allzu lange warten, ermahnte sie sich.

*

Obwohl offiziell Frieden herrschte, kam es immer wieder zu Übergriffen, die nicht selten auch tödlich ausgingen. Daher strengten sich Xeyo und die sogenannten Aufbrechenden noch mehr an. Und so wuchsen in der Umgebung des Dyonaten-Sitzes die Halden, auf welchen die benötigten Materialien zusammengetragen wurden. Allerdings rief das Extrahieren von Thyranium, einem Strahlen abweisenden, hitzebeständigen Metall, schon bald den Unmut der sogenannten Zurückbleibenden hervor, weil sie der Meinung waren, dass die Aufbrechenden nicht das Recht hätten, das gesamte Vorkommen dieses seltenen Rohstoffes für sich zu beanspruchen. Sicher, für den Bau der zehn gigantisch großen Raumtransporter brauchte man einen Werkstoff, welcher größtmögliche Stabilität und somit Schutz garantierte. Dennoch hätten es einige lieber gesehen, wenn es auf Eotan verblieben wäre, damit man es für bessere Zwecke nutzen konnte. Ein anderer Grund für Feindseligkeiten war die Tatsache, dass praktisch der Großteil der mächtigsten Yden der ersten und zweiten Generation nach Xeyo und Vyane zu den Aufbrechenden gehörte. Dabei ging es aber eher darum, dass man die Chance zum Aufstieg in der Hierarchie und somit auch zur Macht Gewinnung verlor, denn wenn kein bedeutender Yde mehr da war, konnte man sich auch nicht mehr mit ihm zusammentun, um seinen eigenen Rang aufzuwerten.

Nach einer ermüdenden Diskussion mit einigen Yden der zweiten Generation entschied Vyane, dass sie nun endlich für Klarheit sorgen musste. Sie wollte jedoch zuerst mit Xeyo sprechen, damit er nicht womöglich von anderen erfuhr, was sie beabsichtigte. Dass er ihr Vorhaben nicht einfach so akzeptieren würde, war ihr klar. Auch wusste sie, dass er sie seit Anbeginn als einzige, nicht austauschbare Gefährtin betrachtete, sodass er kaum bereit sein würde, sie aufzugeben. Dennoch sagte sie ihm, dass sie ihn nicht begleiten würde.

Xeyo schien zunächst sprachlos und sah seine Gefährtin nur mit vor Überraschung geweiteten Augen an. Allein der schmerzliche Ausdruck darin machte deutlich, dass er ihre Worte zu deuten wusste.

„Sie brauchen jemanden, der sie lenkt.“ Vyane war erfahren genug, ihre Gefühle so zu beherrschen, dass sie weder ihren Verstand beeinträchtigen, noch von ihrem Gegenüber per Telepathie oder Empathie erfasst werden konnten. „Wenn man sie allein lässt, werden sie einen neuen Krieg anzetteln.“

„Du wirst nicht verhindern können, dass sie das tun.“ Er verstand, mit welchen Befürchtungen sie sich herumplagte. Dennoch wollte er die sichere Erkenntnis noch nicht an sich heranlassen, dass er sie verlieren sollte. „Was auch immer ihnen in den Sinn kommt, sie werden es tun, ohne dich nach deiner Meinung oder deiner Erlaubnis zu fragen.“

„Das mag schon sein“, erwiderte sie. „Dennoch könnte ich möglicherweise das Schlimmste verhindern, indem ich einfach nur da bin.“

Er hatte bereits eine unwirsche Entgegnung auf der Zunge, biss sich aber im letzten Moment auf die Unterlippe. Nein, entschied er, er würde nicht betteln. Selbst wenn er fortan ohne Gefährtin weiter existieren musste, würde er akzeptieren, dass sie ihrem Willen folgte. Wenn ihr das Volk wichtiger war, als er, sollte sie getrost bleiben und dabei zusehen, wie die Yden auf Eotan ihren eigenen Untergang vorantrieben. Und das würden sie garantiert tun, weil ihr Egoismus nämlich grenzenlos war!

Xeyo war schon kurz davor, den Raum zu verlassen, da realisierte er, dass da noch etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand, sodass er mitten im Schritt stoppte, um sie fragend anzusehen. Sie sah anders aus, stellte er überrascht fest. Sie strahlte förmlich, was ihre gesamte Erscheinung in einem zarten Goldton leuchten ließ.

„Das Volk ist nicht der einzige Grund, nicht wahr?“ Woher er diese Erkenntnis nahm, wusste er selbst nicht. Dennoch war er sich jetzt absolut sicher, dass sie auch noch einen anderen Grund für ihre Entscheidung hatte. Selbstverständlich hätte er auf telepathische Weise in Erfahrung bringen können, was in ihr vorging. Aber das wollte er nicht. Er wollte, dass sie es laut aussprach.

Vyane war für einen Moment versucht, seinen Verdacht durch ein Lachen und ein unaufrichtiges ‚Aber ja doch!‘ abzuwehren. Da ihr aber bewusst war, dass er irgendwann doch die Wahrheit erfahren und dann noch verletzter sein würde, entschied sie, dass der jetzige Augenblick genauso gut sei, wie jeder andere, um endlich reinen Tisch zu machen.

„Es ist wahr“, begann sie. „Wir haben ein Volk ins Leben gerufen und lange Zeit zusammen geleitet und beschützt. Aber jetzt ist es an der Zeit, auch an unsere eigenen Bedürfnisse zu denken. Ich war dir bis jetzt eine loyale Gefährtin. Aber in meinem Herzen hast du immer nur den Platz eines lieben Freundes gehabt.“

„Warum hast du das nie gesagt?“, wollte er wissen.

„Es war nicht wichtig“, antwortete sie.

„Und wieso ist es jetzt anders?“, fragte er.

„Weil ich liebe“, erwiderte sie. „Ich …“

„Liebe? Was meinst du damit?“ Er kannte Zuneigung und wohlwollenden Besitzerstolz. Doch diese Bezeichnung für eine Emotion hatte er bisher noch nie gehört.

„Ich …“ Sie schluckte hart, bevor sie fortfuhr: „Es ist ein Gefühl, das ich bisher nicht kannte. Aber seit ich Lyander begegnet bin, möchte ich immer an seiner Seite sein und alles mit ihm teilen, was ich zu geben imstande bin.“

„Und das hast du mit mir nicht gewollt?“ Xeyo wusste nicht, was genau in seinem Inneren überwog. Zum einen war er schockiert, weil er nicht bemerkt hatte, was in ihr vorging. Zum anderen war er traurig, dass sie ihn einfach so ziehen lassen wollte, obwohl sie so vieles gemeinsam bewältigt hatten. Allerdings fühlte er auch wütende Bitterkeit in sich wachsen, angesichts der Tatsache, dass sie bereit war, für einen anderen etwas zu tun, wofür er selbst offenbar nicht wichtig genug war.

„Liebt er dich auch?“ Das Wort war ihm immer noch genauso fremd, wie die Emotion, für die es verwendet wurde. Nichtsdestotrotz gebrauchte er es jetzt, denn er hatte mittlerweile begriffen, dass es bei diesem Gefühl um weit mehr ging, als um bloße Zuneigung oder pflichtbewusste Loyalität innerhalb einer Partnerschaft.

„Ja, das tut er“, antwortete Vyane.

„Dann soll es so sein.“ Xeyo hatte kaum zu Ende gesprochen, da wandte er sich auf dem Absatz seiner Stiefel ab und ging, um sich für eine lange Zeit in die Wälder zurückzuziehen, wo er seinen Empfindungen freien Lauf lassen und gleichzeitig nachdenken konnte. Ehedem davon träumend, auf dem neuen Heimatplaneten alles besser machen zu wollen, sah er nun keinen Sinn mehr darin, einen Neuanfang zu starten. Sicher, da gab es genügend Yden-Frauen, die ihn gern zum Gefährten genommen hätten. Allerdings verspürte er nicht die geringste Lust, Vyane durch eine andere zu ersetzen. Ja, er dachte sogar daran, ebenfalls auf Eotan zu bleiben, weil er den Wunsch nicht mehr verspürte, Aquitan kennenzulernen, oder sich den Problemen zu stellen, die dort auf ihn warteten. Sobald ihm jedoch klar wurde, dass er sich damit selbst einer unerträglichen Situation ausgesetzt hätte, blieb er bei seiner ursprünglichen Absicht. Ja, Aquitan war weit genug weg, redete er sich selbst gut zu. Sehr große Entfernungen bewirkten nicht nur eine nachhaltige Unterbrechung der telepathischen Verbindungen. Sie halfen sicher auch über Verluste hinweg!

*

Die Konstruktionspläne für die Raumtransporter schienen fast identisch mit den Blaupausen für die Fluggeräte, die man für den letzten Krieg gebaut hatte. Allerdings waren die Ausmaße der Schiffe um ein Vielfaches größer, weil in ihrem Inneren genügend Platz für hunderte in Kryostase liegende Passagiere, lebenserhaltende Technik und Proviant für diejenigen sein musste, die die Reise im Wachzustand bewältigen sollten.

Die Außenhülle der Raumfähren sollte aus einer sorgsam zusammengefügten, metallenen Doppelwand bestehen, in welche eine dichte aber dennoch leichte Isolierschicht eingearbeitet werden musste. Allein die sogenannte Steuereinheit, wo die wache Crew untergebracht werden sollte, wollte man direkt in den Bug einfügen. Dieser Bereich musste eine weitere Isolierung gegen die Kälte erhalten, die man im All erwartete, und zudem genügend Platz bieten, damit sich die einzelnen Individuen auch mal in ihren privaten Schlafraum zurückziehen konnten. Auch Sichtluken waren nur in diesem Bereich vorgesehen, und sollten bei Bedarf durch Schutzschilde verschlossen werden.

Die Baupläne waren mehrfach geprüft und hätten im Grunde sofort umgesetzt werden können. Da aber die Frage nach der Energieform, welche die Schiffe vorantreiben sollte, noch nicht geklärt war, musste zunächst erörtert werden, wie viel Platz man für das Antriebssystem brauchte. Diskutiert wurde dieses Problem bei einer Zusammenkunft in Sodyans Haus, wo dessen Gefährtin Myrani ein karges Abendessen servierte, bevor sie sich zu den Männern setzte.

„Für flüssige oder gasförmige Brennstoffe bräuchten wir entsprechend große Tanks, was im Hinblick auf die Länge unserer Reise bedeuten würde, dass wir dafür sehr viel Platz schaffen müssten“, stellte Lerys fest.

„Kernspaltung wäre eine Option“, schlug Wayonis vor.

„Nein“, winkte Leonyd ab. „Wenn wir diese Technologie mitnehmen und auf dem neuen Heimatplaneten installieren, gehen wir Gefahr, dieselben Fehler zu machen, die wir schon hier begangen haben. Nein, wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.“

„Aber das ist doch …“, wollte Wayonis aufbegehren.

„Ich weiß“, unterbrach Leonyd. „Du siehst nur das Positive darin. Aber ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass diese Form der Energiegewinnung auch als absolut tödliche Waffe eingesetzt werden kann. Ich möchte nicht noch einmal riskieren, dass meine Felder zu verseuchtem Boden werden, auf dem nicht einmal mehr Dornenhecken wachsen wollen.“

„Wir könnten die Anlagen ja nach der Landung vernichten“, schlug Sodyan vor.

„Du weißt selbst, dass das nicht funktionieren würde“, winkte Leonyd ab. „Wir sind uns jetzt noch vielleicht einig darüber, dass wir keine höher entwickelte Technologie, sondern nur die Kraft unseres Geistes und unserer Hände nutzen wollen. Aber wenn wir ankommen und die Aufbrechenden darauf bestehen, die mitgebrachte Technologie weiterzunutzen, statt sie zu vernichten, wird es wieder zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Willst du wirklich, dass wir in der neuen Heimat genau da weiter machen, wo wir hier aufgehört haben?“

„Was dann?“, wollte Wayonis wissen.

„Elektrische Energie lässt sich auch durch Fotovoltaik oder Bewegungsdynamik gewinnen.“ Wayonis war klar, dass man dafür nicht nur entsprechende Vorrichtungen an den Außenhüllen der Raumschiffe anbringen müsste, sondern auch Speichereinheiten im Inneren notwendig wären. Wie genau man das alles umsetzten sollte, war ihm jetzt noch nicht ganz klar. Allerdings war er überzeugt davon, dass ihm dazu schon bald etwas Hilfreiches einfallen würde. „Ich denke mal, dass wir die meiste Energie für den Start brauchen werden. Danach fällt dann nicht nur die Schwerkraft, sondern auch der Großteil des Luftwiderstandes weg, sodass die Schiffe leichter vorangetrieben werden können. Selbst für die Kryotanks bräuchten wir nicht mehr so viel Strom, wenn wir die entsprechenden Decks nur während der Inspektionszeiten auf erträgliche Temperaturen aufheizen. Allein die Energieversorgung der Lebenserhaltungssysteme muss ich noch überdenken, denn die müssen tausend prozentig funktionieren, wenn wir dieses Abenteuer unbeschadet überleben wollen.“

„Wir könnten doch mit Swer reisen.“ Alyana war nicht nur Wayonis Gefährtin, sondern auch Astronomin. „Ich habe in der Vergangenheit die Flugbahn und das Verhalten dieses Kometen gründlich studiert und den Turnus seiner Wiederkehr genau dokumentiert. Daher weiß ich, dass er in etwa zwei Jahren wieder so nahe an Eotan vorbeikommen wird, dass man ihn schon mit bloßem Auge sehen kann. Wir müssten bloß die ideale Position in seinem Schweif erreichen, um mitgezogen zu werden.“ Im Nachhinein war sie heilfroh, ihre Aufzeichnungen keinem Datenträger einer Speichermaschine anvertraut zu haben, sodass sie jetzt auf Unmengen von sorgsam zusammengetragenen und schriftlich festgehaltenen Details zurückgreifen konnte. Also stand sie auf und holte ein großformatiges Buch herbei, welches sie umgehend durchblätterte, bis sie schließlich die gesuchte Seite fand. „Swer benötigt exakt fünfeinhalb Jahre, um den Kreis seiner Reise einmal zu vollenden. Dabei kommt er aber nicht nur bei uns vorbei, sondern auch an Aquitan.“ Sie deutete auf die Karte, auf welcher die einzelnen Planeten mitsamt ihren Trabanten zu sehen waren. „Rye reicht uns hilfreich die Hand. Also denke ich, dass wir diese ergreifen sollten.“

„Trotzdem brauchen wir einen Antrieb, der uns nicht nur in den Weltraum bringt, sondern in Swers Schatten auf Position hält, bis wir da sind“, gab Wayonis zu bedenken.

„Swer besteht zu neunzig Prozent aus Eis“, gab Alyana zurück. „Der Rest setzt sich aus verschiedenen Gasen zusammen, die man möglicherweise nutzen …“

„Wasserstoff“, unterbrach Wayonis sie. „Eis besteht bekanntlich aus Wasser“, fuhr er gleich darauf fort. „Wenn es uns gelingt, etwas von Swers Eis abzubrechen und in das Innere der Raumschiffe zu bekommen, könnten wir es zur Energiegewinnung nutzen.“

Das war gar keine schlechte Idee, dachte Lerys für sich. Aber auch nicht wirklich gut, denn Eis aus einem Kometen hatte noch niemand gewonnen – und schon gar nicht verarbeitet. Man wusste also gar nicht, ob es aus reinem Wasser oder möglicherweise doch aus einem Gemisch von säurehaltigen Flüssigkeiten bestand. Ganz abgesehen davon müsste man einen Lagerplatz dafür einrichten, weil es ja irgendwo bleiben musste, bis es gebraucht wurde. Daher stellte diese Variante der Energiegewinnung keine wirklich ideale Option dar. Nein, man brauchte auf den Schiffen Energielieferanten, die absolut verlässlich waren, weil die Lebenserhaltungssysteme jederzeit und tausend prozentig funktionieren mussten. Fotovoltaik und Bewegungsdynamik waren darum wirklich die besseren Varianten. Lichtkollektoren, die man bei Bedarf wie Segel ausfahren konnte, gab es bereits seit man die Elektrizität entdeckt und damit begonnen hatte, ihre Kraft für sich zu nutzen.

„Energieblasen“, schlug Myrani nach einigem Nachdenken vor.

„Wie bitte?“ Sodyan konnte mit dem Ausspruch seiner Gefährtin absolut nichts anfangen.

„Wir könnten doch die alte Methode anwenden, wie wir es bereits bei den ersten Seglern gemacht haben“, erläuterte sie ihre Idee. „Wenn wir pro Schiff mehrere Ondore-Tax als gemeinsam agierende Zirkel einsetzen, können wir die Raumfähren in eine Art Energieblase hüllen und in den Weltraum bringen.“ Bevor ihr Gefährte einen Einwand vorbringen konnte, sprach sie schnell weiter: „Und sobald wir dort sind, brauchen wir wahrscheinlich nur noch wenige Ondore-Tax, um sie zu steuern und voranzutreiben, bis wir so weit an Swer herangekommen sind, dass wir mitgezogen werden. Sie könnten auch dafür sorgen, dass wir uns während der gesamten Reise genau auf der Position halten, die für uns am ungefährlichsten ist.“

„Dann würden wir praktisch alle bedeutenden Ondore-Tax mitnehmen, die auf Eotan zu finden sind“, gab Leonyd zu bedenken. „Und ich weiß nicht, ob sie tatsächlich alle mitkommen wollen. Sie haben …“

„Die Idee stammt von ihnen selbst“, unterbrach Myrani. „Gylendis, die leitende Ondor-Tax des ersten Zirkels hat mich vor ein paar Tagen kontaktiert und mich wissen lassen, dass sie sich mit allen anderen Ondore-Tax beraten hat und mit ihnen zu dem Entschluss gekommen ist, dass sie lieber einen Neuanfang mit uns wagen wollen, als hierzubleiben und möglicherweise von einem machthungrigen Kriegstreiber für Dienste missbraucht zu werden, die gegen ihre politische und moralische Überzeugung sind.“

Leonyd dachte kurz nach, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte: „Wir wissen um die erstaunliche Stärke der Ondore-Tax. Dennoch sollten wir bedenken, dass ihre Macht Grenzen hat. Es sind zehn schwere Schiffe, die hunderte von Yden tragen sollen.“

„Gylendis hat wohl geahnt, dass du diesen Einwand vorbringen würdest“, erwiderte Myrani ruhig. „Deshalb haben sich die Ondore-Tax zu einer Art Test bereit erklärt.“ Da ihr ihr Gefährte augenscheinlich mit einer Frage ins Wort fallen wollte, hob sie abwehrend eine Hand, um sich dann wieder Leonyd zuzuwenden: „Ihr wisst alle, dass die, die hier zurückbleiben wollen immer häufiger murren, weil wir angeblich fruchtbares Land mit unserem Material blockieren. Darum wollen Gylendis und ihr Zirkel ein Plateau in den Bergen schaffen, auf welches wir ausweichen und wo wir ungestört arbeiten können. Sie sagt, wenn ein Zirkel imstande ist, ein halbes Gebirge abzutragen und das gesamte Baumaterial für ein Schiff auf einmal von A nach B zu transportieren, dann kann es auch kein Problem sein, den fertigen Flieger in den Weltraum zu bringen.“

„Und was sagen die Zurückbleibenden dazu“, wollte Leonyd wissen. „Ich meine, sie werden dann ohne Ondore-Tax …“

„Sie werden sich mit den Ondore zufriedengeben müssen, die hierbleiben wollen“, unterbrach Myrani mit ruhiger aber unnachgiebiger Stimme. „Die Ondore-Tax wollen nämlich alle mit uns gehen. Und wir können niemanden gegen seinen ausdrücklichen Wunsch zurücklassen, nur weil dies von den Zurückbleibenden so gefordert wird.“

Leonyd nickte bloß, um so deutlich zu machen, dass er im Grunde der gleichen Meinung war. Aber im Stillen fürchtete er den Augenblick, da die Entscheidung der Ondore-Tax öffentlich bekannt gegeben werden musste, denn diese Offenbarung würde garantiert neuen Streit und vielleicht sogar erbitterte Kämpfe nach sich ziehen, die dann noch mehr Hass erzeugen würden.

*

Sobald Gylendis‘ Vorschlag angenommen und sogleich mit den Vorbereitungen für die Geländebegradigung begonnen wurde, dauerte es nicht lange, bis ein paar eng beieinanderstehende Berggipfel verschwanden, um Platz für ein riesiges Plateau zu machen, auf welchem schon bald geschäftiges Treiben herrschte. Es kam jedoch trotz aller Mühe und Umsicht vonseiten der Aufbrechenden genau so, wie es Leonyd befürchtet hatte. Sobald nämlich bekannt wurde, dass alle Ondore-Tax mit nach Aquitan reisen wollten, wurde das Schimpfen und Hetzen unter den Zurückbleibenden immer lauter, bis es schließlich in aggressive Angriffe auf die Bauleute und Behinderung der Abläufe mündete.

Es war Xeyo, der einen neuen Krieg verhinderte. Ohne jegliche Ankündigung im Dyonaten-Sitz erscheinend, wo gerade eine erbitterte Diskussion zwischen einigen Senatoren und Sippen-Oberhäuptern geführt wurde, sah er sich zunächst verwundert um. Als er schließlich begriff, dass ein Teil der aufgebrachten Wortführer ausschließlich von Egoismus getrieben wurden, forderte er mit donnernder Stimme Ruhe ein.

„Ich habe bisher stets versucht, eure Wünsche zu berücksichtigen“, herrschte er die an, die sich darüber beschwerten, dass man in böswilliger Absicht bisher gut funktionierende Sippen spalten und somit nur Unruhe stiften wollte. „Aber jetzt sehe ich, dass das ein Fehler gewesen ist. Ihr behauptet, es geht euch um Frieden und Einheit im Volk. Aber ich sehe, ihr fürchtet nur um euren eigenen Stand, weil euch die Gemeinschaftsmitglieder weglaufen! Und weil das so ist, werde ich auch keine Rücksicht mehr nehmen. Jeder, der mit uns gehen will, kann das tun. Und die, die hierbleiben wollen, werden das akzeptieren. Anderenfalls werdet ihr mich von einer Seite kennenlernen, die ihr bisher nicht zu sehen bekommen habt.“ Mehr musste er dazu nicht sagen, denn alle, Vyane eingeschlossen, vermuteten, dass ihr sanftmütiges Oberhaupt bereit sein könnte, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen. Seine Macht kam schließlich direkt von Rye. Und allein diese Tatsache bedeutete, dass er durchaus in der Lage war, Yden-Leben zu beenden, ohne ein Schwert zur Hand nehmen zu müssen, um den Delinquenten zu enthaupten!

*

Die Fertigstellung des ersten Raumschiffes zog die Aufmerksamkeit aller auf sich, denn mit seiner Vollendung und dem darauffolgenden Test-Start sollte sich zeigen, wie viele Ondore-Tax in einem Antriebszirkel zusammenwirken mussten, um es zu bewegen.

Als der Tag des Erstversuches anbrach, stand Xeyo ein wenig abseits der Gruppe, die sich um Wayonis und dessen Mitarbeiterstab scharte, um das Geschehen ungestört beobachten zu können. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch relativ bald von anderen Dingen gefesselt, sodass er die Bewegung der gigantischen Flugmaschine erst wahrnahm, als diese schon mehrere hundert Meter über dem Boden schwebte. Im ersten Moment ein wenig überrascht, dass ihn der Anblick einer Frau tatsächlich von so etwas Wichtigem ablenken konnte, schüttelte er im nächsten den Kopf über sich selbst. Dennoch flog sein Blick immer wieder zu der Schönen, die ebenfalls ein wenig abseitsstehend das Spektakel beobachtete, welches sich am Himmel abspielte. Sie musste zu einer der letzten Generationen gehören, mutmaßte er, denn hätte sie zu den Ersten gehört, ihr Name wäre ihm sicher geläufig gewesen. Ihrer Uniform nach gehörte sie zu den Technikern, die auf den Schiffen für die Instandhaltung und fehlerfreie Funktion der Stasis-Kapseln verantwortlich sein würden, in welchen die Aufbrechenden den Großteil ihrer Reise verbringen sollten, um so nicht nur die eigene Energie, sondern auch die Ressourcen des jeweiligen Schiffes zu schonen.

Xeyo war beileibe nicht der Einzige, der dem Test-Start nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. So wie er seinerseits die Technikerin Elyka beobachtete, die seltsamerweise imstande war, weit intensivere Gefühle in ihm hervorzurufen, als es Vyane vermocht hatte, wurde er selbst von einer anderen Frau betrachtet, deren Gesicht wie eine versteinerte Maske wirkte. Allein der fiebrige Glanz in deren Augen machte deutlich, dass in ihrem Inneren ein heftiger Kampf verschiedener Emotionen stattfand. Dies wiederum wurde von Leonyds Gefährtin Kalynte registriert, die gleich neben der Beobachterin stand.

„Was ist mit dir, Cecyle?“ Die besorgte Heilerin konnte weder einen telepathischen Kontakt herstellen, noch anhand ihrer stark ausgeprägten Empathie in Erfahrung bringen, was in ihrer Nachbarin vorging. Und das irritierte sie sehr, denn bisher war ihr so etwas noch nicht passiert. „Bist du krank?“

„Nein“, winkte die Angesprochene ab, indem sie ihren Blick gewaltsam vom Dyonaten losriss. „Ich habe nur gerade überlegt, ob sich Xeyo wohl eine neue Gefährtin nehmen wird, wenn wir auf Aquitan sind.“

„Wieso machst du dir darüber Gedanken?“, reagierte Kalynte amüsiert. „Möchtest du etwa die neue Dyonata werden?“

„Ist es vielleicht verboten, dies in Betracht zu ziehen?“ Damit wandte sich Cecyle ab und ging, um ihre unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen.

Kalynte indes sah ihr mit offenem Mund nach, nicht ganz sicher, ob sie der Davongehenden Erfolg wünschen oder doch lieber von der möglicherweise vergeblichen Bemühung um Xeyo abraten sollte. Doch am Ende zuckte sie die Achseln und konzentrierte sich wieder auf das Raumschiff, welches gerade im Begriff war, seine ursprüngliche Position am Boden wieder einzunehmen.

„Wir kommen tatsächlich mit acht Ondore-Tax pro Schiff aus.“ Myrani hatte zwar gesehen, dass die Erste Heilerin mit einer anderen Frau gesprochen und daraufhin sehr seltsam reagiert hatte, wollte jedoch in diesem Moment nicht darauf eingehen. Strahlend vor Zufriedenheit blieb sie stehen, um ihr Gegenüber anzulächeln. „Gylendis hat mich gerade wissen lassen, dass ihr Zirkel die Aufgabe mit relativ geringer Mühe bewältigt hat. Obwohl das Schiff voll besetzt und beladen ist, war es kein Problem, es emporzuheben.“

„Damit entfallen zusätzliche Antriebsmaschinen, nicht wahr?“ Kalynte verstand nichts von Technik, wusste aber durch die Erzählungen ihres Gefährten, dass man lange und sehr ausführlich über dieses Problem gesprochen hatte. „Also können wir doch mehr mitnehmen als bisher gedacht.“

„Ja“, bestätigte Myrani mit froher Miene. „Es ist jetzt Platz für zusätzliche einhundert Kryostase-Einheiten pro Schiff. Und das bedeutet, dass auch die mitkönnen, die bisher zugunsten anderer verzichtet haben.“

Xeyos Tränen

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