Читать книгу Xeyos Tränen - Katica Fischer - Страница 11
9 - Jystarun
ОглавлениеLeonyds Tochter war nicht lange auf die Milch ihrer Mutter angewiesen, denn sie wuchs rasant. Bereits nach wenigen Monaten konnte sie auf eigenen Füßen umhergehen und verständlich sprechen, sodass sie nicht mehr ausschließlich auf telepathische Kommunikation angewiesen war. Mit vier Jahren war sie schon so groß, dass ihr Scheitel Kalyntes Schulterhöhe erreichte. Da sie als fertig ausgebildeter Neuling aus dem Dom entlassen worden war, musste sie keine Schule mehr besuchen. Allein ihr Interesse für die Arbeit der Mutter trieb sie immer wieder in die Räume, in welchen Verletzte oder Kranke behandelt wurden. Daher dauerte es nicht lange, bis das Yden-Mädchen als ständig anwesende und zudem hilfreiche Assistentin der Ersten Heilerin angesehen wurde.
„Wenn du so groß bist wie ich, wirst du sicher auch eine angesehene Heilerin sein“, stellte Kalynte fest, als Jystarun sich bereit machte, um mit ihr zum Dom zu gehen, wo eine Geburt und die anschließende Verschmelzung erwartet wurde.
„Das wäre schön“, erwiderte Jystarun ernst. „Aber so wird es nicht kommen.“
„Ach ja?“ Kalynte war gedanklich schon bei der Yden-Frau, die in den nächsten Stunden niederkommen sollte. „Das kannst du doch gar nicht wissen.“
„Doch, ich weiß es“, beharrte das Mädchen. „Ich habe es gesehen.“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da fand sie sich von Augen fixiert, die amüsiert und zweifelnd zugleich auf sie hinabblickten. „Ja“, bekräftigte sie es noch einmal. „Ich habe gesehen, wie ich als erwachsene Frau aussehen werde. Und ich weiß, dass ich einmal in einer Weberei arbeiten werde, die Stoffe aus Fäden macht, die von einer Raupe stammen.“
„Wie hast du das gesehen?“ Kalynte war schlagartig ernst geworden, denn sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass diese momentan nicht scherzte.
„Ich habe in unserem Garten gesessen und einem Vogel zugesehen, der zwischen dem Gemüse nach Insekten suchte. Und dann war ich auf einmal in einer Weberei. Ich glaubte erst, ich sei eingeschlafen und würde träumen. Aber so war es nicht. Ich spürte ja das Brennen auf meinen nackten Armen, das von den Sonnenstrahlen kam. Außerdem hörte ich das Trippeln und Flügel schlagen des Vogels, der sich gleich neben mir mit einer Feuer-Ameise auseinandersetzte. Aber vor meinen Augen standen völlig fremde Leute, die alle so taten, als würden sie mich kenne. Und dann entdeckte ich einen Spiegel an einer Wand der Weberei, in dem ein Frauengesicht zu sehen war. Also ging ich hin, um mir das genau anzusehen. Dabei erkannte ich dann, dass ich es selbst war.“
„Warum bist du dir so sicher, dass du dich selbst in einer fernen Zukunft gesehen hast?“ Kalynte war nun hoch konzentriert, denn sie wollte nichts verpassen.
„Weil ich Grimassen gezogen habe, die sich zeitgleich im Spiegel wiederholten“, antwortete Jystarun schlicht. „Und da wusste ich, dass man mir eine kurze Vorausschau auf das Kommende gewährt hat, damit ich vorbereitet bin.“
„Worauf?“, wollte Kalynte wissen.
„Das kann ich jetzt noch nicht sagen“, gestand Jystarun immer noch ernst. „Aber es muss wichtig sein, weil man mir sonst nicht diese Gabe geschenkt hätte.“
„War das deine erste …, äh …, Vision?“, fragte Kalynte.
„Nein“, antwortete das Mädchen. „Die erste hatte ich vor einem Jahr. Ich sah Vater in den Wald gehen, wo er von der Viper angegriffen und auch gebissen wurde. Daraufhin bin ich losgerannt und hab das Kraut geholt, welches wir immer zerstampfen und auf die Wunde legen, damit sie nicht so weh tut.“
Kalynte konnte sich gut erinnern, wie überrascht sie gewesen war, die nötigen Dinge griffbereit vorzufinden, als ihr Gefährte humpelnd gekommen war, um sich von ihr helfen zu lassen. Auch wusste sie noch, dass Jystarun nach der Farbe der Schlange gefragt hatte, noch bevor Leonyd dazu gekommen war, seine Verletzung zu erklären oder deren Verursacher zu nennen.
„Warum hast du deinen Vater damals nicht gewarnt?“ Sie war weit davon entfernt, ihrer Tochter nicht zu glauben oder ihr Vorwürfe zu machen. Allerdings konnte sie deren Gabe noch nicht richtig begreifen und wollte daher so viele Informationen dazu, wie sie bekommen konnte. „Wenn du ihn …“
„Ich hab’s ja versucht“, unterbrach Jystarun. „Aber er konnte mich nicht hören.“
„Oh.“ Kalynte schalt sich selbst eine Idiotin, weil sie nicht daran gedacht hatte, dass ihr Gefährte keine besonders effiziente telepathische Gabe besaß.
„Außerdem kann ich nicht genau bestimmen, zu welcher Zeit die Dinge geschehen werden, die ich sehe“, fuhr Jystarun unterdessen fort. „Manchmal passieren sie nur einen Atemzug später. Und manchmal scheint es mir, als würden Wochen vergehen, bis meine Voraussicht real wird.“
„Warum hast du nicht schon früher etwas gesagt?“ Kalynte fühlte sich schuldig, weil sie meinte, sie hätte ihrer Tochter nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. „Wir hätten die Magistra um Hilfe bitten können.“
„Ich brauche keine Hilfe“, winkte das Mädchen ab. „Die Gabe der Voraussicht ist doch nichts Gefährliches. Weder für mich noch für andere. Sie ist vielmehr ein Geschenk, das mir helfen soll. Welchen Sinn sie letztlich hat, werde ich vielleicht nie erfahren. Aber ich bin froh, dass ich sie habe, weil es mich hin und wieder in die Lage versetzt, andere vor Schaden zu bewahren.“ Da das letzte Utensil verstaut war, schloss sie ihre Tasche und schaute dann zu ihrer Mutter hinauf. „Versprich mir eines“, verlangte sie abschließend. „Erzähle niemandem davon. Ich kann nämlich nicht auf Kommando in die Zukunft sehen.“
„In Ordnung.“ Kalynte wusste durchaus, wovor sich die Kleine fürchtete. Und weil sie sich nichts mehr wünschte, als eine glückliche Tochter zu haben, die sorglos und unbehelligt ihr Leben genießen durfte, war sie bereit, alles zu tun, damit die besondere Fähigkeit ihres Kindes so lange wie nur möglich unbemerkt blieb.
*
Jystarun hatte gerade ihr vierzehntes Lebensjahr innerhalb ihres biologischen Körpers vollendet, als sie zum ersten Mal die Bilder eines scheinbar im Zerfall befindlichen Aquitan sah. Zutiefst erschrocken versuchte sie zu entschlüsseln, wieso man ihr solche Einblicke gewährte, wo sie doch gar nicht imstande war, etwas zu tun, was die Katastrophe abwenden könnte. Sie kam jedoch lange Zeit nicht dahinter, welche Botschaft ihre Visionen überbringen sollten. Als sie dann endlich begriff, dass die Bilder, die sie sah, nicht die vollständige Zerstörung, sondern bloß einen Wandel auf der Planetenoberfläche ankündigten, beruhigte sie sich wieder. Ihre Entspannung hielt jedoch nicht lange an, denn die Erkenntnis, dass nicht nur der Standort ihres Elternhauses, sondern auch der Dom selbst und somit auch alle Neulinge innerhalb des Globus in höchster Gefahr waren, erfühlte sie mit blankem Entsetzen.
„Rye hilf uns“, flehte sie. Sie bekam jedoch keine Antwort, denn der Gebun war immer noch in seinem trotzigen Zorn gegen seine Geschöpfe gefangen und konzentrierte sich daher auf weit entfernte Gärten in seinem Sonnensystem, die noch zu gestalten waren.
Aber die Höchste Macht war dafür umso aufmerksamer. Die Entwicklung des Yden-Volkes bereits von Beginn an verfolgend, war sie mittlerweile überzeugt davon, dass die Kinder-des-Feuerlichtes, die man ihr zu Ehren ins Leben gerufen hatte, und die aus eigener Kraft in den Blauen Garten umgesiedelt waren, es durchaus verdienten, beschützt und am Leben erhalten zu werden. Nun, Aquitan war ein noch relativ junger Planet mit einem kochenden Kern, dessen feste Oberfläche ständig in Bewegung war und aufgrund ihrer Bewegungsdynamik immer mal wieder an verschiedenen Stellen aufriss, oder sich zu hohen Bergen auftürmte. Man konnte sich daher selbst ohne Visionen denken, dass irgendwann eine größere Katastrophe geschehen würde. Dennoch hatte sie nicht allein auf die Intelligenz der Yden setzen, sondern sichergehen wollen, dass sich ihr ‚Geschenk‘ rechtzeitig retten konnten. Allein darum wurde Jystarun mit der Gabe der Voraussicht ausgestattet. Dennoch musste man behutsam vorgehen. Ryes Wille und seine Gesetze durften nicht missachtet werden, damit er nicht noch mehr gegen die Yden aufgebracht wurde.
„Hab keine Angst.“ Die Höchste Macht war bereit, sich schnell wieder zurückzuziehen, falls ihre Kontaktaufnahme zu viel für das Yden-Mädchen werden sollte. „Wenn du bereit bist, deinen Teil dazu beizutragen, wird alles gut werden.“
Jystarun hatte Ryes Stimme nie zuvor gehört, und meinte daher, es seien seine Worte, die in ihrem Kopf widerhallten. Entsprechend verschreckt sah sie zum Himmel hinauf, darauf wartend, dass ihr Schädel mit Schmerz gefüllt wurde, so wie es bei Magistra Byane geschehen war. Weil dies aber ausblieb, atmete sie vorsichtig durch.
„Was könnte ich schon tun, wo ich doch nur ein einfaches Yden-Mädchen bin?“, flüsterte sie schließlich.
Das war eine gute Frage, stellte die Höchste Macht für sich fest. Nun, Rye hatte vernünftigerweise dafür gesorgt, dass sich die Yden-Population nicht mehr unkontrolliert vergrößern konnte. Das machte im Hinblick auf die unbegrenzte Regenerationsfähigkeit der Yden Sinn. Allerdings hatte er nicht bedacht, dass der Dyonaten-Sitz samt den umliegenden Siedlungen auf höchst unsicherem Boden stand. Doch das war nicht das Hauptproblem, denn die Yden waren eigentlich an keinen festen Ort gebunden. Aber die Lebensfunken ihrer unreifen Kinder schon, denn der Globus war durch Rye unlösbar mit seiner Halterung und dem darunter liegenden Boden verankert. Es wäre im Grunde ein Leichtes gewesen, den Globus mit den darin befindlichen Neulingen zu nehmen und an einen sicheren Platz zu versetzen. Da Rye aber nicht willens war, irgendetwas zu tun, und sie selbst nicht eingreifen konnte, ohne dass sich der Gebun dadurch hintergangen fühlte, musste diese Aufgabe von den Yden selbst erledigt werden!
„Aquitans Antlitz wird sich verändern“, begann sie im sanften Tonfall zu erklären. „Es wird nichts bleiben, wie es bisher war. Also musst du dein Volk zu gegebener Zeit warnen und darauf vorbereiten, dass sie in andere Gebiete umsiedeln müssen.“
„Aber … Das …“ Jystaruns Verunsicherung wuchs. „Wie sollen wir den Globus …?“
„Über den Globus sprechen wir später“, unterbrach die Höchste Macht, wohl wissend, dass sie immer noch mit Rye verwechselt wurde, aber nicht willens, diesen Irrtum aufzuklären. „Viel wichtiger ist jetzt, dass du dein Volk darauf vorbereitest, dass es sich in Sicherheit bringen muss, wenn es nicht in Aquitans brennendem Herzen versinken will.“
„Und die Kinder?“ Jystarun konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken, dass da ein paar Neulinge waren, die man gerade erst erweckt hatte und die praktisch für immer in ihrem diamantenen Kokon gefangen sein würden, wenn dieser im glühenden Kern des Planeten versank. Selbst wenn der Globus aufgrund der immensen Hitze bersten sollte, wären sie nicht gerettet, denn dann würden sie mangels aufnahmefähiger biologischer Körper in den unendlichen Raum davon schießen und am Ende der Ewigen Finsternis zum Opfer fallen. „Ich kann nicht glauben, dass du so grausam bist.“ Trotz ihrer Angst vor den Konsequenzen konnte sie sich diese Bemerkung nicht verkneifen. „Es sind Kinder, auch wenn sie noch keine greifbare Gestalt haben. Warum willst du sie sterben lassen, wo sie doch gerade erst erweckt wurden?“
„Es liegt an dir, ob sie leben oder sterben werden.“ Die Höchste Macht bemühte sich um einen besänftigenden Tonfall. „Wenn du tust, was nötig ist, wird niemand zu Schaden kommen.“ Diesem Versprechen folgten erste Anweisungen, die unbedingt befolgt werden sollten.
Jystarun hörte aufmerksam zu, empfand dabei jedoch eine stetig wachsende Müdigkeit, die schließlich so zwingend wurde, dass sie auf der Stelle einschlief. Es vergingen danach mehrere Tage, bis sie endlich wieder zu sich kam und ihrer besorgten Mutter erklären konnte, warum sie so erschöpft war.
„Hat Rye auch gesagt, bis wann wir den Umzug bewerkstelligt haben müssen?“, wollte Kalynte wissen.
„Nein, nicht genau“, erwiderte die Gefragte, bevor sie mit Heißhunger in das geschmorte Fleischstück biss, welches man für sie bereitgestellt hatte. „Aber wir sollen nicht trödeln.“ Sie meinte, seit Monaten nichts mehr gegessen zu haben, so ausgezehrt fühlte sie sich. „Auch Feyod hat bereits gewarnt, dass da etwas mit Aquitans Kruste passiert, was uns große Probleme machen könnte. Also ist es nur vernünftig, wenn wir uns gleich an die Arbeit machen.“
„Warum du?“ Kalynte betrachtete das Gesicht ihrer Tochter so eingehend, als müsse sie sich jede Einzelheit genau einprägen. „Ich meine, wieso hat Rye ausgerechnet dich ausgewählt? Warum hat er keine Magistra angesprochen?“
„Offenbar bin ich besser imstande, seine Präsenz zu ertragen als Byane oder eine andere Magistra“, antwortete Jystarun mit einem leichten Schulterzucken. „Aber wirklich beantworten kann ich dir deine Frage nicht, denn ich weiß es selbst nicht.“
„Gibt es noch etwas, was wir wissen müssen?“, fragte Kalynte.
„Nein.“ Jystarun kaute noch an dem letzten Bissen, wirkte dabei aber schon wieder so müde, als wäre sie nicht gerade erst aus einem langen Schlaf erwacht.
„Gut.“ Kalynte goss den Trinkbecher ihrer Tochter erneut mit einem stärkenden Trank voll, bevor sie sich der Tür zuwandte. „Ich werde deinem Vater sagen, er soll alle Sippenanführer zusammenrufen, damit wir gemeinsam Pläne machen können. Ruh dich derweil aus.“
*
Da Kalynte nach wie vor an ihr Versprechen gegenüber ihrer Tochter gebunden war, deren Gabe vorerst nicht preiszugeben, behauptete sie, sie hätte selbst über Feyods Befürchtungen nachgedacht und schließlich beschlossen, dass etwas geschehen müsse. Es fiel ihr nicht leicht, ihren Gefährten zu beschwindeln. Auch lag es ihr nicht, andere zu manipulieren. Dennoch gelang es ihr nach und nach, alle führenden Köpfe davon zu überzeugen, dass es in absehbarer Zeit zu ernsthaften Problemen am alten Standort kommen würde, und dass man daher guten Grund hatte, sich einen neuen Lebensraum zu suchen.
Einigen Wochen nach Jystaruns erstem persönlichem Kontakt mit der Höchsten Macht lag auf Leonyds Tisch ein sorgsam ausgearbeitetes Kartenwerk, welches die gesamte Oberfläche Aquitans wiedergab. Und daneben lag eine Liste, auf der vermerkt war, an welcher Stelle die neuen Siedlungen entstehen sollten.
Am Ende der Planungsphase bestimmte der Dyonat, dass alle erfahrenen Baumeister und telekinetisch begabten Helfer vorausgehen und vor Ort mit den Arbeiten beginnen sollten, damit alles vorbereitet war, wenn die ersten Umsiedler eintrafen.
Das gesamte Volk zählte mittlerweile dreimal so viele Köpfe, als bei seiner Ankunft auf Aquitan. Und da ein gleichzeitiger Umzug von so vielen Individuen nur Chaos mit sich gebracht hätte, war vorgesehen, dass sich die Bewohner der einzelnen Siedlungen in gewissen Zeitabständen auf den Weg machen sollten, um zu ihren neuen Wohnstätten zu wandern.
Es schien keine akute Eile geboten. Daher ging es in den Siedlungen relativ entspannt zu. Man dachte voraus und sammelte weit mehr essbares ein, als für den momentanen Eigenbedarf benötigt wurde. Auch sorgte man dafür, dass langfristig haltbare Lebensmittel eingelagert wurden, die man für die monatelange Dauer des Umzuges benötigte. Doch an den Hausrat verschwendete man keinen Gedanken, denn das waren meist Dinge, die man leicht ersetzen konnte. Allein ein Problem beschäftigte alle Yden gleichermaßen. Der Globus würde für alle Zeiten verloren sein, da er von Rye an Ort und Stelle so fixiert war, dass niemand außer ihm selbst ihn lösen konnte. Also sann man auf Abhilfe und versuchte die Magistra davon zu überzeugen, dass sie die Neulinge vor der Zeit entlassen und mit ihren Körpern vereinen sollten – auch wenn sie die letzte Reifestufe noch nicht erreicht hatten. Man kam jedoch nicht gegen die mächtigen Yden-Frauen an, die darauf bestanden, Ryes Willen zu befolgen, weil sie allein dadurch zu verhindern hofften, dass er sie erneut abstrafte. Und so blieben die Neulinge im Globus, wo man sie wie gewohnt weiter ausbildete, denn es bestand die Hoffnung, dass doch noch genügend Zeit blieb, um das Überleben aller zu sichern.
*
Weil bis zur Verschmelzung des nächsten Neulings mit seinem Körper noch einige Zeit verstreichen sollte, beschloss Jystarun, dass sie zu einem nahe gelegenen See laufen wollte, um zu schwimmen und sich dabei zu entspannen. Sie packte gerade ihren Rucksack, da spürte sie plötzlich die übermächtige Präsenz ihres vermeintlichen Schöpfers und hielt inne, um der Stimme zu lauschen, die ihr nun im sanften aber bestimmten Tonfall neue Instruktionen gab.
„Ich will dich nicht weiter belasten, darum werde ich jetzt nicht länger mit dir sprechen. Aber sei gewiss, ich bin immer bei dir.“ Damit schwand die Höchste Macht aus der Wahrnehmung des Yden-Mädchens und ließ es zutiefst verstört zurück.
Jystarun brauchte in der Tat eine ganze Weile, um das Gehörte zu verarbeiten. Danach wunderte sie sich nur kurz über die Tatsache, dass sie diesmal bei Weitem nicht so erschöpft war, wie bei der ersten Begegnung. Allerdings war ihr diese Erkenntnis nicht wichtig genug, um sie weiter zu analysieren. Stattdessen verwarf sie ihre ursprüngliche Idee und ging früh zu Bett, um für den kommenden Tag ausgeruht zu sein. Sie fand jedoch nicht gleich die nötige Ruhe, um einschlafen zu können. Also dachte sie über die Aufgabe nach, die sie bewältigen sollte, und erbat sich am Ende auf telepathischem Wege Hilfe von einer Person, der sie vertraute. Wie sie ihren Eltern beibringen sollte, dass sie für eine ganze Weile weggehen würde, wusste sie nicht. Sie wollte nicht lügen, weil sie das ohnehin nicht gut konnte und ihre Mutter sowieso ein sehr sensibles Gespür für Unwahrheiten besaß. Aber sie konnte ihr Vorhaben auch nicht für alle offenlegen, denn das hätte ihre Mission zusätzlich erschwert. Am Ende beschloss sie, nur ihre Mutter einzuweihen, und hoffte inbrünstig, dass diese nicht in kopflose Panik verfallen, sondern alles dafür tun würde, dass das Vorhaben gelang.
Kalynte hörte sich die Geschichte ihrer Tochter mit wachsender Angst an, hatte sich jedoch so gut im Griff, dass ihr das Entsetzen nicht anzusehen war. Als Jystarun schließlich verstummte, nickte sie bloß, um anzuzeigen, dass sie verstanden hatte. Danach half sie mit, die notwendigen Dinge einzupacken, die für eine lange Wanderung und Übernachtungen in freier Natur notwendig waren.
„Sie geht doch hoffentlich nicht allein“, überlegte Leonyd laut, indem er sich neben seine Gefährtin stellte, die ihrer Tochter nachsah.
„Nein“, erwiderte Kalynte leise. „Ayko wartet wohl am Tor der Dorfumfriedung auf sie.“
„Na, und ihren Speer hat sie auch dabei.“ Leonyd wusste, seine Tochter verabscheute Waffen, konnte aber trotzdem damit umgehen. Auch wenn sie ihren sogenannten Stock bei ihrer Wurzelernte eher wie ein Grabwerkzeug gebrauchte, war sie in der Lage, damit einen Feind erfolgreich abzuwehren. „Hat sie gesagt, wie lange sie wegbleiben will?“ Das Haar seiner Gefährtin zärtlich nach hinten streichend, wickelte er anschließend eine Strähne um seinen Finger.
„Nein.“ Kalynte schluckte hart bei der Erinnerung an die undurchdringliche mentale Barriere, welche ihre Tochter seit dem Gespräch am Frühstückstisch umgab.
Leonyd schnappte einen angsterfüllten Gedanken auf, der just in diesem Augenblick durch den Kopf seiner Gefährtin geisterte, war sich jedoch nicht sicher, ob dieser tatsächlich von ihr selbst stammte, oder bloß eine alte Furcht war, die sich in diesem Moment in den Tiefen seines eigenen Bewusstseins rührte.
„Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“ Er hatte nie zuvor Grund gehabt, seiner einzigen Liebe zu misstrauen. Doch jetzt spürte er instinktiv, dass sie ihm etwas Wichtiges vorenthielt. „Wenn es so sein sollte, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um es mir zu sagen.“
„Ich … Sie …“ Kalynte wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Also löste sie sich zunächst aus der Umarmung, wobei sie gleichzeitig ihr Gewand glattstrich. Dabei sah sie geflissentlich an ihm vorbei, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Sobald ihr jedoch aufging, dass er bereits durch ihr Zögern zutiefst verletzt war, entschied sie, dass sie ihm nun zumindest einen Teil ihres Wissens verraten musste. „Jystarun ist offenbar mit einer Gabe gesegnet, die wir in dieser Form noch nicht kennengelernt haben“, begann sie leise zu sprechen, um dann gleich im Anschluss einen genauen Bericht über die vergangenen Jahre abzuliefern. „Sie ist etwas Besonderes“, kam sie schließlich zum Ende. „Und es ist nicht nur der Stolz einer gesegneten Mutter, der mich das sagen lässt. Sie hat etwas zu sehen bekommen, was nur sie verhindern kann. Darum folgt sie jetzt ihrer Bestimmung.“
„Ihre Gabe kommt vermutlich von Rye selbst“, erwiderte Leonyd nach einigem Nachdenken. „Und soviel ich weiß, hat er noch nie einem von uns absichtlich Schaden zugefügt, auch wenn er uns gestraft hat. Also sollten wir darauf vertrauen, dass er unsere Tochter nicht überfordern oder gar ernsthaft in Gefahr bringen wird.“ Trotz dieser zuversichtlich klingenden Worte machte er sich die größten Sorgen um sein Kind. Weil er aber absolut nichts tun konnte, um Jystarun zu helfen, besann er sich darauf, dass da ja noch ein ganzes Volk war, welches darauf vertraute, dass er es sicher zu ihrem neuen Lebensraum führen würde.
Während das Dyonaten-Paar Arm in Arm ins Haus zurückging, strebte ihre Tochter auf den Jäger zu, der schon auf sie wartete.
„Was ist los?“, wollte Ayko wissen, sobald sie bei ihm war und ihre Arme um seine Mitte legte.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir länger wegbleiben“, wich sie aus, indem sie ihre Stirn gegen die seine legte.
„Was hast du denn vor?“, fragte er, nicht wirklich neugierig auf die Antwort, weil ihm gerade ein höchst aufregender Wunsch im Kopf herumging.
„Das erzähle ich dir unterwegs.“ Jystarun betrachtete den gut aussehenden Weber und zugleich sehr erfolgreichen Jäger voller Wärme und nachsichtiger Heiterkeit zugleich. „Ich muss eine Aufgabe erledigen, die nicht nur für das Volk von Bedeutung ist“, fuhr sie fort, indem sie ihn losließ und dabei wieder ernst wurde. „Aber davon darf vorerst niemand etwas wissen. Wenn du jetzt mit mir gehst, darfst du während unserer Reise niemandem mitteilen, wo genau wir sind, oder was wir tun.“ Er war vor einigen Wochen mit seinem Erwecker Nyod gekommen, welchen er zu den Beratungen im Haus des Dyonaten eskortiert hatte. Doch war sie ihm kaum begegnet, da hatte für sie bereits festgestanden, dass er der einzige Yden-Mann war, mit dem sie sich für alle Zeiten verbinden wollte. Ja, sie liebte ihn und vertraute ihm schon vom ersten Augenblick an bedingungslos. Dennoch war sie auch bereit, ihn mithilfe eines Betäubungsmittels so lange auszuschalten, bis sie in sicherer Entfernung und durch ihre mentale Abwehr vor einer Verfolgung seinerseits geschützt war.
„Was immer du mir befielst, ich werde gehorchen“, beteuerte er mit einem mutwilligen Grinsen auf den Lippen.
„Ich will dir nicht befehlen“, stellte sie immer noch ernst klar. „Ich stelle nur diese eine Bedingung an dich.“
Ayko merkte nun endlich, dass Jystarun keineswegs nur eine Vergnügungstour machen wollte. Er stellte aber keine Fragen, weil er davon ausging, dass sie ihm alles sagen würde, sobald sie es für richtig hielt. Und so nickte er bloß, um sein Einverständnis deutlich zu machen. Dabei schob er seinen Rucksack zurecht, damit sein Speer-Arm nicht behindert wurde.
„Können wir?“ Er sah sie an und bemerkte dabei nicht zum ersten Mal das kleine Grübchen in ihrem Kinn. Gleichzeitig ging ihm auf, dass sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit Elyka, der enthaupteten Dyonata besaß. Und weil die einmal sein gesamtes Denken ausgefüllt hatte, schluckte er hart.
Jystarun fing seine Gedanken auf, sagte jedoch nichts dazu. Stattdessen nahm sie ein paar reife Heidelbeeren aus der Seitentasche ihrer Tunika, die sie ihm reichte.
„Die habe ich gestern noch gepflückt“, erklärte sie, bevor sie sich selbst eine der Früchte in den Mund schob. „Iss. Die Energie wirst du brauchen.“ Beim Weitergehen schickte sie eine telepathische Botschaft an ihre Mutter zurück, in welcher sie noch einmal darum bat, dass niemand von ihrem Vorhaben erfahren und schon gar nicht ihren Aufenthaltsort herausfinden durfte.
Es begann schon zu dämmern, als die Wanderer an einem breiten Wasserlauf ankamen. Jystarun half zunächst mit, ein leidlich bequemes Nachtlager zu richten und gegen jeglichen Überraschungsbesuch abzusichern. Danach setzte sie sich Ayko gegenüber ans Feuer.
„Ich will mir von Xeyo Hilfe holen“, begann sie zu sprechen. „Wenn die Katastrophe nämlich früher kommt, als wir alle denken, werden wir diese Hilfe dringend brauchen.“
„Hilfe von Xeyo?“ Ayko konnte sich noch gut daran erinnern, wie verbittert der Alt-Dyonat gewesen war, nachdem man ihm die Gefährtin genommen hatte, durch die er die Liebe kennengelernt und eine Zeit puren Glücks erlebt hatte. Auch wusste er, dass der Erste Yde nicht nur die Mörderin, sondern das ganze Yden-Volk für seinen Verlust und somit für sein ganz persönliches Leid verantwortlich machte. „Er wird dich gar nicht an sich heranlassen, geschweige denn anhören“, stellte er fest. „Außerdem weiß niemand, wo er momentan ist. Es könnte Wochen dauern, bis wir ihn finden.“
„Ich weiß genau, wo ich ihn suchen muss“, winkte sie ab, indem sie sich auf ihrer Schlafmatte ausstreckte. „Aber erwarte jetzt nicht von mir, dass ich meinen gesamten Plan vor dir ausbreite, denn das werde ich aus gutem Grund nicht tun.“
Ayko war mit dieser Antwort nicht wirklich zufrieden, machte jedoch keine Anstalten, weiter in sie zu dringen. Stattdessen legte er sich mit geschlossenen Augen auf den Rücken, um nachzudenken. Es hatte schon viele Yden-Frauen gegeben, die nicht nur sein Herz berührt, sondern auch sein Bedürfnis nach körperlicher Nähe befriedigt hatten. Aber bei keiner war er auf den Gedanken gekommen, sie zu seiner dauerhaften Gefährtin zu erklären. Doch bei Jystarun schien alles anders zu sein. Sie verwirrte nicht nur all seine Sinne, sobald sie ihm nahekam, nein, sie hatte auch gleich den unbezwingbaren Wunsch in ihm geweckt, endlich sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. … Aber das ging jetzt nicht mehr, stellte er es sogleich richtig. Sie würden sich zwar beim nächsten Sonnenwende-Fest offiziell verbinden, aber nie das Glück haben, Kinderlachen durch ihr Haus wehen zu hören. Wenn nämlich der Dom mitsamt der Klause und dem Globus in den Lavaströmen versank, die unter Aquitans Oberfläche kochten, würde es nie wieder neue Individuen geben.
Jystarun nahm die mentale Abwehrbarriere ihres Begleiters so deutlich wahr, als wäre diese aus Stein errichtet. Sie nahm ihm jedoch nicht übel, dass er sich so rigoros abschottete, denn sie selbst hatte ebenfalls wichtige Dinge zu bedenken und konnte dabei keine Ablenkung gebrauchen. Da war zum einen der Inhalt einer Phiole, die sie mit sich führte. Die Wirkung der betäubenden Essenz war bisher immer optimal gewesen, erinnerte sie sich. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob sie tatsächlich die Gelegenheit bekommen würde, sie auch einzusetzen. Ein anderes Problem waren die Gedanken und Bilder in ihrem Kopf, die so weit eingedämmt werden mussten, dass nichts davon nach außen dringen konnte. Sie musste ein Neutrum sein, ermahnte sie sich immer wieder. Nur wenn sie sich nicht selbst verriet, konnte ihr Vorhaben vielleicht gelingen!
Um sich von ihrer wachsenden Unsicherheit abzulenken, richtete Jystarun ihre Konzentration auf andere Dinge. Die Geschichten der Magistra und ihres Vaters im Geiste rekapitulierend, die während ihrer Reife- und Kinderzeit das Leben auf Eotan und dem Raumschiff in allen Einzelheiten beschrieben hatten, glitt sie langsam in einen Traum hinüber, der nicht nur visuelle Eindrücke mit sich brachte. Und so fand sie sich plötzlich auf einer großen bunten Wiese wieder, in deren Mitte mehre Sträucher wuchsen. Diese wiederum trugen betäubend schwer duftenden Blüten, deren Blätter tiefviolett und herzförmig waren. Sie wusste, es waren Veilchen, die Lieblingsblumen vieler Yden. Sie wusste auch, Xeyo hatte auf Eotan einen Garten besessen, in welchem er viele neue Sorten gezüchtet hatte, um sie dann voller Hingabe zu pflegen. Also ging sie näher, um sich die blühenden Büsche genauer anzusehen. Sie war jedoch kaum dort, da verdrängte der Duft der Blüten alle anderen Wahrnehmungen. Allein ihren Körper und ihre Sehnsucht nach einer zärtlichen Umarmung spürte sie so deutlich, wie nie zuvor. Gleichzeitig spürte sie den warmen Atem eines Mannes auf ihrer nackten Haut und seufzte leise, um ihn zu ermutigen.
„Du hast seltsame Träume“, stellte Ayko am nächsten Morgen fest. „Obwohl ich gestehen muss, dass mir ein paar Sequenzen davon sehr gefallen haben.“ Er zwinkerte sie lächelnd an, wohl wissend, dass sie seine Andeutung verstand.
Jystarun nickte bloß, nahm sich insgeheim aber fest vor, ihre mentale Barriere auch auf ihre Schlafphase ausdehnen zu wollen, um auch in dieser Zeit keine verräterischen Impulse auszusenden.