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Ein Rückblick

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Eines Nachmittags während der Ferien, Vincent und ich sind von unseren Internaten nach Hause gekommen, laufen wir durch den Garten. Ich kann mich nicht erinnern, warum wir laufen, jedenfalls rennen wir zwischen den Kirschbäumen hindurch, als wir plötzlich meine Großmutter auf der Terrasse erblicken. Vermutlich betrachtete sie einfach den frisch geschnittenen Rasen. Wir bleiben abrupt stehen und warten darauf, daß die Vorwürfe auf uns niedersausen wie gespannte Lineale. Wir stellen uns vor die Terrasse. Meine Großmutter schaut auf uns herab und sagt:

»Habt ihr euren Spaß, Kinder.«

Eine Antwort ist nicht nötig.

»Hanna, ich glaube, du solltest mit dem Packen beginnen. Wolltest du nicht morgen abreisen?«

»Ich habe heute morgen schon gepackt.«

»Ausgezeichnet.«

»Und was ist mir dir, Vincent, bist du bereit, morgen zur Schule zurückzukehren?«

»Ich habe noch nicht zu Ende gepackt, Mrs Darting.«

»Gehst du gern zur Schule, Vincent?«

»Ja, Mrs Darting, sehr gern.«

»Dann solltest du jetzt unbedingt zu Ende packen.«

»Ja, Mrs Darting.«

»Begleitest du mich hinunter zur alten Eiche, Hanna?« sagt meine Großmutter.

Vincent, der nicht mehr willkommen ist, verschwindet so spurlos wie ein Atem.

Man kann sagen, daß ich für meine Großmutter besondere Zuneigung empfinde. Das war schon immer so und ist sicher gänzlich unbegründet und ohne jedes Maß, aber so ist es nun mal; über meine Gefühle diskutiere ich nicht.

Meine Großmutter stammt nicht aus England, sondern aus Dänemark, und als sie meinen Großvater, Harold Darting, das erste Mal sieht, steht er im Mittelpunkt eines kleinen Kreises in einem Garten in Faaborg. Der Flieder blüht. Noch bevor sie ihn kennenlernt, denkt sie, dies ist der Mann, den sie heiraten wird.

Daher überrascht es sie keineswegs, als er fünf Jahre später bei der bescheidenen Wohnung ihrer Eltern vorfährt und um ihre Hand anhält. Nach der Hochzeit führt mein Großvater meine Großmutter hierher nach Pinton, und noch bevor das erste Jahr vorüber ist, erwartet sie ein Kind. Meine Mutter wird geboren, und es dauert nicht lange, bis sie eine kleine Schwester bekommt. Meine Großmutter verfolgt die Kindheit ihrer beiden Töchter mit allen Sinnen; jeden Schritt, den sie unternehmen, betrachtet sie im Lichte einer neuen, ungeklärten Bedeutung.

Als meine Mutter, Jennifer, das schulpflichtige Alter erreicht, ist meine Großmutter der festen Überzeugung, es sei das beste, sie sogleich auf ein Internat zu schicken. Und genau drei Jahre später, nachdem Jennifer an einem Morgen im August darauf wartete, nach Hoppercliff gebracht zu werden, wird sie von ihrer kleinen Schwester Dorothy begleitet, die schon jetzt ganz anders ist als ihre Schwester.

Sie kennen sicher den Fall, daß in einer ganz normalen Familie ein Familienmitglied völlig aus der Art schlägt. Betrachtet man die betreffenden Geschwister und Eltern, stellt man nicht die geringste Ähnlichkeit fest und ist beinahe ein wenig schockiert, da man es doch gewohnt ist, den einzelnen Menschen als Teil eines größeren Ganzen zu betrachten.

Dorothy war einer dieser Menschen, der von Beginn an anders war. Vielleicht läßt sich auch sagen, daß Henrietta, von der ich Ihnen später erzählen werde, anders war. Man kann sogar behaupten, daß ich, in einer gewissen Zeit, anders war.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der mich meine Mutter als einigermaßen selbständig zu betrachten begann. Ich war siebzehn, achtzehn Jahre alt. Gerade hatte ich Hoppercliff verlassen, und wenn ich jetzt daran denke, kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren.

Ich kam also von Hoppercliff nach Hause, es war im Sommer 1961, und schon damals gab es hier nur drei Hausangestellte sowie einen Gärtner und einen Chauffeur. Meine Eltern waren im großen und ganzen immer daheim, wenngleich mein Vater natürlich seinen Geschäften in London nachging, aber das geschah nicht sehr oft.

Aus verschiedenen Gründen gab es in unserem Haus zahlreiche Verhaltensregeln. Eine von ihnen bestand darin, daß ich nach dem Essen zu meiner Mutter hinübergehen, sie auf die Wange küssen und ihr für das Essen danken sollte. Aber nicht, weil sie es zubereitet hatte, denn das tat natürlich der Koch.

Eines Abends im Sommer 1961 vergaß ich es. Ich hatte eben die Hand auf die innere Türklinke der Speisezimmertür gelegt, als mich die Worte meiner Mutter von hinten trafen:

»Du hast etwas vergessen!« sagte sie. In ihrem Tonfall lag ein unverkennbarer Vorwurf.

Ich drehte mich langsam um.

»Bitte?«

»Du weißt genau, was du vergessen hast.«

»Du sagtest doch, ich könne aufstehen.«

»Stell dich nicht dumm, Hanna!«

»Was soll ich denn vergessen …«

»Du hast vergessen, für das Essen zu danken.«

»Danke für das Essen.«

»Du hast noch etwas vergessen.«

Mein Vater starrte auf seine Serviette.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein sollte.«

»Du hast vergessen, mich zu küssen«, sagte sie. Mit Schärfe.

Ich konnte mich nicht länger beherrschen.

»Das hatte ich auch nicht vor.«

Ich sah, daß sie in Wallung geriet.

»Du wirst!«

»Warum? Ich habe keine Lust.«

»Lust!« Sie spie das Wort aus. »Wer in aller Welt hat dir eingeredet, du könntest tun, wozu du Lust hast?«

»Ich tue es nicht.«

Ich kann mich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, was dann geschah, nur daran, daß ich später zu einem Gespräch in die Bibliothek zitiert und die Atmosphäre zunehmend ernster wurde, denn meine Mutter legte auf die Einhaltung ihrer Regeln allergrößten Wert.

Als ich die Bibliothek betrat, stand meine Mutter am Fenster, es war immer noch hell, und die Passionsblume rankte sich – wie sie es heute noch tut – um die Fensterbank.

»Disziplin«, sagte meine Mutter und schaute mir in die Augen, »ist ein Charakterzug, der für dich unentbehrlich ist.«

»An Disziplin fehlt es mir nicht.«

»Aha. Und an was fehlt es dir?«

»Es fehlt mir an nichts, danke.« Ich sah aus dem Fenster, um ihrem Blick zu entgehen.

Draußen führte eines der Stallmädchen ein gesatteltes Pferd am Fenster vorbei.

»Hanna, was, glaubst du, tun wir, wenn wir ein Pferd zureiten?«

»Wir disziplinieren es«, antwortete ich treuherzig.

»Und warum, glaubst du, tun wir es?«

»Ich bin kein Pferd, Mutter, und auch nicht blöd.«

»Warum tun wir es?«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte.

»Wir tun es, um seine Kräfte richtig einsetzen zu können.«

»Hm …«, sagte ich. Sie irritierte mich. »Muß ich dich denn nach jedem Abendessen küssen?«

»Ja«, sagte sie.

Ich durfte gehen.

Wie Sie verstehen werden, war ich meiner Mutter in einer gewissen Periode nicht direkt feindlich gesonnen, verhielt mich ihr gegenüber jedoch ziemlich abweisend. Im übrigen bin ich mir nicht sicher, ob ich mich jemals mit diesen erzwungenen Küssen abgefunden habe. Jedenfalls schien ich, nach einer Weile, die Verhältnisse akzeptiert zu haben. Eine Zeitlang spielten wir sogar ein kleines Spiel miteinander, in dem es darum ging, wer von uns sich korrekter verhielt. Mein Vater nahm an diesem Wettbewerb nicht teil. Er hatte ein völlig anderes Wesen.

Aber ich habe ganz vergessen, daß ich Ihnen ja von Tante Dorothy erzählen wollte. Dorothy war ein wenig so wie ich an diesem Abend des Sommers 1961, sie war anders, und sie war es bereits, bevor sie sieben Jahre alt wurde. Heute wohnt sie in London, doch viele Jahre hindurch war sie ein von der Darting-Familie abgeschnittener und verwelkter Zweig.

Das grüne Auge

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