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Ein Maurer und ein Wesen aus Glas
ОглавлениеAls Henrietta in Afrika war, liebte sie es, Anekdoten zu erzählen, und besonders von einer existieren mehrere Versionen.
Auf seltsame Weise fand diese Anekdote ihren Weg nach Pinton, lange nachdem Henrietta gestorben war. Der Zufall wollte es nämlich, daß Sir Rupert P. Stark zu Beginn des Jahrhunderts auf Pinton zu Gast war. Bei dieser Gelegenheit erwähnte er die kleine Anekdote, die sich mit dem Speisezimmer verband, und da er überzeugt war, sie habe sich wirklich zugetragen, zeigte er sich ziemlich verblüfft darüber, daß seine Gastgeber sie nicht kannten.
Vieles spricht dafür, daß Henrietta die Geschichte erfunden hat, denn weder eine Susan noch ein Timothy Parson sind je auf Pinton gewesen. Dennoch hielt meine Großmutter die Geschichte Wort für Wort in einer kleinen Kladde fest. Seitdem ist sie unlösbar mit Henrietta verbunden – nicht weil sie selbst ein Wesen aus Glas gewesen wäre, sondern weil die Geschichte auf eigentümliche Weise ihr Schicksal widerspiegelt, und obwohl die Geschichte wohl als reines Produkt ihrer Phantasie anzusehen ist, werden Sie mir sicherlich recht geben, daß man dem Wesen eines Menschen oft näher kommt, indem man sich mit seinen Vorstellungen beschäftigt anstatt mit den faktischen Umständen seines Lebens. Jedenfalls sollen Sie die kleine Geschichte hören, die sich im Speisezimmer abspielte.
Schon in Henriettas Kindertagen zeichnete der damalige Besitzer von Pinton, Reginald Darting, für die umfassende Umgestaltung des Speisezimmers verantwortlich. Vor allem ging es darum, ein paar Wände zu versetzen, womit drei lokale Handwerker betraut wurden. Es staubte gewaltig. Der Schutt wurde hinter den Stallungen vergraben.
Die lokalen Handwerker waren wiederum nicht so lokal, daß es sich hätte vermeiden lassen, ihnen Kost und Logis anzubieten. Man gestattete ihnen also, in einer kleinen, unweit der Küche gelegenen Kammer zu übernachten. Einer der Handwerker brachte seine Tochter, Susan Parson, mit.
Susan Parson wich ihrem Vater kaum von der Seite, und da der gesamte Teil des Hauses, in dem das Speisezimmer lag und immer noch liegt, während des Umbaus abgesperrt war, konnte sie nicht nur in der Nähe ihres Vaters, sondern auch im Speisezimmer bleiben, wenn die Arbeiter ihr Tagwerk beendet hatten.
Der Kladde meiner Großmutter zufolge war Susan Parson »ein Wesen aus Glas. Ihre Augen wirkten wie festgefroren, ihr Körper war von größter Zartheit, und wenn man sie berührte, fürchtete man, sie könne in Stücke gehen.« Der einzige Mensch auf der Welt, der ihr etwas bedeutete, war ihr Vater – eine Paradoxie in Anbetracht der Tatsache, daß ihr die Abbrucharbeiten, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestritt, persönlich weh taten. Als geschähen sie in ihrem Inneren. Dennoch war sie bei jeder Umbauarbeit ihres Vaters zugegen.
Hatten die Handwerker erst einmal begonnen, sah sie sich genötigt, in der Nähe zu bleiben, sah sich genötigt, jeden einzelnen Hammerschlag zu ertragen, und wenn die Arbeit des Tages getan war, sah sie sich genötigt, im Speisezimmer zu bleiben und sich auszuruhen. Sie sah sich genötigt, dort zu bleiben, wo für sie das Zentrum des Leidens lag. Wie Sie verstehen werden, konnte sie sich einfach nicht mit dem Vergraben dessen abfinden, was wir anderen als Bauschutt bezeichnen würden; in ihren Augen drehte es sich um eine Beerdigung, die mit der Beerdigung einer menschlichen Leiche auf einer Stufe stand.
Henrietta zufolge – oder Stark zufolge, ganz wie man will – ging ihr Wesen eine Symbiose mit dem Wesen des Speisezimmers ein, was sich sowohl auf die Wände, die unangetastet blieben, als auch auf die Wände, die von ihrem Vater errichtet wurden, bezieht. Man kann ohne weiteres sagen, daß Susan Parson in Kontakt mit dem Material stand und sich ihm stärker verbunden fühlte als ihren Mitmenschen. Wollte jemand mit ihr sprechen oder sich auf andere Weise mit ihr einlassen, wich sie zurück, als sähe sie sich einem feuerspeienden Drachen gegenüber.
Als die Abbrucharbeiten nahezu beendet waren, geschah etwas Seltsames. Die Dienerschaft, die Susan Parson unumwunden übernatürliche Fähigkeiten zuschrieb, bemerkte eines Morgens, daß sie im Speisezimmer übernachtet hatte, und als man sich den verstreuten Resten des Bauschutts näherte, in deren Mitte sie geschlafen hatte, sah man, daß sie tot war. Man suchte sofort den Maurer auf, diesen zwei Meter großen, bärtigen, ganz und gar ungehobelten Mann, der bei der Nachricht vom Tod seiner Tochter ohnmächtig wurde und krachend zu Boden stürzte.
Man trug den bewußtlosen Maurer in die Küche, wo man ihn auf einen hohen Tisch legte, um seinen Zustand näher zu untersuchen. Eines der einfältigen Küchenmädchen meinte, das Geräusch zersplitternden Glases würde ihn zu sich bringen. Ein anderes schlug vor, man solle ihm Krötenpulver auf die Stirn streuen.
Doch bevor sich Gelegenheit fand, einen der Vorschläge in die Tat umzusetzen, erwachte er.
Der Maurer verlangte auf der Stelle nach seiner Tochter, und schweren Schrittes ging er ins Speisezimmer. Langsam durchquerte er die Ahnengalerie; jedes einzelne Porträt schien mit forschendem Blick auf ihn herabzustarren, denn für den Maurer war der Tod der Tochter nahezu identisch mit seinem eigenen.
Als er ins Speisezimmer kam und seine Tochter inmitten kleiner Mauersteine liegen sah, geschah es: Sie bewegte sich.
»Berühre mich nicht«, flüsterte Susan Parson, als sie die Augen aufschlug und das Gesicht ihres Vaters erblickte. Sie befand sich in einem Schwebezustand, der keine Störung von außen vertrug. Sie wandte den Blick von ihrem Vater und drehte den Kopf in Richtung einer zu Hälfte aufgestemmten Wand.
»Ich lebe«, sagte sie. Ihre Stimme war frei von jedem Affekt.
Als der Vater das Gefühl hatte, sie würde es verkraften, trug er das Mädchen in die Küche hinunter, wo er sie auf denselben Tisch legte, auf dem er zuvor gelegen hatte. Die Diener umschwirrten ihn wie Fliegen; der Maurer verscheuchte sie. Schließlich drängten sie sich, schwarz und stumm, an den Wänden, in der festen Überzeugung, die Vorgänge, deren Zeuge sie waren, seien nicht nur für Vater und Tochter, sondern auch für ihr eigenes Leben von entscheidender Bedeutung.
Susan Parsons Mund war halb geöffnet, so daß man ihre Zähne sehen konnte. Der eine Vorderzahn überdeckte den anderen, als berge dieser ein Geheimnis. Sie sah immer noch gefährlich grau aus.
Nach einer Stunde, in der Susan Parson wohl hätte sprechen können, wenngleich sie sich weiterhin auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand, sandte sie ihrem Vater einen hilflosen Blick, als sei sie unfähig, sich zu bewegen.
Nach einer weiteren Stunde löste sich ein Kutscher aus den Reihen der Dienerschaft und berührte sanft die Schulter des Maurers, um ein paar Worte an ihn zu richten. Der Kutscher, der schon oft Pferde hatte leiden sehen, nachdem sie auf den damals alles andere als sicheren Landstraßen verunglückt waren, meinte, man solle den Leiden des Mädchens ein Ende bereiten. Man solle ihr helfen zu sterben.
Der Maurer, der die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, seine Tochter ins Leben zurückzuholen, nahm diesen Vorschlag nicht gerade in Seelenruhe auf. Er schlug dem Kutscher wuchtig ins Gesicht und warf sämtliche Angestellte aus der Küche – eine Maßnahme, die ihm nicht nur ermöglichte, mit seiner Tochter allein zu sein, sondern die auch die Bediensteten lähmte. Sie hatte zur Folge, daß viele Tätigkeiten auf Pinton zum Erliegen kamen. Sieben lange Stunden traute sich niemand in die Küche.
Am späten Nachmittag sah man den Riesen aus der Küche kommen. Er trug seine Tochter auf den Armen und schritt über die Wiese, dem See entgegen.
»Er bringt sich um, er bringt sich um!« riefen die Angestellten, und als das Gerücht Reginald erreichte, entschloß er sich einzugreifen. Vom Speisezimmer im ersten Stock aus erblickte man zuerst den Maurer mit seiner Tochter auf den Armen und danach Reginald, der, ein Gewehr über der Schulter, hinter ihm herlief. Die Sonne stand schwer und sengend über ihnen.
»Ich lasse nicht zu, daß Sie sich umbringen!« rief Reginald, als sie den See erreichten. »Ihre Tochter ist tot, aber Sie müssen leben«, sagte er und fühlte sich plötzlich machtlos gegenüber dem Maurer, der ihn deutlich überragte.
»Und wie wollen Sie mich aufhalten?« fragte der Maurer, indem er, mit seiner Tochter auf den Armen, in den See hinausschritt. Reginald dachte an das Gewehr. Er griff danach und legte an. Er war verzweifelt.
Er rief dem Maurer nach, erhielt jedoch keine Antwort, denn in dieser Situation waren alle Drohungen wirkungslos. Reginalds Hände zitterten. Er rief mehrmals:
»Ich schieße, ich schieße!«
Er war mit jeder Faser seines Körpers darauf eingestellt, sich zu verteidigen, doch dieser Situation war er nicht gewachsen.
Einmal glückte es Reginald, den Maurer zu veranlassen, den Kopf zu drehen und zum Ufer zurückzublicken, aber da war seine Tochter schon unter der Oberfläche.