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Wordsworth und Blake: die Götter und die poetische Erfindung

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Das alles aber sollte sich rund zweieinhalbtausend Jahre nach der Ilias ereignen. In der Welt der alten Griechen, die noch von Göttern belebt wurde und nicht wußte, daß sie eigentlich nur eine Maschine war, galten Gebete als ein wichtiger Bestandteil der Militärstrategie. Die Geschichte der Ilias beginnt mit der Beleidigung eines Apollo-Priesters, was für die griechische Armee, die Troja belagert, grauenhafte Folgen haben sollte.

Chryses, ein Apollo-Priester, dessen Tochter von den Griechen geraubt worden war, kam mit einem Lösegeld zu König Agamemnon; Agamemnon aber wies das Geld zurück und jagte ihn fort. Der Priester betete zu seinem Gott, er möge diese Beleidigung rächen, und wie Homer von Apollo berichtet: „Schnell von den Höhn des Olympos enteilte er, zürnenden Herzens, über der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher.“ Er schoß seine Pfeile auf das griechische Heer, und es wurde von einer Seuche dahingerafft. Die Plage endete erst, nachdem des Priesters Tochter zu ihm zurückgekehrt war und eine oder auch zwei Hekatombem (einhundert) Ochsen dem Apollo geopfert waren. Die Griechen bereiteten das Opfer zu. Alle teilten sie das Fleisch (eine riesige Menge, wie man annehmen sollte) und tranken zu Ehren des Gottes (zweifellos auch in großen Mengen). Auf diese Weise „versöhnten (sie) … den Gott mit Spiel und Gesängen, sangen den schönen Paian … und er hörte sie freudigen Herzens“.

Die poetische Vorstellungskraft hat hier schwer zu tun angesichts der Seuche, die durch das Feldlager der Griechen raste wie die Pfeile des bogenbewehrten Gottes. Wie schon im Falle der Musen kann man nur schwer glauben, daß Homer sich wirklich einen jungen Mann vorstellte, der mit Pfeil und Bogen von einem Berg herabschwebte. Er beschreibt die wilde Energie der Seuche wie die Pfeile eines wütenden Gottes. Dies ist nicht gerade eine schöpferische Energie. Sie ist vielmehr zerstörerisch, aber eben doch eine Energie. Die Griechen sahen, daß viele Energien in der Welt alles andere als schöpferisch waren: Orkan, Erdbeben, Sturm und Plagen – gewaltige Energien, die durch die Welt jagen und dem Schicksal der Menschen gegenüber offenbar vollkommen gleichgültig sind.

Wenn wir durch den Schleier der Literarisierung hindurchschreiten, sehen wir, daß es sich dabei nicht um Streitigkeiten innerhalb der Rasse übermenschlicher Gestalten handelt. Es geht vielmehr um die rohe Energie der natürlichen Welt, die schön und zugleich schrecklich ist in ihrer Gewalt. Wir begreifen, daß es tatsächlich keinen Apoll gab, der sich an gebratenem Fleisch gütlich tat, am Wein und verstreuten Gerstenkörnern, an den Gesängen und Tänzen. Sondern Apollo steht für etwas anderes, etwas Eigentliches, das die moderne Welt verloren hat, eine Art Weltwahrnehmung, die heutzutage sehr schwer wiederzugewinnen ist, wenn dies auch nicht völlig unmöglich ist.

Als wissenschaftliche, nach-cartesianische Geister sind wir der Natur verbunden, indem wir in ihr herumstochern und an ihr herumpfuschen. Wir suchen nach den Ursachen für Krankheit und versuchen, sie mit antiviralen Medikamenten zu bekämpfen. Das ist durchaus sinnvoll und nur wenige würden heute noch empfehlen, Apollo hundert Kühe zu opfern, anstatt Antibiotika zu nehmen. Antibiotika sind weit verläßlicher, denn wer weiß schon, ob Apoll unser Opfer annehmen wird oder nicht?

Und doch: Es mag sehr wohl noch einen anderen Weg geben, sich mit der Natur zu verbinden. Wie wir mittlerweile erwarten können, geben uns Kunst und Phantasie den Schlüssel dazu.

Ich fühlte

Eine Gegenwart, die mich mit der Freude

erhabener Gedanken verstört; ein erhabener Sinn

von etwas, das weit tiefer verwoben ist,

dessen Wohnung das Licht der aufgehenden Sonne ist

und der runde Ozean und die gehende Luft,

der blaue Himmel auch, und es wohnt

im Geiste der Menschen

eine Bewegung, und ein Geist,

der alle denkenden Wesen antreibt, alle Objekte allen Denkens

und der durch alles hindurchgeht.

(William Wordsworth: Lines composed a few miles above Tintern Abbey, 13. Juli 1798)

Sogar nach Descartes berührt uns etwas außerhalb der Vorstellung einer Maschine. Etwas „Verwobenes“, „Tiefes“ und „Hindurchgehendes“. Was mag das wohl sein? Ist es Maschinenöl? Oder ist dieses Gefühl von Anwesenheit etwa ein Symptom für den Verdacht, daß die Maschine selbst nur ein Konstrukt des Menschengeistes ist, noch dazu ein besonders trockenes und abstraktes? Wenn der Gott aus der Maschine gezwungen wurde, wird die Maschine zum Gott, ein recht unpersönlicher, herzloser, desinteressierter Gott, gleichgültig allen Zwecken, Absichten und Werten und allem Menschlichen gegenüber. Die englischen Romantiker gingen gegen diese Vision an.

William Blake (1757–1827) hat eines der am meisten fehlinterpretierten Bilder innerhalb der Kunstgeschichte gemalt. Ein Verleger nach dem anderen hat sein Gemälde The Ancient of Days (God as an Architect) von 1794 als Einband für Bücher über Gott benutzt. Die kräftige menschliche Gestalt mit ihrem weißen Haar und dem wallenden Bart, die in der Sonne steht und die dunklen Wolken des Chaos mit Lichtstrahlen zerstört, hält in der Linken einen Zirkel, als wollte sie das Universum vermessen, das sie zu erschaffen im Begriff ist. Dies ist zu einem Bild für den Schöpfergott geworden, vergleichbar der Gestalt Michelangelos an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Es ist ein machtvolles Gemälde, für Verleger offenbar geradezu unwiderstehlich.

Doch was Blake in diesem Bild porträtieren wollte, war nicht der wahre und lebendige Gott, sondern der Pseudo-Gott Isaac Newtons oder der Maschine. Sein Zirkel mißt das Universum aus. Er stellt die mechanistische Herangehensweise an die Natur dar: messend, sezierend und alles an seinen Platz ordnend. Das ist für Blake der große Mathematiker, der Feind des Lebens und der Freude, der höchste Erbauer und unparteiische Vermesser aller Dinge.

Der große schottische Philosoph David Hume (der zu Lebzeiten nie als gut genug angesehen wurde, um einen Lehrstuhl an einer schottischen Universität angetragen zu bekommen) starb 1776. In seinen postum veröffentlichten Dialogen über natürliche Religion analysierte er mit vernichtender Genauigkeit die damals modischen Argumente, die von der Eindeutigkeit einer Planung des Universums bis zur Existenz eines großen Planers im Himmel reichten. Und gerade diesem planenden Gott stand Blake so feindlich gegenüber. Wenn wir einen Zustand der Religion erreicht hätten, in welchem Gott nicht innerhalb des Universums erkannt werden konnte, sondern einzig aus der eleganten Konstruktion einer unbewußten und zwecklosen kosmischen Maschine abgeleitet werden könnte, dann wäre die Religion längst gestorben. „Wir wollen keine geschlußfolgerten Freunde“, bemerkte ein einst berühmter Philosoph aus Oxford. Der Gläubige will gleichfalls keinen geschlußfolgerten Gott, einen mit Zirkel, dessen Existenz von der Stärke und Stichhaltigkeit der Argumente abhängt, die die Philosophen sich als Beweise oder Gegenbeweise für seine vermutete Existenz ausdenken.

Was aber will der Gläubige dann? Blake, der Poet, wußte es:

Eine Welt in einem Sandkorn zu sehen,

Einen Himmel in einer wilden Blume,

Die Unendlichkeit in der Hand halten

Und die Ewigkeit in einer Stunde.

(William Blake, Auguries of Innocence)

Hierin stimmen Blake und Wordsworth vollständig überein. Das authentische religiöse Gespür will Unendlichkeit und Ewigkeit innerhalb des Begrenzten und Vorübergehenden entdecken, will in allen Formen der Schönheit einer Schönheit gewahr werden, die unendlich vollkommen und unvergänglich wertvoll ist. Das Gefühl einer mit allem verwobenen Gegenwart, die in Licht, Luft und Himmel lebt und im Verstand der Menschen; das Gefühl einer solchen Präsenz, die wie Licht sich in tausend glitzernde Strahlen der Individualität aufspaltet, wovon ein jeder den Charakter seiner Umgebung annimmt; das Gefühl einer Welt voller Erhabenheit und ineinander verwoben, mannigfaltig und doch eins, schön und grell, dunkel wie Wein und wie mit hellen Rosenfingern: das ist das Gefühl für die Götter, die in den Menschen Ehrfurcht und Scheu, Angst und Freude erregen.

Gott

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